# taz.de -- Besuch im Berliner Szene-Laden M99: „Taktisch gewaltfreie Motivat… | |
> Sein „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“ soll zwangsgeräumt | |
> werden. Für Hans-Georg Lindenau ist das nicht das erste Mal. | |
Bild: Hans-Georg Lindenau, kurz „HG“ gerufen, vor seinem Laden in der Mante… | |
Hans-Georg Lindenau, Enfant terrible, Buchhändler, Ladenbesitzer in | |
Berlin-Kreuzberg. HG ist 1959 in Nürnberg in einer aus dem Osten stammenden | |
Polizistenfamilie geboren und dort aufgewachsen. 1972 Umzug der Familie | |
nach Berlin. Dort Beendigung der Schule durch zweimaliges Durchfallen beim | |
Abitur. HG ist blitzgescheit, hat ein fotografisches Gedächtnis. Ist | |
redegewandt und selbstbewusst. 1977 machte er eine Fahrradtour durch | |
Westeuropa zwecks Abnabelung von der bürgerlichen Welt der Eltern. Rückkehr | |
und vergebliche Bewerbung bei der Berliner Volksbank. Stattdessen | |
erfolgreiche Politisierung. 1978 mobiler Büchertisch, unter anderem bei | |
„Rock gegen rechts“. Lebte im Georg-von-Rauch-Haus, arbeitete bei der | |
besetzten Schrippenkirche mit und beim autonomen Kunst- und Kultur-Centrum | |
KuKuCK. Arbeit in diversen Initiativen gegen die Missstände in der | |
Psychiatrie und Berliner Gefängnissen. Jahrelang Teilnahme am Häuserkampf. | |
1984 ging er auf Distanz, alles war ihm zu dogmatisch. Zwölf Monate Arbeit | |
auf dem Bau. 1985 Gründung seines Geschäfts als linker Buchladen und | |
Copy-Shop, zugleich hat er dort seine Wohnräume. HG ist eigensinniger | |
Außenseiter, auch innerhalb der autonomen Szene. | |
Am 23. September 1989 Sturz von der Emmaus-Kirche am Lausitzer Platz in | |
Kreuzberg, Wiederbelebung durch Passanten, mehrwöchiges Koma, fast ein Jahr | |
im Krankenhaus. Vielfache Knochenzertrümmerungen, innere Verletzungen und | |
Nervenschäden sind die Folge. Seither querschnittsgelähmt und zu 100 | |
Prozent schwerbehindert. Er ist auf einen Rollstuhl und auf solidarische | |
Hilfe bei vielen seiner Alltagsverrichtungen angewiesen. Die bekommt er von | |
Freunden, Bekannten, Nachbarn und auch Fremden. Institutionalisierte Pflege | |
nach Pflegestufen lehnt er für sich ab, wenn es nicht unbedingt sein muss, | |
auch Sozialleistungen, was von Nachteil ist, bei der Einschätzung vor | |
Gericht als „Härtefall“. Es geht ja immer primär um Formalien. Wer | |
selbstständiger ist als üblich, dem wird Simulation unterstellt und leicht | |
die Berücksichtigung seiner Beschädigung abgesprochen. HG aber besteht | |
darauf, dass er diese Rechte haben möchte, auch wenn er sie nicht in | |
Anspruch nimmt. | |
Er lebt gesund, ernährt sich vegan, raucht nicht und ist abstinent, weil, | |
so HG, er alles nüchtern angehen will. In 31 Jahren hat er 54 polizeiliche | |
Hausdurchsuchungen hinter sich gebracht sowie mehrere Angriffe auf seinen | |
Laden, drei Brandanschläge, mehrere Kündigungen und Zwangsräumungsversuche. | |
Zuletzt stand in der vergangenen Woche ein Räumungstermin an. | |
Sein Laden liegt in Kreuzberg, im nördlichen Teil der Manteuffelstraße. Er | |
trägt das Kürzel „M99“ für Straße und Hausnummer. Im Mariannen-Kiez hal… | |
sich Kneipendichte und Szeneschick noch in Grenzen. Hier wird vor allem | |
gewohnt, meist in entstuckten Altbauten oder älteren Neubauten, deren | |
Mietwohnungen vor der Wende mindestens um die Hälfte preiswerter waren. Wer | |
sich so etwas Existenzielles wie Wohnen im ehemals preiswerten Kreuzberg | |
nicht mehr leisten kann, wird schnell an den Stadtrand in den Plattenbau | |
