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# taz.de -- Besuch im Berliner Szene-Laden M99: „Taktisch gewaltfreie Motivat…
> Sein „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“ soll zwangsgeräumt
> werden. Für Hans-Georg Lindenau ist das nicht das erste Mal.
Bild: Hans-Georg Lindenau, kurz „HG“ gerufen, vor seinem Laden in der Mante…
Hans-Georg Lindenau, Enfant terrible, Buchhändler, Ladenbesitzer in
Berlin-Kreuzberg. HG ist 1959 in Nürnberg in einer aus dem Osten stammenden
Polizistenfamilie geboren und dort aufgewachsen. 1972 Umzug der Familie
nach Berlin. Dort Beendigung der Schule durch zweimaliges Durchfallen beim
Abitur. HG ist blitzgescheit, hat ein fotografisches Gedächtnis. Ist
redegewandt und selbstbewusst. 1977 machte er eine Fahrradtour durch
Westeuropa zwecks Abnabelung von der bürgerlichen Welt der Eltern. Rückkehr
und vergebliche Bewerbung bei der Berliner Volksbank. Stattdessen
erfolgreiche Politisierung. 1978 mobiler Büchertisch, unter anderem bei
„Rock gegen rechts“. Lebte im Georg-von-Rauch-Haus, arbeitete bei der
besetzten Schrippenkirche mit und beim autonomen Kunst- und Kultur-Centrum
KuKuCK. Arbeit in diversen Initiativen gegen die Missstände in der
Psychiatrie und Berliner Gefängnissen. Jahrelang Teilnahme am Häuserkampf.
1984 ging er auf Distanz, alles war ihm zu dogmatisch. Zwölf Monate Arbeit
auf dem Bau. 1985 Gründung seines Geschäfts als linker Buchladen und
Copy-Shop, zugleich hat er dort seine Wohnräume. HG ist eigensinniger
Außenseiter, auch innerhalb der autonomen Szene.
Am 23. September 1989 Sturz von der Emmaus-Kirche am Lausitzer Platz in
Kreuzberg, Wiederbelebung durch Passanten, mehrwöchiges Koma, fast ein Jahr
im Krankenhaus. Vielfache Knochenzertrümmerungen, innere Verletzungen und
Nervenschäden sind die Folge. Seither querschnittsgelähmt und zu 100
Prozent schwerbehindert. Er ist auf einen Rollstuhl und auf solidarische
Hilfe bei vielen seiner Alltagsverrichtungen angewiesen. Die bekommt er von
Freunden, Bekannten, Nachbarn und auch Fremden. Institutionalisierte Pflege
nach Pflegestufen lehnt er für sich ab, wenn es nicht unbedingt sein muss,
auch Sozialleistungen, was von Nachteil ist, bei der Einschätzung vor
Gericht als „Härtefall“. Es geht ja immer primär um Formalien. Wer
selbstständiger ist als üblich, dem wird Simulation unterstellt und leicht
die Berücksichtigung seiner Beschädigung abgesprochen. HG aber besteht
darauf, dass er diese Rechte haben möchte, auch wenn er sie nicht in
Anspruch nimmt.
Er lebt gesund, ernährt sich vegan, raucht nicht und ist abstinent, weil,
so HG, er alles nüchtern angehen will. In 31 Jahren hat er 54 polizeiliche
Hausdurchsuchungen hinter sich gebracht sowie mehrere Angriffe auf seinen
Laden, drei Brandanschläge, mehrere Kündigungen und Zwangsräumungsversuche.
Zuletzt stand in der vergangenen Woche ein Räumungstermin an.
Sein Laden liegt in Kreuzberg, im nördlichen Teil der Manteuffelstraße. Er
trägt das Kürzel „M99“ für Straße und Hausnummer. Im Mariannen-Kiez hal…
sich Kneipendichte und Szeneschick noch in Grenzen. Hier wird vor allem
gewohnt, meist in entstuckten Altbauten oder älteren Neubauten, deren
Mietwohnungen vor der Wende mindestens um die Hälfte preiswerter waren. Wer
sich so etwas Existenzielles wie Wohnen im ehemals preiswerten Kreuzberg
nicht mehr leisten kann, wird schnell an den Stadtrand in den Plattenbau
verwiesen. Ein Rätsel, wie die Leute das verkraften. Viel Geld haben die
Kiezbewohner in der Regel nicht, weder die Deutschen noch die Türken. Wo
Türken wohnen, erkennt man an den ausgerichteten Satellitenschüsseln, mit
denen sie ihre türkischen TV-Programme empfangen.
