# taz.de -- Immobilienmarkt in Berlin: Syndikat für Anfänger | |
> Zufällig erfahren Mieter in Berlin, dass ihr Haus verkauft werden soll. | |
> Wie es ihnen gelingt, im letzten Moment einen Investor auszustechen. | |
Bild: Vor Verdrängung sind sie jetzt sicher: Helmut Sonnenschein, Judith Groth… | |
Berlin taz | Was ihnen gedroht hätte, kann Judith Groth sehen, wenn sie zum | |
Rauchen auf ihren kleinen Balkon tritt. Schräg gegenüber, auf der anderen | |
Seite der ruhigen Straße im Bezirk Friedrichshain steht ein Haus, das | |
aussieht wie ihres, ein graugesichtiger Altbau. Die Fassade ist | |
eingerüstet, das Dachgeschoss wird ausgebaut. „Die verkaufen die Wohnungen | |
dann für eine Million Euro“, sagt Groth. „Und für die Wohnungen darunter | |
zahlen die Mieter inzwischen 16 Euro pro Quadratmeter.“ | |
Die junge Frau und ihre Nachbarn in der Seumestraße 14 sind vor solchem | |
Ungemach mittlerweile gefeit. Seit diesem Oktober kann Groth zusammen mit | |
35 anderen Parteien im Haus selbst über ihre Miete bestimmen. Die | |
Hausgemeinschaft hat das 1908 erbaute Gebäude gekauft – und ist damit einem | |
großen Investor zuvorgekommen. | |
„Es ist verrückt“, sagt Simon Fronemann und staunt noch immer über den | |
Coup. „Wir sitzen in einer kohleofenbeheizten Küche über ausgedruckten | |
6-Punkt-Tabellen mit Millionenbeträgen.“ Groths mintfarben gestrichene | |
Wohnküche ist in den vergangenen Monaten zur Kommandozentrale geworden. Aus | |
dem Wohnzimmer haben sie ein paar Stühle dazugeholt, die Einrichtung wirkt | |
ebenso zusammengewürfelt wie die Gruppe. | |
## Eine bunte Truppe | |
Als da sind: die freischaffende Künstlerin Judith Groth, 34 Jahre alt; | |
Simon Fronemann, 37, Erzieher, der die Jogginghose nur zu besonderen | |
Anlässen gegen eine Jeans tauscht. Detlef Schadow, der lieber Latzhose | |
trägt und mit seinen 71 Jahren schon sein ganzes Leben in der Seumestraße | |
zugebracht hat. Und Helmut Sonnenschein, seit Kurzem Rentner, der sich | |
nicht vorstellen kann, seine mit Antiquitäten vollgestopfte Wohnung gegen | |
eine andere einzutauschen. | |
Noch im Mai, bevor sie erfuhren, dass ihr Haus zum Verkauf steht, kannten | |
sie sich nicht persönlich. Damals hörte Fronemann zwar zu jeder vollen | |
Stunde den lauten Gong der antiken Standuhr seines Nachbarn Sonnenschein, | |
hatte dessen Wohnung aber noch nie betreten. Nun sind aus Fremden | |
Verbündete, teilweise sogar Freunde geworden. Und aus Mietern Vermieter. | |
„Bei unserem Einkommen müssten wir eigentlich nach Marzahn ziehen“, sagt | |
Groth, also raus in die Plattenbauten am Stadtrand. Sozialarbeiter, | |
Handwerker, Rentner, auch eine Hartz-IV-Empfängerin leben in dem typischen | |
Berliner Altbau mit Vorderhaus, Hinterhaus und Seitenflügel. Dennoch ist es | |
ihnen gelungen, dem privaten Vorbesitzer 2,6 Millionen Euro zu überweisen. | |
30 Jahre müssen sie die dafür aufgenommenen Kredite nun abbezahlen, bis | |
ihnen das Haus vollständig gehört. Angst vor Verdrängung muss keiner mehr | |
haben. | |
## „Wir müssen alles probieren“ | |
Mit fünf, sechs Euro pro Quadratmeter sind die Mieten in dem Haus | |
vergleichsweise günstig gewesen. Nur wenn jemand auszog, ließ der Vermieter | |