verwiesen. Ein Rätsel, wie die Leute das verkraften. Viel Geld haben die | |
Kiezbewohner in der Regel nicht, weder die Deutschen noch die Türken. Wo | |
Türken wohnen, erkennt man an den ausgerichteten Satellitenschüsseln, mit | |
denen sie ihre türkischen TV-Programme empfangen. | |
## Die Schmuddelkinder durften spielen | |
Es gibt hier noch eine übrig gebliebene Berliner Eckkneipe, kleine | |
Spätkaufläden, Getränkeshops, Bäckereien mit Stehtischen und einige sehr | |
schlichte kleine türkische Cafés. Innen sind die Wände meist hellblau, vor | |
der Tür stehen ein bis zwei Tische mit Stühlen. Ein wohlschmeckender | |
türkischer Tee im Glas kostet einen Pappenstiel. Gegenüber vom M99 befindet | |
sich in einem grauen 60er-Jahre-Bau ein türkisches Altersheim. Vor Jahren | |
noch ein Unding. Die Alten wurden in den Familien versorgt. Nun sind sie | |
endlich in unserem Kulturkreis angekommen. | |
Der Laden M99 sticht sofort negativ ins Auge. Man versteht HG Lindenau und | |
seinen Laden heute nicht mehr, wenn man die politische Vorgeschichte außer | |
acht lässt. Deshalb hier ein paar Randbemerkungen: Die Manteuffelstraße ist | |
gewiss keine architektonische Perle, die man verschandeln könnte, aber die | |
Nummer 99 wirkt heute wie ein schockierender Schandfleck. Dabei sah es Ende | |
der 70er und Anfang der 80er Jahre hier überall so aus. Und ein Schandfleck | |
wäre es gewesen, wenn nicht überall besetzte Häuser oder bunte Fassaden mit | |
Spruchbändern zu sehen gewesen wären. Ganze Straßenzüge waren „befreites | |
Gebiet“, so schien es wenigstens. Einen Katzensprung entfernt lag die | |
Mauer, jenseits der Spree die DDR. | |
Man war hier am „Ende der Welt“, die damals noch keiner kaufen wollte, die | |
weitgehend dem Abriss geweiht war von den Stadtplanern und politischen | |
Strategen. Der große Goldrausch für Spekulanten begann erst nach der | |
„Wiedervereinigung“, als sich die heruntergekommenen Häuser in Ost- und | |
Westberlin in begehrtes Betongold verwandeln ließen und die Mieten | |
sprunghaft in die Höhe getrieben wurden. Seitdem ist die Stadt eine andere. | |
Zu APO-Zeiten übrigens wohnte man in Berlin noch in Ku'damm Nähe (dort | |
residierte zum Beispiel der SDS in einer der vielen preiswerten und sehr | |
großen Altbauwohnungen). Die Studenten lebten in Charlottenburg, | |
Schöneberg, Friedenau, Wilmersdorf und natürlich auch in Kreuzberg, das sie | |
sich mit Künstlern und alteingesessenen Arbeiterfamilien und kleinen | |
Angestellten teilten. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre wurden in | |
Westberlin die ersten Häuser besetzt. Mehr als 1.600 Häuser standen leer, | |
waren „entmietet“ worden und sollten nach einem chaotischen | |
Stadterneuerungsplan des Senats aus den 60er Jahren eigentlich längst | |
abgerissen worden sein. Man ließ die Schmuddelkinder mit dem wertlosen Müll | |
eine kurze Weile spielen. In der Stadt hatte man anderes zu tun. | |
## So gut wie jeder Zentimeter ist ausgenutzt | |
In den 70ern und 80ern gab es massenhaft Bauskandale und | |
Korruptionsaffären, gegen die die Hausbesetzer absolute Waisenknaben waren. | |
Gar nicht vorhanden! Ein heute noch zu bewunderndes Beispiel ist der | |
Steglitzer Kreisel, Wahrzeichen einer der größten Bauskandale Westberlins, | |
118 Meter hoch, seit Jahrzehnten asbestverseuchte Bauruine. (Sie hat nun | |
einen Investor gefunden, der sie zur Luxus-Wohnimmobilie umwandeln will.) | |
