# taz.de -- Debatte Globalisierung und Populismus: Angriff der Moderne | |
> Nur ein Teil des überfälligen Abschieds von einer liberalen Weltordnung: | |
> So sieht man populistische Strömungen im Westen von Asien aus. | |
Bild: The West and the rest: Bisher zählten vor allem nicht-westliche Länder … | |
Es wird viel darüber geschrieben, wie der Aufstieg des Populismus den | |
Status quo im Westen aus dem Gleichgewicht bringt. Der Begriff Populismus | |
wird dabei verwendet, um zu beschreiben, wie eine wachsende Zahl westlicher | |
BürgerInnen anscheinend die liberalen Normen ablehnt, die bisher die Vision | |
von unserer Welt von morgen prägten. | |
Weniger wird darüber geschrieben, wie dieser Liberalismus von westlichen | |
Ländern als Teil einer selbstsüchtigen Agenda gefördert wurde, um die vom | |
Westen entworfene und geführte Weltordnung zu erhalten. | |
Die globale Mehrheit betrachtet diese Umkehr im Westen irritiert und | |
beklommen. Die Formen von Populismus, die man in Amerika und Europa sehen | |
kann, bleiben bisher auf den Westen beschränkt. Zwar gibt es auch in Asien | |
populistische Anführer wie Indiens Narendra Modi und Rodrigo Duterte auf | |
den Philippinen, aber deren Popularität rührt nicht aus einer Reaktion oder | |
Zurückweisung globaler Trends und Ereignisse. | |
## Aus asiatischer Perspektive | |
Von Asien aus gesehen bekommt man eine andere Perspektive auf die heftige | |
Debatte über Globalisierung und Populismus. Asiatischen Gesellschaften hat | |
die Globalisierung sehr geholfen, doch haben sie auch erhebliche negative | |
Auswirkungen erlebt. Die Mehrheit leidet unter den sozialen und | |
ökologischen Kosten der rasanten Entwicklung und Verwestlichung. Nach | |
Asiens Erfahrungen mit den Erfolgen und Misserfolgen der Globalisierung | |
sollte die populistische Reaktion im Westen nicht überraschen. | |
Der Westen, Hauptverfechter einer ungezügelten Globalisierung, scheint | |
jetzt seine eigene regelbasierte Welt abzulehnen, auch wenn Spätankömmlinge | |
aus Asien und Afrika sie begeistert begrüßen. Von der Kehrtwende des | |
Westens sind die Neubekehrten verständlicherweise irritiert. | |
Im Westen hat nach dem Krieg eine vorherrschende liberale Ideologie, | |
verbunden mit einem politischen Narrativ, unter dem Vorwand der | |
Globalisierung versteckten Zielen gedient. Dass diese Ideologie ins Wanken | |
gerät, erweist sich als peinlich für die liberalen Eliten und erklärt | |
vielleicht teilweise die Empörung der Kommentatoren über populistische | |
Politiker. | |
Im Westen herrscht noch immer die tiefe Überzeugung – wobei sie bei einigen | |
Leuten gerade schwindet – , er sei überlegen und müsse eine Führungsrolle | |
übernehmen, um die Welt zu verbessern: eine Welt nach seinem Bild, ohne | |
jedoch die Macht teilen zu wollen. Die Ereignisse von 2016 sollten den Rest | |
der Welt dazu bringen, der Realität ins Auge zu sehen und entsprechende | |
Konsequenzen zu ziehen. | |
Die schleichende Zersetzung der bestehenden Weltordnung spiegelt zwei | |
Trends wider. Zum einen die lange überfällige Zurückweisung der | |
Täuschungen, Lügen und gebrochenen Versprechen, die so viele Argumente über | |
die Unausweichlichkeit der Moderne begleitet haben. Zum anderen die | |
zunehmende Unfähigkeit von Gesellschaften, mit dem „Angriff der Moderne“ | |
umzugehen, dem oftmals durch große technische Neuerungen Vorschub geleistet | |