## Die Schmuddelkinder durften spielen
Es gibt hier noch eine übrig gebliebene Berliner Eckkneipe, kleine
Spätkaufläden, Getränkeshops, Bäckereien mit Stehtischen und einige sehr
schlichte kleine türkische Cafés. Innen sind die Wände meist hellblau, vor
der Tür stehen ein bis zwei Tische mit Stühlen. Ein wohlschmeckender
türkischer Tee im Glas kostet einen Pappenstiel. Gegenüber vom M99 befindet
sich in einem grauen 60er-Jahre-Bau ein türkisches Altersheim. Vor Jahren
noch ein Unding. Die Alten wurden in den Familien versorgt. Nun sind sie
endlich in unserem Kulturkreis angekommen.
Der Laden M99 sticht sofort negativ ins Auge. Man versteht HG Lindenau und
seinen Laden heute nicht mehr, wenn man die politische Vorgeschichte außer
acht lässt. Deshalb hier ein paar Randbemerkungen: Die Manteuffelstraße ist
gewiss keine architektonische Perle, die man verschandeln könnte, aber die
Nummer 99 wirkt heute wie ein schockierender Schandfleck. Dabei sah es Ende
der 70er und Anfang der 80er Jahre hier überall so aus. Und ein Schandfleck
wäre es gewesen, wenn nicht überall besetzte Häuser oder bunte Fassaden mit
Spruchbändern zu sehen gewesen wären. Ganze Straßenzüge waren „befreites
Gebiet“, so schien es wenigstens. Einen Katzensprung entfernt lag die
Mauer, jenseits der Spree die DDR.
Man war hier am „Ende der Welt“, die damals noch keiner kaufen wollte, die
weitgehend dem Abriss geweiht war von den Stadtplanern und politischen
Strategen. Der große Goldrausch für Spekulanten begann erst nach der
„Wiedervereinigung“, als sich die heruntergekommenen Häuser in Ost- und
Westberlin in begehrtes Betongold verwandeln ließen und die Mieten
sprunghaft in die Höhe getrieben wurden. Seitdem ist die Stadt eine andere.
Zu APO-Zeiten übrigens wohnte man in Berlin noch in Ku'damm Nähe (dort
residierte zum Beispiel der SDS in einer der vielen preiswerten und sehr
großen Altbauwohnungen). Die Studenten lebten in Charlottenburg,
Schöneberg, Friedenau, Wilmersdorf und natürlich auch in Kreuzberg, das sie
sich mit Künstlern und alteingesessenen Arbeiterfamilien und kleinen
Angestellten teilten. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre wurden in
Westberlin die ersten Häuser besetzt. Mehr als 1.600 Häuser standen leer,
waren „entmietet“ worden und sollten nach einem chaotischen
Stadterneuerungsplan des Senats aus den 60er Jahren eigentlich längst
abgerissen worden sein. Man ließ die Schmuddelkinder mit dem wertlosen Müll
eine kurze Weile spielen. In der Stadt hatte man anderes zu tun.
## So gut wie jeder Zentimeter ist ausgenutzt
In den 70ern und 80ern gab es massenhaft Bauskandale und
Korruptionsaffären, gegen die die Hausbesetzer absolute Waisenknaben waren.
Gar nicht vorhanden! Ein heute noch zu bewunderndes Beispiel ist der
Steglitzer Kreisel, Wahrzeichen einer der größten Bauskandale Westberlins,
118 Meter hoch, seit Jahrzehnten asbestverseuchte Bauruine. (Sie hat nun
einen Investor gefunden, der sie zur Luxus-Wohnimmobilie umwandeln will.)
Der Kreisel, Meisterstück der Architektin Sigrid Kressmann-Zschach, war das
größte Hochhaus der Stadt. Sie war die erfolgreichste Bauunternehmerin im
Westberliner Bau- und Subventionsfilz, erfolgreicher als die
konkurrierenden Baulöwen. Eine ihrer Parolen lautete: „Männer, Häuser und
Geld kann man nie genug haben!“ Es gab Baustopps, es hat gebrannt, es gab
Firmenpleiten und mehrere Rücktritte von Politikern. Den Steuerzahler
kostete diese Investitionsruine Abermillionen von 1968 bis heute.