Der Kreisel, Meisterstück der Architektin Sigrid Kressmann-Zschach, war das | |
größte Hochhaus der Stadt. Sie war die erfolgreichste Bauunternehmerin im | |
Westberliner Bau- und Subventionsfilz, erfolgreicher als die | |
konkurrierenden Baulöwen. Eine ihrer Parolen lautete: „Männer, Häuser und | |
Geld kann man nie genug haben!“ Es gab Baustopps, es hat gebrannt, es gab | |
Firmenpleiten und mehrere Rücktritte von Politikern. Den Steuerzahler | |
kostete diese Investitionsruine Abermillionen von 1968 bis heute. | |
Die Hausbesetzer in Kreuzberg wollten nicht nur Häuser, Geschlechtspartner | |
und Geld, sie wollten instandsetzen, sich kulturell, sozial und politisch | |
vernetzen, solidarisch arbeiten und leben. Das geht natürlich zu weit! Sie | |
wurden gestraft, gezüchtigt und zur Rechenschaft gezogen. | |
1981 ließ der damalige Innensenator Heinrich Lummer (CDU), gerade frisch im | |
Amt und erklärter Feind jeder Unordnung und Unbotmäßigkeit von links, | |
gleich acht Häuser auf einmal räumen. Am 22. September 1981 auch ein Haus | |
in der Schöneberger Bülowstraße 99. Im Verlauf der äußerst martialischen | |
Polizeiaktionen starb der 18-jährige Klaus-Jürgen Rattay. Beim Versuch, vor | |
den heranstürmenden Polizeikräften zu fliehen, wurde er in der | |
verkehrsreichen Potsdamer Straße von einem Bus totgefahren. Wer sich selbst | |
einmal auf die Probe stellen möchte, ob er zu Radikalisierung neigt oder | |
nicht, der möge den kleinen Filmbeitrag über Rattays Tod auf YouTube | |
anschauen. | |
Bleibt jemand ruhig von Ihnen, angesichts von Polizeistiefeln, die | |
anscheinend lustvoll die Trauergestecke und Kerzen für Rattay über die | |
Fahrbahn kicken? Für HG sind die Vorfälle damals ein Trauma geblieben bis | |
heute. | |
HG Lindenau empfängt mich unfreundlich, er ärgert sich, dass die Leute den | |
Inhalt seiner „Freebox“ auf dem Trottoir (zur kostenlosen Entnahme und | |
Hinterlassung brauchbarer Dinge) lieblos durcheinandergeschmissen haben. | |
Eine vermutlich aus Osteuropa stammende Frau mit kleinem Mädchen hat gerade | |
ein paar Schuhe in Kindergröße gefunden, steckt sie etwas verlegen ein und | |
räumt dafür zusammen. | |
## Hassmasken, Blousons und Bücher über Tierrechte | |
HG sitzt im Rollstuhl und blickt streng um sich. Er ist ein schöner, | |
kräftiger Mensch mit tragender Stimme und funkensprühenden Augen. Jetzt | |
weist er im Befehlston zwei Touristinnen aus Holland an, eine Matratze, die | |
an seinem Notfallcontainer lehnt, auf die Seite an die Hauswand zu tragen. | |
Sie führen es ungeschickt, aber willig aus. Als wir gerade unser Gespräch | |
beginnen wollen, kommt eine gut situiert wirkende ältere Frau mit einem | |
Koffer. Ihre Mutter ist gestorben, sagt sie, und das alles sei ja zu schade | |
zum Wegwerfen. Sie öffnet den Koffer und zelebriert den Inhalt. Ordentlich | |
zusammengelegte Kleidungsstücke, darunter ein mit Seidenpapier bedeckter | |
Persianermantel. HG ist unbeeindruckt und sagt, sie soll einfach alles | |
hinlegen, es käme schon jemand, der es brauchen kann. Die Frau hatte wohl | |
mehr Anerkennung und Dankbarkeit erwartet und geht indigniert zu ihrem | |
Auto. | |
Nachdem ein Freund von HG dessen Rollstuhl durch den seitlichen | |
Treppenhauseingang in den Laden bugsiert (was täglich mehrfach getan werden | |
muss), kriecht HG mühsam auf allen vieren die Stufen hinauf in den Laden | |
und auf sein erhöhtes Verkaufpodest, wo bereits sein Rollstuhl bereitsteht. | |
