# taz.de -- Über Zwangsräumungen in Berlin: Wenn die Ertragserwartungen locken | |
> Beinahe jeden Berliner Altmieter kann eine Kündigung treffen. Der | |
> Stadtsoziologe Andrej Holm spricht über den „Häuserkampf von oben“. | |
Bild: Protest gegen Zwangsräumungen ist inzwischen in der linken Szene etablie… | |
Kurze Vorbemerkung: Das Gespräch fürs Porträt wurde am 7. November 2016 | |
geführt, also noch vor der Nominierung Andrej Holms zum Staatssekretär für | |
Wohnen. Eine umfassende Biografie Andrej Holms findet sich am Ende des | |
Texts. | |
* * * | |
Ich bitte Andrej Holm, ausgehend von den zunehmenden Zwangsräumungen (es | |
sind mehr als 25 pro Tag in Berlin), über den sozialen Umbruch der Stadt zu | |
erzählen. | |
„Na ja, Zwangsräumungen finden täglich statt, sie werden aber von der | |
Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, und wenn, dann als Problem bestimmter | |
Individuen. Gerade in älteren Studien, in Arbeiten, so aus den 80er bis | |
2000er Jahren, findet sich dieser sozialpädagogische Fokus: Frau weg, | |
Arbeit weg, Krankengeschichten, Miete nicht bezahlt, fristlos gekündigt, | |
dann geräumt worden und wohnungslos. Das ist das Bild, das gezeichnet wurde | |
und wird und das auch die öffentliche Wahrnehmung bestimmt. Leute, die von | |
Zwangsräumung betroffen sind, wird suggeriert, sind Leute, mit ‚multiplen | |
Problemlagen‘, die einfach in der Gesellschaft nicht zurechtkommen. Es ist | |
aber nicht das Versagen Einzelner der Grund, diese Individualisierungslogik | |
trifft nicht die Ursache. | |
Der Anteil des Einkommens an der Miete ist in den letzten zwanzig Jahren um | |
ungefähr 25–30 % gestiegen, im Durchschnitt, bzw. es gibt die Tendenz, | |
dass, je niedriger mein Einkommen ist, umso höher ist natürlich der Anteil, | |
den ich für Wohnen ausgeben muss. Es gibt Rentnerinnen und Rentner, die 60 | |
% ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben müssen. Sie können sparen an | |
Kleidung, am Essen, an der Kultur, aber an der Miete nicht, sonst droht die | |
Zwangsräumung! | |
Entsprechend berichten auch die Berliner Tafeln, dass zum Monatsende hin | |
doppelt so viele Menschen kommen, weil sie eben am Essen sparen müssen. Wir | |
hatten hier in Berlin ab Mitte der 2000er Jahre deutliche | |
Mietpreissteigerungen und allmählich wurde immer klarer, dass die Zunahme | |
von Wohnungslosigkeit und Zwangsräumungen natürlich auch einen | |
wohnungswirtschaftlichen Zusammenhang haben. | |
## Scharf auf eine höhere Miete | |
Viele der bekannt gewordenen Fälle aber passten nicht mehr ins bisherige | |
Bild, die Familien waren weder arbeitslos noch zerrüttet, das | |
Familienoberhaupt war nicht alkoholkrank und sie erfüllten auch sonst | |
keines dieser Klischees, die bislang kolportiert wurden. Der einzige Grund | |
der Zwangsräumung war, dass Eigentümerinnen und Eigentümer ihr Interesse an | |
höheren Ertragserwartungen wahrnahmen. Sie waren scharf darauf, bei | |
Neuvermietung eine wesentlich höhere Miete kassieren zu können. | |
Wohnungen und Mietshäuser sind eine lukrative Kapitalanlage, deshalb war | |
auch in älteren Schriften der 20er Jahre häufig von ‚Mietzinshäusern‘ die | |
Rede. Die Österreicher sagen heute immer noch ‚Zinshäuser‘, in schöner | |
Offenheit. Wir haben dann mit Kollegen an unserem Fachbereich eine | |