Die Hausbesetzer in Kreuzberg wollten nicht nur Häuser, Geschlechtspartner
und Geld, sie wollten instandsetzen, sich kulturell, sozial und politisch
vernetzen, solidarisch arbeiten und leben. Das geht natürlich zu weit! Sie
wurden gestraft, gezüchtigt und zur Rechenschaft gezogen.
1981 ließ der damalige Innensenator Heinrich Lummer (CDU), gerade frisch im
Amt und erklärter Feind jeder Unordnung und Unbotmäßigkeit von links,
gleich acht Häuser auf einmal räumen. Am 22. September 1981 auch ein Haus
in der Schöneberger Bülowstraße 99. Im Verlauf der äußerst martialischen
Polizeiaktionen starb der 18-jährige Klaus-Jürgen Rattay. Beim Versuch, vor
den heranstürmenden Polizeikräften zu fliehen, wurde er in der
verkehrsreichen Potsdamer Straße von einem Bus totgefahren. Wer sich selbst
einmal auf die Probe stellen möchte, ob er zu Radikalisierung neigt oder
nicht, der möge den kleinen Filmbeitrag über Rattays Tod auf YouTube
anschauen.
Bleibt jemand ruhig von Ihnen, angesichts von Polizeistiefeln, die
anscheinend lustvoll die Trauergestecke und Kerzen für Rattay über die
Fahrbahn kicken? Für HG sind die Vorfälle damals ein Trauma geblieben bis
heute.
HG Lindenau empfängt mich unfreundlich, er ärgert sich, dass die Leute den
Inhalt seiner „Freebox“ auf dem Trottoir (zur kostenlosen Entnahme und
Hinterlassung brauchbarer Dinge) lieblos durcheinandergeschmissen haben.
Eine vermutlich aus Osteuropa stammende Frau mit kleinem Mädchen hat gerade
ein paar Schuhe in Kindergröße gefunden, steckt sie etwas verlegen ein und
räumt dafür zusammen.
## Hassmasken, Blousons und Bücher über Tierrechte
HG sitzt im Rollstuhl und blickt streng um sich. Er ist ein schöner,
kräftiger Mensch mit tragender Stimme und funkensprühenden Augen. Jetzt
weist er im Befehlston zwei Touristinnen aus Holland an, eine Matratze, die
an seinem Notfallcontainer lehnt, auf die Seite an die Hauswand zu tragen.
Sie führen es ungeschickt, aber willig aus. Als wir gerade unser Gespräch
beginnen wollen, kommt eine gut situiert wirkende ältere Frau mit einem
Koffer. Ihre Mutter ist gestorben, sagt sie, und das alles sei ja zu schade
zum Wegwerfen. Sie öffnet den Koffer und zelebriert den Inhalt. Ordentlich
zusammengelegte Kleidungsstücke, darunter ein mit Seidenpapier bedeckter
Persianermantel. HG ist unbeeindruckt und sagt, sie soll einfach alles
hinlegen, es käme schon jemand, der es brauchen kann. Die Frau hatte wohl
mehr Anerkennung und Dankbarkeit erwartet und geht indigniert zu ihrem
Auto.
Nachdem ein Freund von HG dessen Rollstuhl durch den seitlichen
Treppenhauseingang in den Laden bugsiert (was täglich mehrfach getan werden
muss), kriecht HG mühsam auf allen vieren die Stufen hinauf in den Laden
und auf sein erhöhtes Verkaufpodest, wo bereits sein Rollstuhl bereitsteht.
Er zieht sich geschickt hoch, stemmt sich hinein, und nun thront er und
ordnet alles in Reichweite. Er sagt, ich soll mich erst mal umsehen, er
brauche noch einen Moment. Die zwei Ebenen des Ladens haben zusammen
vielleicht 50 Quadratmeter.
So gut wie jeder Zentimeter der Fläche in die Höhe ist ausgenutzt. In
Metall-und Holzregalen liegt alles, was das Anarchistenherz einst begehrte.