Er zieht sich geschickt hoch, stemmt sich hinein, und nun thront er und | |
ordnet alles in Reichweite. Er sagt, ich soll mich erst mal umsehen, er | |
brauche noch einen Moment. Die zwei Ebenen des Ladens haben zusammen | |
vielleicht 50 Quadratmeter. | |
So gut wie jeder Zentimeter der Fläche in die Höhe ist ausgenutzt. In | |
Metall-und Holzregalen liegt alles, was das Anarchistenherz einst begehrte. | |
Einiges wirkt altvertraut. Es gibt schwarze Blousons und Overalls, | |
Kapuzenpullis, Pfefferspray, Hassmasken, schwarze Halstücher, Sticker, | |
Rucksäcke, Gasmasken und vieles mehr. Reichlich politische Literatur, | |
Bücher über Tierrechte (HG ist Veganer), einiges über Gartenbau und | |
Selbstversorgung, Die wunderbaren Broschüren „Einfälle statt Abfälle“ von | |
Kuhtz oder „Die fahrende Töpferwerkstatt“, anderswo längst vergriffen und | |
vergessen, hat er. Ebenso Zeitschriften wie Radikal, die es seit 1976 gibt, | |
auch Operaistisches, Interim meine ich gesehen zu haben, aber da bin ich | |
mir nicht sicher. | |
Wie es sich für Revolutionsbedarf gehört, droht manches zu kippen, zu | |
rutschen, zu Boden zu fallen, der Schwerkraft folgend. Anderes, wie etwa | |
die schwarzen Halstücher, sind fest angeknotet an einen Kleiderbügel. | |
Subversive Spielsachen überall, Schutzkleidung für den Ernstfall. Und | |
vieles habe ich sicher gar nicht entdeckt. Bei genauerem Hinsehen wird ein | |
System im Chaos erkennbar. HG weiß genau, wo alles seinen Platz hat oder | |
haben müsste. Er kennt auch den Inhalt der Lektüre, die er verkauft. Auf | |
Anhieb wusste er Auskunft zu geben über Christian Kuhtz, der leider schon | |
lange nichts mehr veröffentlicht hat. | |
## Die Revolution stockt | |
Es ist eng und düster im Laden, zwei, drei Personen gleichzeitig bekommen | |
schon ein Platzproblem beim Aneinandervorbeigehen, jemand mit City-Rucksack | |
kommt schon gar nicht mehr herein. An der Überfülle lässt sich zugleich die | |
Tragik erkennen. Die Revolution ist vollkommen ins Stocken gekommen, die | |
Waren stauen zurück. Witzige Einfälle, anzügliche Aufdrucke und Sticker, | |
klassische Handbücher und Zeitschriften des Widerstands haben sich in | |
Plunder verwandelt. Das liegt nicht an HG. Der neue „hedonistische | |
Stadtbewohner“ – von dem einst die grüne Pastorin Antje Vollmer faselte – | |
hat die Oberhand gewonnen und ganz anderen Bedarf. | |
HG aber bleibt sich und der Sache unbeirrbar treu. Er selbst ist | |
bescheiden, bis auf seine Renitenz, er sortiert, ordnet und präsentiert | |
seine Waren, sitzt wie eine unendlich geduldige und besorgte Mutter auf den | |
Schlangeneiern, um sie warm zu halten und vielleicht doch noch auszubrüten, | |
eines Tages. | |
Zwei bärtige Touristen mit süddeutschem Akzent unterhalten sich über das | |
Verbot von Ferienwohnungen und bedauern es. HG sagt streng: „Es gibt immer | |
noch genug Ferienwohnungen hier, trotz Verbot. Vier Stück hier in der | |
Manteuffel, zwei in der Waldemar und acht dort im Eckhaus. Und das ist | |
wahrscheinlich nicht mal illegal. Sie beachten die Gesetze, indem sie sie | |
umgehen, es gibt dafür vorgesehene juristische Schlupflöcher.“ Die | |
Touristen sind verlegen und trollen sich Richtung Ausgang. | |
## „Mich kann man gut verteufeln“ | |
Es ist gegen Mittag, und die Frequenz der Besucher lässt nach. Verkäufe | |
haben wenig stattgefunden, Kontakte viele. Wie es aussieht, können wir nun | |
mit dem Gespräch beginnen. Zunächst geht es um die Rigaer Straße, um den | |