systematische Untersuchung durchgeführt, haben Fälle analysiert und fanden | |
bestätigt, dass es so etwas wie eine ökonomische Logik von Zwangsräumungen | |
gibt. Letzten Endes wundert es natürlich nicht, wenn in einer | |
kapitalistisch organisierten Gesellschaft sozusagen die Aussicht auf höhere | |
Gewinne verheerende soziale Wirkungen hervorbringt. Diese Gesetzmäßigkeit | |
sehen wir ja auch in anderen sensiblen Bereichen, wie im Arbeitsrecht oder | |
im Umgang mit den natürlichen Ressourcen und der Umwelt. | |
Was die Wohnungssituation betrifft, so ist der Hintergrund relativ simpel. | |
In Deutschland gibt es einen ziemlich starken mieterrechtlichen Schutz von | |
Bestandsmieten, er schränkt die Rechte der Eigentümer und Vermieter auf | |
Mieterhöhungen relativ ein. Sie müssen sich an den Mietspiegel halten, | |
dürfen nur alle drei Jahre erhöhen, da sind gar keine großen Mietsprünge | |
möglich. Seit 2005/2006 sehen wir aber eine massive Entkoppelung der sog. | |
Neuvermietungsmieten – die man dann etwas bei Immo-Scout aufrufen kann, wo | |
9, 10, 12–14 € pro qm verlangt werden. | |
## Der Abstand wird größer | |
Deutlich zu sehen ist, dass der Abstand zwischen Bestandsmieten und | |
potentiell möglichen Mieten sich vergrößert, und somit gibt es einen | |
massiven ökonomischen Anreiz, einen Wechsel der Mieter und des | |
Mietvertrages durchzuführen. Zur Realisierung dieses Wunsches gibt es eine | |
ganze Reihe von Strategien, wie die Modernisierungsankündigung, | |
Umwandlungsankündigung zur Eigentumswohnung, Eigenbedarfskündigung, oder | |
auch ganz absurde Begründungen, wie die ‚Störung de Hausfriedens‘, das | |
Anbringen von Plakaten, Transparenten und Flugblättern. Eben die | |
konsequente Ausnützung aller Mittel, die sich bieten. | |
Neu ist auch, dass es jeden treffen kann. Jeden, der langjähriger Mieter | |
einer Wohnung ist. Also den Hartz-IV-Empfänger ebenso wie einen | |
Selbständigen aus dem Mittelstand. Letztlich entscheidend für die | |
Räumungsneigung sind nicht die persönlichen Umstände der Mieterin oder des | |
Mieters, sondern die Aussicht der Vermieterin oder des Vermieters, einen | |
möglichst hohen Mietsprung erzielen zu können. Jeder, der einem erhöhten | |
Mietertrag im Wege steht, ist gefährdet, seine Wohnung zu verlieren. Und da | |
hilft es eben auch nicht, wenn ich in der Lage und bereit bin, mehr Miete | |
zu bezahlen. Also das heißt, es sind nun auch Leute mit besserer | |
Klassenlage betroffen. | |
Gleichzeitig sind die Instrumente, die der Staat zur Verfügung stellte, | |
völlig kraftlos geworden, weil sie aus einer Zeit stammen, in der es unter | |
den Bedingungen eines ‚entspannten Wohnungsmarktes‘ diesen | |
‚Verwertungsdruck‘ eben noch nicht gab. Unter den Bedingungen aber, die wir | |
heute in Berlin haben, funktionieren diese Instrumente nicht mehr, das ist | |
ein völliges Dilemma. Ein Dilemma der Wohnungsnot. 2/3 bis 3/4 der neu | |
gebauten Wohnungen in den letzten Jahren waren Eigentumswohnungen oder | |
teure Mietwohnungen. Wir haben keinen Wohnungsmangel in Berlin bei | |
Wohnungen, die teurer als 12 € pro qm sind, wir haben einen totalen Mangel | |
an Wohnungen, die 5 oder 6 € pro qm kosten. | |
Das ‚beste Mietrecht der Welt‘, wie es die Sozialdemokraten gerne nennen, | |
ist in vielen Bereichen nicht mehr wirksam. Es ist im Gegenteil so, dass | |
derzeit das Mietrecht geradezu als Kampfinstrument eingesetzt wird, um ein | |