Einiges wirkt altvertraut. Es gibt schwarze Blousons und Overalls,
Kapuzenpullis, Pfefferspray, Hassmasken, schwarze Halstücher, Sticker,
Rucksäcke, Gasmasken und vieles mehr. Reichlich politische Literatur,
Bücher über Tierrechte (HG ist Veganer), einiges über Gartenbau und
Selbstversorgung, Die wunderbaren Broschüren „Einfälle statt Abfälle“ von
Kuhtz oder „Die fahrende Töpferwerkstatt“, anderswo längst vergriffen und
vergessen, hat er. Ebenso Zeitschriften wie Radikal, die es seit 1976 gibt,
auch Operaistisches, Interim meine ich gesehen zu haben, aber da bin ich
mir nicht sicher.
Wie es sich für Revolutionsbedarf gehört, droht manches zu kippen, zu
rutschen, zu Boden zu fallen, der Schwerkraft folgend. Anderes, wie etwa
die schwarzen Halstücher, sind fest angeknotet an einen Kleiderbügel.
Subversive Spielsachen überall, Schutzkleidung für den Ernstfall. Und
vieles habe ich sicher gar nicht entdeckt. Bei genauerem Hinsehen wird ein
System im Chaos erkennbar. HG weiß genau, wo alles seinen Platz hat oder
haben müsste. Er kennt auch den Inhalt der Lektüre, die er verkauft. Auf
Anhieb wusste er Auskunft zu geben über Christian Kuhtz, der leider schon
lange nichts mehr veröffentlicht hat.
## Die Revolution stockt
Es ist eng und düster im Laden, zwei, drei Personen gleichzeitig bekommen
schon ein Platzproblem beim Aneinandervorbeigehen, jemand mit City-Rucksack
kommt schon gar nicht mehr herein. An der Überfülle lässt sich zugleich die
Tragik erkennen. Die Revolution ist vollkommen ins Stocken gekommen, die
Waren stauen zurück. Witzige Einfälle, anzügliche Aufdrucke und Sticker,
klassische Handbücher und Zeitschriften des Widerstands haben sich in
Plunder verwandelt. Das liegt nicht an HG. Der neue „hedonistische
Stadtbewohner“ – von dem einst die grüne Pastorin Antje Vollmer faselte –
hat die Oberhand gewonnen und ganz anderen Bedarf.
HG aber bleibt sich und der Sache unbeirrbar treu. Er selbst ist
bescheiden, bis auf seine Renitenz, er sortiert, ordnet und präsentiert
seine Waren, sitzt wie eine unendlich geduldige und besorgte Mutter auf den
Schlangeneiern, um sie warm zu halten und vielleicht doch noch auszubrüten,
eines Tages.
Zwei bärtige Touristen mit süddeutschem Akzent unterhalten sich über das
Verbot von Ferienwohnungen und bedauern es. HG sagt streng: „Es gibt immer
noch genug Ferienwohnungen hier, trotz Verbot. Vier Stück hier in der
Manteuffel, zwei in der Waldemar und acht dort im Eckhaus. Und das ist
wahrscheinlich nicht mal illegal. Sie beachten die Gesetze, indem sie sie
umgehen, es gibt dafür vorgesehene juristische Schlupflöcher.“ Die
Touristen sind verlegen und trollen sich Richtung Ausgang.
## „Mich kann man gut verteufeln“
Es ist gegen Mittag, und die Frequenz der Besucher lässt nach. Verkäufe
haben wenig stattgefunden, Kontakte viele. Wie es aussieht, können wir nun
mit dem Gespräch beginnen. Zunächst geht es um die Rigaer Straße, um den
jüngsten Räumungsversuch des seit 1990 besetzten Hauses durch die Polizei
Ende Juli. Es stellte sich heraus, dass er illegal war. Angeordnet wiederum
durch einen CDU-Innensenator. Frank Henkel ist in Lummer-Tradition für
hartes Durchgreifen. HG funkelt kämpferisch mit den Augen und sagt:
„Ja, Lummer. Ich sehe ihn noch vor mir, in der Siegerpose Napoleons, wie er
im geräumten Haus in der Bülowstraße seine Pressekonferenz abgehalten hat –
und nicht das geringste Empfinden für Klaus-Jürgen Rattay, der 50 Meter
entfernt zu Tode geschliffen worden war vom Bus. Eine Schande! Und der
Termin meiner Zwangsräumung jetzt, der fällt übrigens genau auf den
Todestag: 22. September. Und beinahe auch auf meinen Todestag, denn ich bin
am 23. September '89 im Gedenken an Klaus-Jürgen Rattay auf den Turm der
Emmaus-Kirche am Lausitzer Platz gestiegen, aber ohne Selbstmordabsicht!