jüngsten Räumungsversuch des seit 1990 besetzten Hauses durch die Polizei | |
Ende Juli. Es stellte sich heraus, dass er illegal war. Angeordnet wiederum | |
durch einen CDU-Innensenator. Frank Henkel ist in Lummer-Tradition für | |
hartes Durchgreifen. HG funkelt kämpferisch mit den Augen und sagt: | |
„Ja, Lummer. Ich sehe ihn noch vor mir, in der Siegerpose Napoleons, wie er | |
im geräumten Haus in der Bülowstraße seine Pressekonferenz abgehalten hat – | |
und nicht das geringste Empfinden für Klaus-Jürgen Rattay, der 50 Meter | |
entfernt zu Tode geschliffen worden war vom Bus. Eine Schande! Und der | |
Termin meiner Zwangsräumung jetzt, der fällt übrigens genau auf den | |
Todestag: 22. September. Und beinahe auch auf meinen Todestag, denn ich bin | |
am 23. September '89 im Gedenken an Klaus-Jürgen Rattay auf den Turm der | |
Emmaus-Kirche am Lausitzer Platz gestiegen, aber ohne Selbstmordabsicht! | |
Bin dann später, nach dem Sturz in die Tiefe, unten fast tot aufgefunden | |
worden. Gut, ich habe es überlebt, aber seither ist mein Leben ein ganz | |
anderes. Momentan habe ich jetzt das Problem, dass ich unter Druck mit dem | |
Hausbesitzer vereinbart habe, am 20. September hier ‚freiwillig‘ | |
rauszugehen.“ | |
Ein Besucher des Ladens, ein junger Mann, hört dem Gespräch zu und sagt: | |
„Das kann doch nicht wahr sein, dass ein Rolli-Fahrer vor die Tür gesetzt | |
wird?“ HG lacht kurz und sagt: „Das denken viele, ist aber ein Irrtum! Wenn | |
das hier ein Blumenladen wäre, mit der Blumenfrau im Rollstuhl, dann wäre | |
das vielleicht was anderes. Aber mich kann man eben gut verteufeln, zu | |
einer Art Staatsfeind Nummer eins machen. Ich muss raus, aber das kann ich | |
ja nur, wenn ich eine andere Perspektive habe. Die, die ich hatte, hat sich | |
grade zerschlagen, ein Laden in der Oranienstraße. Leider hat sich das | |
Plenum am 30. August gegen mich entschieden. Ich war ihnen wohl zu | |
schwierig. Die Presse hat mich ja als terroristisch-politisch motiviert | |
dargestellt und dass die Straßenkrawalle in der Rigaer Straße über mich | |
inszeniert worden wären. Was natürlich nicht stimmt. Das war der | |
Hausgemeinschaft zu viel, nehme ich an. Ich war nicht dabei.“ | |
Ein Ladenbesucher sagt: „Hier ist was abgefallen!?“ HG ruft freundlich: | |
„Ja, häng’s doch einfach wieder auf!“ | |
## „So funktioniert Gesellschaft“ | |
Er fährt fort: „Siehst du, alle denken mit. Ich kann jedenfalls hier | |
freiwillig nicht ausziehen, wenn man mich freiwillig nicht nehmen will, | |
anderswo! Und eine ‚normale‘ Ladenmiete anderswo, die kann ich schon gar | |
nicht zahlen. Außerdem sind meine Ärzte – Hausarzt und Orthopäde, die ich | |
ja ständig aufsuchen muss – hier im Kiez in der Oranienstraße, auch mein | |
alter politischer Weggefährte, Udo Koch, hat sein Antiquariat dort. Nun bin | |
ich in meiner Verzweiflung entschlossen, am 13. September mit dem | |
Wasserfasten anzufangen, und zwar so lange, bis diese sittenwidrige Räumung | |
vom Tisch ist, denn ich habe keine Alternative finden können. Ohne | |
Perspektive gehe ich nicht freiwillig! In meinem Widerstand werde ich | |
unterstützt, teils von den Leuten hier, Anwohner, Nachbarn, Deutsche, | |
Türken, andere und natürlich von solidarischen Gruppen, die zur Stelle | |
sind, wenn es ernst wird. Am 20. September lasse ich die Heiztherme – die | |
ich für meine Etagen 1998 oben installieren ließ, bezahlt von meinem | |
eigenen Geld – hier nach unten legen. Ich brauche, wenn ich gerechterweise | |