Vertragsverhältnis zu beenden. Ein Beleg dafür ist: Ein Jahr nach Beschluss | |
der Mietpreisbremse, liegen 85 % der Wohnungsangebote über diesem | |
Grenzwert. Niemand hält sich daran. Es ist inzwischen schon eine | |
Zeitungsmeldung wert, wenn Mieter in zwei Fällen – wir haben aber | |
Zehntausende – die Einhaltung der Mietpreisbremse einklagen konnten. Wenn | |
die Ertragserwartungen so sehr locken, dann verlieren die rechtlichen | |
Instrumente, wie gesagt, ihren Schutzcharakter. | |
## Tausende Räumungen pro Jahr | |
Und das schlägt sich gnadenlos auf die Situation vieler Mieter nieder, am | |
extremsten in Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit. Es gibt ja immer noch | |
keine umfassende Statistik dazu, aber was an Zahlenmaterial vorliegt, | |
deutet darauf hin, dass es so zwischen 6- und 8.000 Zwangsräumungen gibt | |
pro Jahr. So viele, ja! Und die werden momentan auch mit hoher Konsequenz | |
von den Vermieterinnen und Vermietern durchgesetzt. | |
Wenn heute eine Kündigung ausgesprochen wird, dann ist es sehr viel | |
wahrscheinlicher als noch vor zehn Jahren, dass dieser auch die physische | |
Räumung folgt. Und es ist ja leider nicht mehr so, dass die Zwangsräumung | |
nicht durchgeführt werden kann, solange der Zwangsgeräumte keinen neuen | |
Wohnraum hat. Der Nachweis einer Wohnung, gehört nicht mehr zu den | |
Pflichten des zwangsräumenden Vermieters. | |
Ein zusätzlicher, sehr wichtiger Punkt, der eine viel zu untergeordnete | |
Rolle spielt, ist dass der Einzelne seine Rechtsposition individuell | |
durchsetzen muss. Viele verzichten darauf und fügen sich ins scheinbar | |
Unvermeidliche. Dann wird gesagt: Na ja, die Mietpreisbremse wird auch | |
deshalb gebrochen, weil die Mieterin oder der Mieter zu faul sind zu | |
klagen. Aber es ist doch seltsam, dass es für so einen wichtigen | |
gesellschaftlichen Bereich wie Wohnen keine Kollektivvertretung gibt oder | |
keine öffentliche Aufsicht, die das für den Einzelnen übernimmt?! Weshalb | |
kann nicht der Abschluss eines Mietvertrages durch ein Wohnungsamt | |
kontrolliert werden mit Blick auf die Einhaltung der Mietpreisbremse und | |
auch anderer mietrechtlicher Vereinbarungen? | |
Es gibt keine solchen Einrichtungen und das hat einen Grund: Also die | |
Bundesrepublik hat zwar die allgemeinen Menschenrechtserklärungen | |
unterschrieben, aber das ‚Recht auf Wohnen‘ – das dort explizit | |
festgeschrieben ist – wurde nicht ratifiziert! Wir haben es nicht in | |
unserer Verfassung. Es gibt kein einklagbares Recht auf Wohnen bei uns, so | |
wie etwa in Spanien oder auch Frankreich, deshalb ist es auch keine | |
öffentlich Aufgabe. | |
## Die Privatisierungswelle der 90er-Jahre | |
Wir hatten immerhin mal einen öffentlichen Wohnungssektor. Der wurde aber | |
ausgehöhlt. Es gab eine Privatisierungswelle in den 90er Jahren. Das ist | |
eigentlich eine Geschichte in mehreren Akten. Sie beginnt sozusagen mit der | |
Ausplünderung dieses Gemeingutes durch die jeweiligen Finanzsenatoren in | |
Berlin. Die Wohnungsbaugesellschaften sind damals zum Zusammenschluss | |
gedrängt worden, ‚Fusionen‘ wurden angeregt, mit der Begründung, dass | |
solche großen wirtschaftlichen Einheiten effektiver zu managen sind. Eine | |
Absurdität war zusätzlich, dass man sagte, wenn zwei | |