die Wohnungen renovieren, ersetzte die alten Kachelöfen durch Heizungen. Im | |
Mai erfuhr einer der Hausbewohner zufällig von den Verkaufsabsichten des | |
Vermieters. Tags drauf hängen Zettel im Hausflur – eine Einladung für ein | |
Nachbarschaftstreffen. 15 Mieter finden sich im Kaffeehaus Szimpla am | |
Boxhagener Platz ein. Reihum stellen sie sich vor, sind sich aber schnell | |
einig. „Wir müssen alles probieren, am Ende ärgern wir uns“, erinnert sich | |
Helmut Sonnenschein. | |
Schon damals fallen Begriffe wie „Genossenschaft“ oder | |
„Mietshäusersyndikat“, erzählt Groth. „Aber niemand hatte eine Idee, wie | |
das geht.“ Was sie wissen: Eine organisierte, renitente Mieterschaft wird | |
man nicht so leicht los. Noch am selben Abend beschließen sie die Gründung | |
eines Hausvereins: Seume 14 e. V. | |
Als Erstes schreibt Groth als Vorsitzende einen Brief an den Anwalt des | |
Eigentümers mit der Frage, ob er auch an sie, die Mieter, verkaufen würde. | |
Man könne sich unterhalten, aber die Kaufverhandlungen mit einem Investor | |
stünden kurz vor dem Abschluss, lautet die Antwort. Von da an ist klar, das | |
ganze Vorhaben steht „unter enormem Zeitdruck“, wie Groth sagt. | |
Die Hausgemeinschaft trifft sich jede Woche, die Kerngruppe um Groth und | |
Fronemann bald täglich. Das Plenum wandert durchs Haus, in den | |
Sommermonaten werden die Gartenstühle einfach auf den Gehweg gestellt. Sie | |
beschäftigen sich mit gesetzlichen Bestimmungen, erstellen eine Website und | |
ein Logo, knüpfen Kontakte für Beratungen. Schon bald zieht Simon Fronemann | |
eine Jeans an und wirbt vor den Bezirksverordneten von | |
Friedrichshain-Kreuzberg darum, das Vorkaufsrecht für ihr Haus nutzen zu | |
dürfen. In Gebieten wie dem Samariterkiez und der Seumestraße, die | |
Milieuschutz genießen, steht jede Veränderung unter Genehmigungsvorbehalt. | |
Der Bezirk beschließt zu prüfen – doch dieser Weg hätte zu lange gedauert. | |
## Die Idee des Syndikats | |
Als einzige Lösung kristallisiert sich bald heraus, das Haus in Eigenregie | |
zu übernehmen. „Selbstverwaltung fühlt sich irgendwie gruselig an“, findet | |
Simon Fronemann noch heute. Judith Groth kennt das Konzept des | |
„Mietshäusersyndikats“ und lädt einen Vertreter zu einem ihrer Treffen. D… | |
Idee des von ehemaligen Hausbesetzern gegründeten Vereins: | |
selbstorganisierte Hausgemeinschaften erwerben Immobilien und entziehen sie | |
damit dem Markt; der Wiederverkauf wird dauerhaft ausgeschlossen. Mieten | |
dienen ausschließlich dazu, aufgenommene Kredite abzubezahlen. Mit dem | |
Geld, das alle Mitgliedsobjekte des Syndikats in einen Gemeinschaftstopf | |
einzahlen, werden neue Projekte unterstützt. | |
Das Mietshäusersyndikat ist tief in linken Strukturen verwurzelt, die | |
Seumestraße 14 ist das erste Projekt, das nicht explizit politisch – oder | |
zumindest ökologisch – ist. Das Syndikat wolle „Lernprozesse anstoßen und | |
kein Nischenprojekt bleiben“, meint Groth. Und so bietet auf einmal eine | |
linke Struktur Perspektiven für ganz normale Menschen. Über Transparente an | |
der Außenfassade und die Frage, ob ihr Plan politisch sei oder nicht, haben | |
die Hausbewohner intensive Diskussionen geführt. Schlussendlich hängen sie | |