Bin dann später, nach dem Sturz in die Tiefe, unten fast tot aufgefunden
worden. Gut, ich habe es überlebt, aber seither ist mein Leben ein ganz
anderes. Momentan habe ich jetzt das Problem, dass ich unter Druck mit dem
Hausbesitzer vereinbart habe, am 20. September hier ‚freiwillig‘
rauszugehen.“
Ein Besucher des Ladens, ein junger Mann, hört dem Gespräch zu und sagt:
„Das kann doch nicht wahr sein, dass ein Rolli-Fahrer vor die Tür gesetzt
wird?“ HG lacht kurz und sagt: „Das denken viele, ist aber ein Irrtum! Wenn
das hier ein Blumenladen wäre, mit der Blumenfrau im Rollstuhl, dann wäre
das vielleicht was anderes. Aber mich kann man eben gut verteufeln, zu
einer Art Staatsfeind Nummer eins machen. Ich muss raus, aber das kann ich
ja nur, wenn ich eine andere Perspektive habe. Die, die ich hatte, hat sich
grade zerschlagen, ein Laden in der Oranienstraße. Leider hat sich das
Plenum am 30. August gegen mich entschieden. Ich war ihnen wohl zu
schwierig. Die Presse hat mich ja als terroristisch-politisch motiviert
dargestellt und dass die Straßenkrawalle in der Rigaer Straße über mich
inszeniert worden wären. Was natürlich nicht stimmt. Das war der
Hausgemeinschaft zu viel, nehme ich an. Ich war nicht dabei.“
Ein Ladenbesucher sagt: „Hier ist was abgefallen!?“ HG ruft freundlich:
„Ja, häng’s doch einfach wieder auf!“
## „So funktioniert Gesellschaft“
Er fährt fort: „Siehst du, alle denken mit. Ich kann jedenfalls hier
freiwillig nicht ausziehen, wenn man mich freiwillig nicht nehmen will,
anderswo! Und eine ‚normale‘ Ladenmiete anderswo, die kann ich schon gar
nicht zahlen. Außerdem sind meine Ärzte – Hausarzt und Orthopäde, die ich
ja ständig aufsuchen muss – hier im Kiez in der Oranienstraße, auch mein
alter politischer Weggefährte, Udo Koch, hat sein Antiquariat dort. Nun bin
ich in meiner Verzweiflung entschlossen, am 13. September mit dem
Wasserfasten anzufangen, und zwar so lange, bis diese sittenwidrige Räumung
vom Tisch ist, denn ich habe keine Alternative finden können. Ohne
Perspektive gehe ich nicht freiwillig! In meinem Widerstand werde ich
unterstützt, teils von den Leuten hier, Anwohner, Nachbarn, Deutsche,
Türken, andere und natürlich von solidarischen Gruppen, die zur Stelle
sind, wenn es ernst wird. Am 20. September lasse ich die Heiztherme – die
ich für meine Etagen 1998 oben installieren ließ, bezahlt von meinem
eigenen Geld – hier nach unten legen. Ich brauche, wenn ich gerechterweise
Räumungsaufschub bekomme, hier unten eine Heizquelle über den Winter, auch
gegen die Vereisung der Wasserleitungen. Die denken vielleicht, HG, wir
kriegen dich! Aber die haben mich schon vorher nicht gekriegt bei den
Prozessen gegen mich, die ich alle gewonnen habe, auch die letzten acht
Hausbesitzer haben mich nicht gekriegt – der jetzt ist der neunte
beziehungsweise zehnte seit 1985 –, nicht die drei Brandanschläge, nicht
mehrere Räumungsversuche haben mich gekriegt. Das habe ich alles
überstanden, ebenso wie meine Krankheiten. Das hat mich zwar alles sehr
viel Geld und Kraft gekostet, aber ich weiche nicht. Ich bin natürlich auch
nur ein Mensch und reagiere sehr empfindlich auf diese existenzbedrohende
Umzingelung. Ich sitze hier als Gelähmter in dieser Isolation und spüre ab
und zu suizidartige Regungen in mir aufkommen, die ich nur mit viel
sozialer Umgebung um mich herum abwenden kann. Und hier im Laden habe ich