Wohnungsbaugesellschaften sich zusammenschließen, dann wird das gehandhabt | |
wie ein Verkauf, den Kaufpreis hatte die durch Fusion neu gegründete | |
Gesellschaft ans Land Berlin zu entrichten. | |
Man hat diese Verkäufe ‚In-sich-Verkäufe‘ genannt. Der einzige Sinn war, | |
das Geld aus den Wohnungsbaugesellschaften herauszuziehen und in die Kasse | |
des Landeshaushaltes hinüberzuleiten. Zwar waren dadurch die Wohnungen erst | |
mal noch nicht angetastet, aber die Wohnungsbaugesellschaften mussten neues | |
Kapital aufnehmen, und sie mussten diese finanziellen Belastungen durch | |
möglichst hohe Mieten und Einsparungen wieder hereinkriegen. Zusätzlich hat | |
das Land Berlin die Wohnungsbaugesellschaften gezwungen, schlechte | |
Grundstücksflächen zu erwerben, die Eigentum des Landes waren. Und auch | |
noch zu überhöhten Preisen. | |
Und nachdem dann sozusagen dieses Geschäft, Plünderung der öffentliche | |
Wohnungswirtschaft – in einer Höhe von 2-3 Milliarden € umgerechnet – so | |
gut gelaufen war, wollte man noch mehr. Dann hat man die | |
Wohnungsbaugesellschaften zunächst gezwungen, 50.000 Wohnungen zu | |
privatisieren. Und später erfolgte dann der 2004 vollzogene Verkauf der | |
GSW. (1924 wurde die städtische „Wohnungsfürsorgegesell-schaft Berlin mbH“ | |
gegründet, ab 1937 „Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft. | |
Anm. G. G.) Das war der Komplettverkauf einer ganzen | |
Wohnungsbaugesellschaft mit 64.000 Wohnungen und der gehörte mit zum | |
Stufenplan der Plünderung und Ökonomisierung. | |
Und der Skandal war dann, dass der damalige Finanzsenator Sarrazin von der | |
SPD in den zweitausender Jahren ein Gutachten erstellen ließ, das im | |
Ergebnis u. a. besagte: Öffentliche Wohnungsbaugesellschaften braucht kein | |
Mensch, sie sind hoch verschuldet, ihre Mieten sind fast so hoch wie auf | |
dem ‚freien Markt‘, wir können sie verkaufen. Also man hatte sich selbst | |
die Privatisierungslegitimation geschaffen, um als Land Berlin gleich | |
mehrfach von den öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften zu profitieren. | |
Das hat dann dazu geführt, dass der öffentliche Wohnungsbau Berlins von | |
480.000 Wohnungen, in den Jahren 2009/2010 auf einen Tiefststand von | |
260.000 Wohnungen abgesenkt wurde. Also um 220.000 Wohnungen abgesenkt! Das | |
hat sich natürlich bemerkbar gemacht in der Wohnungspolitik. Jetzt im | |
Moment wird ja wieder der öffentliche Wohnungsbau reklamiert und verkündet. | |
Man sagt, der Bestand solle jetzt auf 300.000, später auf 400.000 Wohnungen | |
anwachsen. Aber das wird dennoch nicht ausreichen. | |
## Der Bestand an Sozialwohnungen geht zurück | |
Wir hatten mal 360.000 belegungs- und mietpreisgebundene Wohnungen im | |
sozialen Wohnungsbau und heute sind es nicht mal mehr 100.000. Einfach | |
deshalb, weil die Förderung eingestellt worden ist. 2001 sind die letzten | |
Sozialwohnungen finanziert worden. Das heißt, der Bestand an | |
Sozialwohnungen reduziert sich immer mehr. Weil sie jetzt nicht mehr | |
gebunden sind, können sie jederzeit in Eigentumswohnungen umgewandelt | |
werden. Also, ‚sozialer Wohnungsbau‘ in Deutschland ist heute, ich sag’s | |
mal so: ‚Wirtschaftsförderung mit einer sozialen Zwischennutzung‘. | |
In Österreich ist das Förderprogramm zwar ähnlich, aber es wird nur an | |
gemeinnützige Unternehmen vergeben, und wenn die Förderung dann ausgelaufen | |