ein Bettlaken raus: „Lieber Hausprojekt als Renditeobjekt“. | |
Zur Mitgliederversammlung des Syndikats im September in Frankfurt am Main | |
fahren sie mit einem geborgten Kleinbus vom „Späti“ nebenan. Als sich dort | |
ebenfalls ein esoterisch angehauchtes Projekt vorstellt, das eine Mühle bei | |
Freiburg kaufen will, prallen Welten aufeinander. „Ist das hier | |
Mittelerde?“, fragt ein Mitstreiter. Doch der entscheidende Schritt | |
gelingt. Die „Seume14“ wird, bei drei Enthaltungen, mit 250 Jastimmen in | |
den Verein aufgenommen. Im Rückblick sei das der wichtigste Moment gewesen, | |
sagen alle. | |
## Jede Menge Kleinkredite | |
Vor allem über Kleinkredite von durchschnittlich 1.000 Euro sammelt die | |
Gemeinschaft binnen weniger Wochen 300.000 Euro ein. 1,2 Millionen Euro | |
kommen als Kredit von einer Bank, den Rest füllt die gemeinnützige Stiftung | |
Edith Maryon durch einen Überbrückungskredit auf. Ohne die Stiftung hätte | |
der Eigenanteil der Hausbewohner etwa doppelt so hoch sein müssen – in der | |
kurzen Zeit war das nicht zu schaffen. Für ein tragfähiges Angebot gewährt | |
der Anwalt des Eigentümers ihnen eine Zweiwochenfrist. | |
Am Ende kommen ein paar Hunderttausend Euro weniger zusammen, als der | |
Investor zahlen will. Doch der ehemalige Besitzer spielt mit, vielleicht | |
aus sozialem Gewissen, vielleicht aus Imagegründen. Am 14. Oktober steigt | |
Judith Groth die Marmortreppen eines Charlottenburger Notariats hoch. „Ich | |
habe gezittert, ob der Besitzer wirklich verkauft“, sagt sie. Dreieinhalb | |
Stunden wird der Vertrag durchgesprochen, am Ende steht die Unterschrift. | |
Doch statt Erleichterung zu verspüren, geht Groth „der Arsch auf Grundeis“. | |
„Wir haben uns alle furchtbar betrunken“, sagt sie. | |
Die Verantwortung ist enorm, und die Arbeit geht erst richtig los. In AGs | |
kümmern sie sich um Finanzen, Verwaltung, Bauvorhaben, lernen Buchhaltung | |
und Nebenkostenkalkulation. Als ersten Schritt haben sich die neuen | |
Eigentümer kollektiv die Mieten erhöht, im Schnitt um einen Euro pro | |
Quadratmeter; wer kann, zahlt mehr. Nicht alle Parteien im Haus sind | |
Mitglied des Vereins geworden, aber niemand hat sich quergestellt. Die | |
Hartz-IV-Empfängerin aus dem Erdgeschoss schreibt Groth nach dem Kauf einen | |
Dankesbrief: „Eine Sorge weniger.“ | |
Wenn Simon Fronemann durch das unsanierte Treppenhaus läuft, wo die Wände | |
immer noch vollgekritzelt sind, sagt er sich immer wieder: „Krass, das | |
gehört uns.“ Müll räumt er jetzt schneller weg, alle sind achtsamer | |
geworden. Eine leerstehende Wohnung will die Hausgemeinschaft für | |
Flüchtlinge bereitstellen, eine andere wird renoviert und neu vermietet – | |
bevorzugt an Menschen mit niedrigem Einkommen. Die Gruppe will ihre | |
Erfahrungen teilen, mit anderen, kaufbereiten Hausgemeinschaften. „Wir | |
haben so viel Solidarität erfahren“, sagt Fronemann, „die wollen wir jetzt | |
weitergeben.“ | |
An der Haustür hängt ein Zettel: „Nächstes Treffen bei Simon. Themen: | |
Aktueller Stand Mieten und Mieterhöhungen, Hausverwaltung, Bewerber.“ | |
9 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Erik Peter | |
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