eben diese Möglichkeit, sozial und psychisch zu überleben, durch
solidarische Assistenzanwesenheit, durch Hilfe von Leuten, die in den Laden
reinkommen. Ich habe einen ‚offenen‘ Laden. Die Tür steht immer offen. Auch
bei 20 Grad minus. Meine geschlossene Abteilung ist offen!“
HG lacht etwas bitter. „Und mithilfe von einer Reihe von Leuten, die hier
reinkommen, kann ich meinen Alltag als Gelähmter – also das Wohnen und
Arbeiten, das Inventurmachen und Aufräumen – miteinander verbinden, weil
sie bereit sind, sich meiner Motorik etwas anzupassen. Also das Soziale
gehört zum Verkaufsakt dazu, das ist das Gute, weil ich die Hilfe, die mir
zuteil wird durch meine Zweibeinergesellschaft, so kombinieren kann, wie
ich sie brauche. Und wenn mir jemand mal nicht passt, dann kann ich den
auch rauswerfen. Ich kann selber bestimmen, wer kommt und wann die Hilfe
kommt. Nicht nur morgens, mittags, abends, wie beim Pflegedienst, wenn ich
isoliert in irgendeiner Wohnung sitzen würde.“
## „Dann kommt die RAF“
Ein junger Mann macht schon zum dritten Mal die Runde, unterbricht dann
unser Gespräch verlegen, er sucht T-Shirts mit subversivem Aufdruck. HG
deutet auf ein Regal mit Boxen: „Du gehst auf die Leiter dort, bringst mir
die Kiste runter, und wir schauen, ob dir etwas gefällt. Ich schreibe dann
gleich auf, wenn etwas fehlt, damit ich nachbestellen kann.“ Wie der
Ladenschwengel persönlich führt der junge Mann eifrig alles aus. Er findet
am Ende etwas Passendes und geht freundlich grüßend davon.
„Siehst du, das meine ich“, sagt HG. „So funktioniert Gesellschaft, wenn
man sie nicht daran hindert! Man sieht es deutlicher, wenn man darauf
angewiesen ist. Ich schaffe ja eine ganze Menge alleine, zum Beispiel auch,
dass ich auf einem defekten Kabel sitze, der Stromkreis mich vier Minuten
durchflutet und ich das als Elektrikersohn dennoch überlebe. All das geht
natürlich nur, wenn Leute da sind, die nach mir schauen und sich um mein
Wohlbefinden kümmern. Und solange ich hier in meinem Laden sein werde, sind
die auch da. Allerdings, das will ich auch erwähnen, man beklaut mich hier
natürlich am laufenden Band, oft nur Kleinigkeiten, aber auch mehrmals den
Laptop. Bei einem Gelähmten kein Problem.“
Ich bitte ihn, mal zu erzählen, wie er überhaupt auf die Idee dieses
„Gemischtwarenladens mit Revolutionsbedarf“ kam. Er reicht einer Käuferin
das Rückgeld in einer Plastikschachtel, weil er wegen einer Fingerarthrose
Kleinteiliges schlecht greifen kann, dankt ihr und fährt fort: „Damals war
ja noch eine ganz andere politische Situation, in die ich da reingewachsen
bin. Ich will es dir so sagen: Als ich noch Schüler war, da hat meine
Religionslehrerin mal gesagt: ‚Hans-Georg, wenn ihr hier immer das Brot
wegschmeißt auf dem Schulhof, dann werden eines Tages die Leute von der RAF
kommen, weil die das nämlich nicht gut finden, dass woanders die Leute
verhungern und ihr hier mit dem Überfluss so umgeht!‘ So habe ich gelernt,
dass man sich über Missstände aufregen muss, und das mache ich bis heute.“
## Die Ware ist Hilfe zur Selbsthilfe
Während er erzählt, knüpft er routiniert schwarze Halstücher an einen roten
Plastikkleiderbügel, bittet einen Besucher, den Bügel vorne aufzuhängen,
und erzählt weiter: „So ist der Laden entstanden. Ich agiere gegen
Ausgrenzung, Isolierung bis hin zur Unterbringung in Psychiatrien und
Knästen und für Gleichbehandlung – und das heißt eben auch Häuserkampf!