ist, nach 30 Jahren, greifen die Regeln der Gemeinnützigkeit immer noch, | |
die Wohnungen müssen preiswert vermietet und bewirtschaftet werden. Diesen | |
Schutzmechanismus hatte man in Deutschland auch, man hat ihn aber 1988/89 | |
abgeschafft! Und es ist ein Skandal und ein Absurdum, dass ein Teilbereich | |
des Wohnungsmarktes, der eigentlich zur ‚Lösung der Wohnungsfrage‘ | |
eingerichtet und millionenschwer gefördert worden ist, nun zu einem Ort | |
wird, wo der Verdrängungskampf besonders hart ausgetragen wird. Was in | |
anderen Ländern die Lösung des Problems ist, wird bei uns hier erst zum | |
Problem. | |
Und über ein Drama haben wir noch gar nicht gesprochen. Weil es diesen | |
starken Wohnungsmangel in den Innenstadtbezirken gibt, kommt es auch zu | |
diesem ‚sozialräumlichen Nachaußenwölben‘ der Stadtgesellschaft. | |
Wer heute seine Wohnung verliert, z. B. weil er die Miete nach der | |
Modernisierung nicht mehr bezahlen kann – das ist nämlich auch eine | |
Verdrängung und Gentrifikation –, der zieht nicht, wie früher noch, einfach | |
zwei Ecken weiter. Auch nicht mehr in einen billigeren Bezirk, denn | |
inzwischen ist der gesamte Berliner Innenstadtbereich von den | |
Mietpreissteigerungen erfasst. Also es gibt keine individuelle Lösung, wie | |
einen Umzug, mehr für das Problem. Das bedeutet, ich muss mich mit Nachbarn | |
und anderen Betroffenen zusammentun und politisch aktiv werden. | |
## Wie in der Sowjetunion in den 1940er-Jahren | |
Wir hatten ja unlängst dieses stadtpolitische Hearing, wo 25 Initiativen | |
aus der ganzen Stadt in kurzen Statements die Probleme in ihren Häusern | |
vorgetragen haben und auch die Forderungen, die sie an die Koalition | |
stellen. Zur Zeit gibt es etwa 80–90 Hausgemeinschaften in Berlin, die | |
gegen ihre Verdrängung kämpfen. Und diesen Gemeinschaften ist ja nicht | |
genutzt, wenn man ihnen in Marienfelde Neubauwohnungen anbieten würde. Das | |
wäre auch eine Delokation ganzer Gruppen in andere Stadtteile, so eine | |
Praxis hat man vielleicht in der Sowjetunion in den 1940er Jahren als | |
Stadtteilpolitik betrieben. | |
Nein, man hat einfach keine Lösungen und verschleppt die Probleme. Der | |
politische Unmut wird sich noch verstärken. Man kann in einer Stadt wie | |
Berlin auf Dauer nicht gegen die Mieter regieren, dazu ist die Gruppe | |
einfach zu groß. 85 % der Bevölkerung. | |
Es muss sich wieder ein starker politischer Protest bilden. Die | |
Hausbesetzerbewegung der 80er und 90er Jahre hatte ja ein politisches Beben | |
ausgelöst, über das sogar eine Regierungskoalition gefallen ist. Sie war | |
aber nicht deshalb so erfolgreich, weil sie so militant war und die Polizei | |
in Barrikadenkämpfe verwickelt hat, sondern weil sie als starke politische | |
Bewegung ein bis dahin verfolgtes wohnungspolitisches Programm blockiert | |
und ausgehebelt hat. Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die besagen, | |
dass es ohne diese Bewegung keine Chance zur ‚behutsamen Stadterneuerung‘ | |
gegeben hätte. Und diese Bewegung, die wir jetzt haben, die sich heute | |
formiert, die hat eigentlich in ihren Protesten bereits ‚die Stadt von | |
morgen‘ vorformuliert. | |
Man sieht das sehr deutlich auch daran, was nach diesem | |
Mieten-Volksentscheid 2015 von der SPD – damit es kein Wahlkampfthema wird | |