Räumungsaufschub bekomme, hier unten eine Heizquelle über den Winter, auch | |
gegen die Vereisung der Wasserleitungen. Die denken vielleicht, HG, wir | |
kriegen dich! Aber die haben mich schon vorher nicht gekriegt bei den | |
Prozessen gegen mich, die ich alle gewonnen habe, auch die letzten acht | |
Hausbesitzer haben mich nicht gekriegt – der jetzt ist der neunte | |
beziehungsweise zehnte seit 1985 –, nicht die drei Brandanschläge, nicht | |
mehrere Räumungsversuche haben mich gekriegt. Das habe ich alles | |
überstanden, ebenso wie meine Krankheiten. Das hat mich zwar alles sehr | |
viel Geld und Kraft gekostet, aber ich weiche nicht. Ich bin natürlich auch | |
nur ein Mensch und reagiere sehr empfindlich auf diese existenzbedrohende | |
Umzingelung. Ich sitze hier als Gelähmter in dieser Isolation und spüre ab | |
und zu suizidartige Regungen in mir aufkommen, die ich nur mit viel | |
sozialer Umgebung um mich herum abwenden kann. Und hier im Laden habe ich | |
eben diese Möglichkeit, sozial und psychisch zu überleben, durch | |
solidarische Assistenzanwesenheit, durch Hilfe von Leuten, die in den Laden | |
reinkommen. Ich habe einen ‚offenen‘ Laden. Die Tür steht immer offen. Auch | |
bei 20 Grad minus. Meine geschlossene Abteilung ist offen!“ | |
HG lacht etwas bitter. „Und mithilfe von einer Reihe von Leuten, die hier | |
reinkommen, kann ich meinen Alltag als Gelähmter – also das Wohnen und | |
Arbeiten, das Inventurmachen und Aufräumen – miteinander verbinden, weil | |
sie bereit sind, sich meiner Motorik etwas anzupassen. Also das Soziale | |
gehört zum Verkaufsakt dazu, das ist das Gute, weil ich die Hilfe, die mir | |
zuteil wird durch meine Zweibeinergesellschaft, so kombinieren kann, wie | |
ich sie brauche. Und wenn mir jemand mal nicht passt, dann kann ich den | |
auch rauswerfen. Ich kann selber bestimmen, wer kommt und wann die Hilfe | |
kommt. Nicht nur morgens, mittags, abends, wie beim Pflegedienst, wenn ich | |
isoliert in irgendeiner Wohnung sitzen würde.“ | |
## „Dann kommt die RAF“ | |
Ein junger Mann macht schon zum dritten Mal die Runde, unterbricht dann | |
unser Gespräch verlegen, er sucht T-Shirts mit subversivem Aufdruck. HG | |
deutet auf ein Regal mit Boxen: „Du gehst auf die Leiter dort, bringst mir | |
die Kiste runter, und wir schauen, ob dir etwas gefällt. Ich schreibe dann | |
gleich auf, wenn etwas fehlt, damit ich nachbestellen kann.“ Wie der | |
Ladenschwengel persönlich führt der junge Mann eifrig alles aus. Er findet | |
am Ende etwas Passendes und geht freundlich grüßend davon. | |
„Siehst du, das meine ich“, sagt HG. „So funktioniert Gesellschaft, wenn | |
man sie nicht daran hindert! Man sieht es deutlicher, wenn man darauf | |
angewiesen ist. Ich schaffe ja eine ganze Menge alleine, zum Beispiel auch, | |
dass ich auf einem defekten Kabel sitze, der Stromkreis mich vier Minuten | |
durchflutet und ich das als Elektrikersohn dennoch überlebe. All das geht | |
natürlich nur, wenn Leute da sind, die nach mir schauen und sich um mein | |
Wohlbefinden kümmern. Und solange ich hier in meinem Laden sein werde, sind | |
die auch da. Allerdings, das will ich auch erwähnen, man beklaut mich hier | |
natürlich am laufenden Band, oft nur Kleinigkeiten, aber auch mehrmals den | |
Laptop. Bei einem Gelähmten kein Problem.“ | |
Ich bitte ihn, mal zu erzählen, wie er überhaupt auf die Idee dieses | |
„Gemischtwarenladens mit Revolutionsbedarf“ kam. Er reicht einer Käuferin | |