Weißt du, es geht mir um Umgangsformen, die nicht gewahrt werden! Und um
die zu ändern, da muss man dann eben vielleicht auch mal was Verbotenes
tun, zum Beispiel containern oder Häuser besetzen. Es entsteht immer wieder
eine Nachfrage für Revolutionsbedarf. Die Ware – also das Sortiment – wird
bestimmt durch die politische Einstellung und Situation. Sie ist Hilfe zur
Selbsthilfe. Was die Leute damit letztlich machen, entzieht sich meinem
Einfluss und meiner Kenntnis. Meine Motivation ist gewaltfrei! Taktisch
gewaltfrei. Ich bin kein Fundamentalist, ich möchte in kleinen Schritten
einen Weg zur Besserung finden. Leute kommen mit ganz unterschiedlichen
Motivationen hierher. Ich habe auch Sachen für Kinder. Der Laden hat sich
im Laufe der Zeit entwickelt, immer reagiert. Das Konzept selbst ist das
von damals, ganz gemischt. Nur sitze ich eben heute in einem Rollstuhl
hier. Wirklich revolutionär ist, dass ich nicht isoliert bin, sondern
solidarische Hilfe und Assistenz bekomme, auch von vollkommen Fremden. Ich
bin mit diesem Laden selbstständig, die Einnahmen decken meine Bedürfnisse
und die von einigen anderen auch ab und zu. Ich brauche nicht viel, ich
gebe weg, unterstütze andere Projekte. Es ist klar, dass ich hier keinen
Profit erwirtschafte, auch gar nicht erwirtschaften will. War nie mein
Ziel. Das hat sogar das Finanzamt bestätigt bei der generellen Überprüfung
im März 2015. Ich hab unüblich niedrige Preise, das kann ich nur
praktizieren, weil ich als Einkäufer, der das schon vierzig Jahre macht,
gute Konditionen bekomme und zum Beispiel bereit war, 200 Paar Gummistiefel
zu bestellen. Deshalb haben die Leute, die in Gorleben durch den Schlamm
gewatet sind, nur 7 Euro pro Paar zahlen müssen und nicht die üblichen 20
Euro.“
Wir sind fertig. Ein Freund von ihm bringt seinen Rollstuhl wieder auf die
Straße vor den Laden. HG hat nach den bereits beschriebenen Mühen Platz
genommen, grüßt Passanten, die den Gruß erwidern, rückt ein Schild zurecht,
dann singt er mir zum Abschied eines seiner Lieder. Er singt laut und ohne
Verlegenheit, mit schöner Stimme, kommt sauber hoch hinauf, kleine Jodler
und getragene Passagen wechseln einander ab. Es ist ein politischer
Moritatengesang über seine Lage und den Widerstand dagegen,
leidenschaftlich vorgetragen.
„Ich lass mich nicht vertreiben, ich will Bleibe – ja Bleiberecht“, es
folgt eine lange Beschreibung der Situation. Zum Ende hin heißt es (mit
tiefer, leiserer Stimme): „22. September sittenwidrige Zwangsräumung von
meinem Wohnladen, obwohl ich ein Anrecht habe. Kommt alle, am 22.9.
Zwangsräumung verhindern!!“ Dann singt er einen sehr schönen hohen, reinen
und klagenden Ton, hält ihn mühelos, bricht ab und sagt zu mir unvermittelt
mit sanfter Stimme: „So, kann ich jetzt wieder rein?“
22. September am frühen Morgen. HG ist wieder mal entschlüpft. Er ist
heiter. [1][Gestern hat das Landgericht die für heute anstehende
Zwangsräumung abgesagt.] Es solle ein medizinisches Gutachten eingeholt
werden, beschloss das Landgericht. Es gebe ausreichende Anhaltspunkte für
eine Suizidgefährdung. 1.200 Teilnehmer waren für die Demo am Kotti heute
Abend polizeilich angemeldet. Die Polizei hatte bereits Absperrgitter
abgeladen, die sie nun wieder wird einpacken müssen. Aber die Zwangsräumung
ist lediglich auf unbestimmte Zeit aufgeschoben, das Damoklesschwert hängt
weiterhin über Herrn Lindenau und seinen Gemischtwarenladen mit
Revolutionsbedarf.
26 Sep 2016
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## AUTOREN
Gabriele Goettle
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