– ins Wohnraumversorgungsgesetz aufgenommen wurde. Es hat zwar einige | |
Auseinandersetzungen gegeben darüber, unter den Initiativen, aber insgesamt | |
sieht man ein, das ‚Wohnraumversorgungsgesetz‘, das seit 1. 1. 2016 gilt, | |
hat viele Aspekte, die besser sind als alle rechtlichen Regelungen, die wir | |
vorher hatten. | |
## Die Bürokratie ist kein Quell für Innovationen | |
Woher aber kommen die Forderungen, z. B. auch beim Fahrrad-Volksentscheid? | |
Woher die Lösungsvorschläge für den sozialen Wohnungsbau? Nicht vom Senat, | |
sondern von den Initiativen der betroffenen Bürger, die sich seit Jahren | |
engagieren. Die Bürokratie ist eben nicht der Ort, kein Quell für | |
Innovationen. | |
Allenfalls kann ein Impuls von oben administriert werden, oder es machen | |
eben viele Initiativen mit ihren Plänen Druck. Das ist momentan die Lage in | |
Berlin, wo wir ja eine neue Regierungskoalition haben, die sich eine neue | |
politische Kultur in der Stadt auf die Fahnen schreibt. Also man könnte | |
denen nur sagen: Anstatt da im Kreis zu sitzen mit Koalitionsvereinbarungen | |
hinter verschlossenen Türen, geht raus, geht auf die Straßen, hört euch an, | |
was die Initiativen auf Grund ihrer Erfahrungen fordern, schaut auch mal in | |
andere europäische Länder, wie Holland und schaut, was die mit den | |
Fahrrädern in der Stadt machen, und schreibt euch das Beste von alldem auf, | |
für ein gutes Regierungsprogramm! | |
Wenn das stattfinden würde, dann könnte Berlin zu so einer Art | |
Musterbeispiel werden, es würde sich zeigen, wie ich die Stadt verbessere | |
und wie ich den Verwertungsdruck ausbremsen kann, wie ich im 21. | |
Jahrhundert soziale Lebens- und Wohnverhältnisse schaffen kann. Das ist der | |
Traum! | |
Großsiedlungen am Rande der Stadt, jedenfalls, wie sie noch in den 70er | |
Jahren der Traum vom modernen Wohnen waren, sind längst nicht mehr die | |
Lösung. Solche Trabantenstädte, wie Märkisches Viertel oder Gropiusstadt, | |
boten anfangs beliebte Neubauwohnungen, wurden aber bald nur noch von jenen | |
bewohnt, die kein Geld für eine Wohnung in der Innenstadt oder für ein | |
Eigenheim hatten. Das führte zu einem Wandel der Sozialstruktur. Sie wurden | |
allmählich kulturell abgewertet als ‚Arbeiterschließfächer‘, als Zentren | |
der Armut. Das war auch in Paris bei den Banlieues so, dort kam noch eine | |
rassistische Strukturierung der Bevölkerung hinzu, die es bei uns nicht | |
gegeben hat. | |
## „Problemngebiete“ im Innenstadtbereich | |
In Berlin haben wir eine komplett konträre Situation. Klar, wir haben diese | |
Bezirke – nach der Wende kamen ja auch noch die Plattenbauten hinzu, wie | |
Marzahn-Hellersdorf –, wo es diese abgewerteten Großsiedlungen gibt, die | |
einen schlechten Ruf haben. Aber der Großteil der armen und migrantischen | |
Bevölkerungsgruppen lebt immer noch in den Innenstädten. In Neukölln, | |
Kreuzberg, Wedding, Moabit. Die werden zugleich als soziale | |
‚Problemgebiete‘ wahrgenommen und seit Ende der 90er Jahre hat man diese | |
Programme der ‚sozialen Stadt‘ mit Quartiersmanagement usw. eingeführt. | |
Ausgerechnet diese Gebiete sind es nun, in denen es die stärksten | |
Mietsteigerungen bei Neuvermietungen und den stärksten Verdrängungsdruck an | |
den Stadtrand gibt. Das wird zu Konflikten führen. | |
Was wir brauchen, ist eine neue Stadtentwicklungspolitik. Aber leider wird | |