wird. | |
Typischerweise drückte sich die Ablehnung der Moderne durch Unzufriedenheit | |
in der nichtwestlichen Welt aus (und wurde deshalb abgetan). | |
Interessanterweise drückt sich diese Unzufriedenheit nun im Westen selbst | |
aus, und die Unzufriedenen sind keine Minderheit mehr. Das neoliberale | |
Narrativ des 20. Jahrhunderts löst sich allmählich auf. Es gibt eine | |
wachsende globale Ablehnung der ökonomischen und politischen Theorien, die | |
Globalisierung als den einzigen Weg in eine bessere Welt beschreiben. Für | |
die westlichen Eliten kommt das nur deshalb überraschend, weil sie die | |
Konsequenzen ihres engstirnigen Verständnisses von Fortschritt und Moderne | |
zu lange geleugnet haben. | |
Zahlreiche Beispiele für diesen Angriff der Moderne sollten uns | |
wachrütteln: das Festhalten an westlichen Vorstellungen davon, wie moderne | |
Gesellschaften funktionieren sollten und wie man Wohlstand schafft; das | |
Drängen auf immer größere Verflechtung ohne Rücksicht auf weitreichende | |
unbeabsichtigte Folgen; unantastbare politische Überzeugungen wie | |
uneingeschränkte Freiheit und Rechte des Einzelnen und ungezügelter Konsum, | |
um das Wirtschaftswachstum zu erhalten. Die Konsequenzen dieser Fixierung: | |
Finanzkrise, Klimawandel, wachsende Umweltverschmutzung, zunehmende | |
geopolitische Spannungen. | |
Ein weiterer Aspekt dieses Angriffs und für das damit verbundene Streben | |
nach Verwestlichung um jeden Preis lässt sich daran ablesen, wie Kulturen | |
ausgehöhlt werden. In Gesellschaften mit starken lebendigen Traditionen | |
wird das als Bedrohung erlebt. Ihr Schmerz und ihre Furcht werden von | |
führenden westlichen Kommentatoren weder verstanden noch in vollem Ausmaß | |
wahrgenommen. | |
## Verwüstung von Kulturen | |
Große Spannungen bauen sich auf jenseits von Daten und Diskussionen zur | |
Frage, wie die globale Vernetzung und die unaufhaltsame Verbreitung von | |
Technologie die Welt verbessern könnte. Manche dieser Spannungen zeigen | |
sich zum einen in der Verwüstung jener Kulturen, die sich ergeben haben, | |
und zum anderen im Widerstand der Menschen gegen ihnen fremde Vorstellungen | |
von einem modernen Lebensstil. Die vielleicht abscheulichste Form dieses | |
Widerstands findet sich in Phänomenen wie dem IS. | |
Da sich die Debatte um den wachsenden Populismus auf der Welt intensiviert, | |
sollten wir auch die Motive derer hinterfragen, die versuchen, diesen Trend | |
mit abwertenden Begriffen wegzuwischen. Hier steht nicht die | |
„Globalisierung“ ganz allgemein vor Gericht. Globalisierung gibt es, seit | |
der erste Sack Salz verkauft wurde, seit Seide aus China vom Rest der Welt | |
entdeckt wurde und seit Sklaven benutzt wurden, um die neue Welt zu | |
erbauen. | |
Wir leben nicht in einem neuen Zeitalter des Populismus. Vielmehr leben wir | |
in einem Zeitalter krasser Ungleichheit, fest verdrahtet mit einer Version | |
von Globalisierung, gefangen in den Interessen von wenigen auf Kosten der | |
großen Mehrheit. Das hat zu Populismus geführt. Und diese andauernde, sich | |
verschlimmernde Ungleichheit ist die Antithese der liberalen Verpflichtung, | |
eine moderne und globalisierte Wirtschaft für alle zu schaffen. | |
Übersetzung: Goethe-Institut | |
23 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Chandran Nair | |
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