Stadtentwicklungspolitik fast immer nur an Instrumenten diskutiert, ganz | |
selten an wohnungspolitischen Visionen oder gar über ein Gesamtkonzept. Die | |
brauchen wir aber ganz dringend, ebenso gesetzliche Regelungen. Ich kann z. | |
B. für die öffentlichen Grundstücke sagen, die werden nicht mehr verkauft, | |
nur noch verpachtet. Pacht ist nur für die interessant, die langfristig | |
kalkulieren. | |
Ich könnte – auch im Kapitalismus – mit einer Grundstücksertragssteuer | |
sagen, dass, wer innerhalb eines Jahres das Grundstück zum doppelten Preis | |
verkauft, bekommt das ganze Geld wieder abgezogen. Ich kann sozusagen mit | |
steuerrechtlichen Instrumenten den Grundstückshandel in Berlin | |
deattraktivieren. Aber wir lassen uns immer wieder ablenken, diskutieren | |
über die Begrenzung der Mietpreisbremse, über das Problem der | |
Ferienwohnungen. Also meine Vision für Berlin ist ganz einfach gesagt | |
folgende: soziale Wohnungsversorgung, Spekulation möglichst einschränken, | |
weitgehende Mieten-Mitbestimmung. Aber ich sehe im Moment keine politische | |
Kraft, die gewillt ist, das durchzusetzen.“ | |
* * * | |
Andrej Holm, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut f. | |
Sozialwissenschaften/Stadt- u. Regionalsoziologie, a. d. | |
Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Großeltern waren als Kommunisten | |
Verfolgte d. Naziregimes, d. Großvater saß in Sachenhausen, d. Großmutter | |
in Moskau in d. Emigration, wo auch Holms Vater geboren wurde. | |
Andrej ist in Berlin (DDR) aufgewachsen, zur Schule gegangen u. hat 1989 | |
Abitur gemacht. Im gleichen Jahr Antritt d. Wehrdienstes als | |
Offiziersschüler in dem d. Stasi unterstellten Wachregiment Dzierzynski [So | |
stellt er es Gabriele Goettle gegenüber dar. Nach Aktenlage war er in der | |
Auswertungs- und Kontrollgruppe der Berliner Bezirksverwaltung der Stasi. | |
Anm. der Red.]. | |
1990 Aufnahme des Studiums im neu errichteten Studiengang Soziologie an d. | |
Humboldt-Univ. Aktivitäten in d. Hausbesetzerbewegung Ost. 1997 Diplom, | |
2005 Promotion. Dann Phasen freiberuflicher Tätigkeit als | |
Sozialwissenschaftler (vor allem f. d. Zeitung d. Berliner | |
Mietergemeinschaft u. d. Uni Frankfurt/Main u. Oldenburg). Holm wurde am | |
31. Juli 2007 wegen Verdachts d. Mitgliedschaft in einer terroristischen | |
Vereinigung verhaftet, per Hubschrauber zum Bundesgerichtshof nach | |
Karlsruhe verfrachtet und dem Ermittlungsrichter vorgeführt. | |
Der Verdacht stützte sich auf §129a, auf eine Internetrecherche d. | |
Terrorfahnder d. BKA, bei d. nach linguistischen Übereinstimmungen zu d. | |
Erklärungen von militanten Gruppen gefahndet wurde. Hier war es d. | |
Verwendung von Begriffen wie: „Gentrification“, „Prekarisierung“, | |
„Bezugsrahmen“, d. auffielen. Sie wurden aus d. sozialwissenschaftlichen | |
Zusammenhang gerissen u. konspirative Kontakte zu militanten Gruppen | |
unterstellt, die sich ebenfalls dieser Begriffe bedienen. Am 22. August | |
wurde d. Haft ausgesetzt, am 24. Oktober d. Haftbefehl aufgehoben. | |
2011 Rückkehr a. d. HU ans Institut (bekam dann eine „entfristete“ Stelle). | |
Seitdem macht er an d. HU seine Lehre u. seine Projekte im Bereich | |
Stadtsoziologie. Andrej Holm wurde 1970 in Leipzig geboren, seine Eltern | |
studierten damals noch Journalismus. 1972 zog die Familie nach Berlin. Der | |
Vater wurde nach d. Studium hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums f. | |
Staatssicherheit, die Mutter arbeitete als Journalistin. | |
2 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
## TAGS | |
Berlin | |
Andrej Holm | |
Gentrifizierung | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Zwischennutzung | |
Immobilien | |
Die Linke | |
Mietpreisbremse | |
Berlin-Kreuzberg | |
Soziales | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Gentrifizierung | |
Wohnungslosigkeit | |
Gentrifizierung | |
Zwangsräumung | |
Neukölln | |
Linke Szene | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Freiraum in der Bremer Neustadt: Kunstwerke zum Sonnengruß | |
Einen temporären Yoga-Tempel, der zugleich auch Galerie ist, hat Judith | |
Reischmann dank der Zwischen-Zeit-Zentrale in der Neustadt eröffnet. | |
Debatte Finanzcasino: Das irre Steuerloch | |
Wie wird man bequem reich? Mit privaten Miet- „Objekten“. Millionenbeträge | |
können mühelos am Finanzamt vorbeigeschleust werden. | |
Debatte um bezahlbare Wohnungen: Mieterschlacht im Bundestag | |
Bei der letzten mietenpolitischen Debatte dieser Legislatuperiode geht es | |
hoch her: Die Opposition wirft der Regierung vor, versagt zu haben. | |
Online-Portal wenigermiete.de: Die Bremse ziehen | |
Das Gesetz zur Eindämmung der Neuvermietungspreise ist wirkungslos. Eine | |
Webseite hilft, überhöhte Mieten zu erkennen – und zu senken. | |
Bedrohte Häuser in Berlin-Kreuzberg: „Ihr kriegt uns hier nicht raus“ | |
In einem zum Verkauf stehenden Häuserkomplex ballen sich linke | |
Institutionen. Die Ressourcen zum Widerstand gegen die Verdrängung sind | |
groß. | |
Verdrängung sozialer Einrichtungen: Kein Platz mehr für betreutes Wohnen | |
8.000 Berliner leben in betreuten Wohnformen. Doch den Trägern werden die | |
Wohnungen vermehrt gekündigt – auch wegen der Rechtslage. | |
Immobilienmarkt in Berlin: Syndikat für Anfänger | |
Zufällig erfahren Mieter in Berlin, dass ihr Haus verkauft werden soll. Wie | |
es ihnen gelingt, im letzten Moment einen Investor auszustechen. | |
Gentrifizierung in Leipzig: Boomtown zulasten der Mieter | |
In Leipzig gab es lange Zeit viele bezahlbare Wohnungen. Das ändert sich | |
nun. Doch die Menschen wehren sich. | |
Wohnungslose in Berlin-Moabit: Schikanen im Gästehaus | |
Der Eigentümer einer Unterkunft für Wohnungslose will lieber Profit mit | |
Flüchtlingen machen. Doch die Betroffenen und der Bezirk wehren sich. | |
Gentrifizierung in Berlin: Kein Recht auf Wohnen | |
Stadtteilaktivist Thilo Broschell spricht über die Umwandlung Berlins in | |
Immobilieneigentum. Und er plädiert für für ein Recht auf Wohnen. | |
Zwangsräumung erfolgreich verhindert: Wie aus dem Protest-Bilderbuch | |
In Kreuzberg sollte am Donnerstag eine Wohnung geräumt werden. Rund 100 | |
Menschen protestieren vor dem Haus, bis die Gerichtsvollzieherin | |
kehrtmacht. | |
Räumung nicht vor Ende März: Aufschub für Neuköllner Kiezladen | |
Gerichtsverhandlung endet mit Vergleich: Nun wollen Nutzer des Kiezladens | |
F54 in der Friedelstraße diskutieren, wie sie mit der Entscheidung umgehen. | |
Besuch im Berliner Szene-Laden M99: „Taktisch gewaltfreie Motivation“ | |
Sein „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“ soll zwangsgeräumt werden. | |
Für Hans-Georg Lindenau ist das nicht das erste Mal. |