das Rückgeld in einer Plastikschachtel, weil er wegen einer Fingerarthrose | |
Kleinteiliges schlecht greifen kann, dankt ihr und fährt fort: „Damals war | |
ja noch eine ganz andere politische Situation, in die ich da reingewachsen | |
bin. Ich will es dir so sagen: Als ich noch Schüler war, da hat meine | |
Religionslehrerin mal gesagt: ‚Hans-Georg, wenn ihr hier immer das Brot | |
wegschmeißt auf dem Schulhof, dann werden eines Tages die Leute von der RAF | |
kommen, weil die das nämlich nicht gut finden, dass woanders die Leute | |
verhungern und ihr hier mit dem Überfluss so umgeht!‘ So habe ich gelernt, | |
dass man sich über Missstände aufregen muss, und das mache ich bis heute.“ | |
## Die Ware ist Hilfe zur Selbsthilfe | |
Während er erzählt, knüpft er routiniert schwarze Halstücher an einen roten | |
Plastikkleiderbügel, bittet einen Besucher, den Bügel vorne aufzuhängen, | |
und erzählt weiter: „So ist der Laden entstanden. Ich agiere gegen | |
Ausgrenzung, Isolierung bis hin zur Unterbringung in Psychiatrien und | |
Knästen und für Gleichbehandlung – und das heißt eben auch Häuserkampf! | |
Weißt du, es geht mir um Umgangsformen, die nicht gewahrt werden! Und um | |
die zu ändern, da muss man dann eben vielleicht auch mal was Verbotenes | |
tun, zum Beispiel containern oder Häuser besetzen. Es entsteht immer wieder | |
eine Nachfrage für Revolutionsbedarf. Die Ware – also das Sortiment – wird | |
bestimmt durch die politische Einstellung und Situation. Sie ist Hilfe zur | |
Selbsthilfe. Was die Leute damit letztlich machen, entzieht sich meinem | |
Einfluss und meiner Kenntnis. Meine Motivation ist gewaltfrei! Taktisch | |
gewaltfrei. Ich bin kein Fundamentalist, ich möchte in kleinen Schritten | |
einen Weg zur Besserung finden. Leute kommen mit ganz unterschiedlichen | |
Motivationen hierher. Ich habe auch Sachen für Kinder. Der Laden hat sich | |
im Laufe der Zeit entwickelt, immer reagiert. Das Konzept selbst ist das | |
von damals, ganz gemischt. Nur sitze ich eben heute in einem Rollstuhl | |
hier. Wirklich revolutionär ist, dass ich nicht isoliert bin, sondern | |
solidarische Hilfe und Assistenz bekomme, auch von vollkommen Fremden. Ich | |
bin mit diesem Laden selbstständig, die Einnahmen decken meine Bedürfnisse | |
und die von einigen anderen auch ab und zu. Ich brauche nicht viel, ich | |
gebe weg, unterstütze andere Projekte. Es ist klar, dass ich hier keinen | |
Profit erwirtschafte, auch gar nicht erwirtschaften will. War nie mein | |
Ziel. Das hat sogar das Finanzamt bestätigt bei der generellen Überprüfung | |
im März 2015. Ich hab unüblich niedrige Preise, das kann ich nur | |
praktizieren, weil ich als Einkäufer, der das schon vierzig Jahre macht, | |
gute Konditionen bekomme und zum Beispiel bereit war, 200 Paar Gummistiefel | |
zu bestellen. Deshalb haben die Leute, die in Gorleben durch den Schlamm | |
gewatet sind, nur 7 Euro pro Paar zahlen müssen und nicht die üblichen 20 | |
Euro.“ | |
Wir sind fertig. Ein Freund von ihm bringt seinen Rollstuhl wieder auf die | |
Straße vor den Laden. HG hat nach den bereits beschriebenen Mühen Platz | |
genommen, grüßt Passanten, die den Gruß erwidern, rückt ein Schild zurecht, | |
dann singt er mir zum Abschied eines seiner Lieder. Er singt laut und ohne | |
Verlegenheit, mit schöner Stimme, kommt sauber hoch hinauf, kleine Jodler | |
und getragene Passagen wechseln einander ab. Es ist ein politischer | |
Moritatengesang über seine Lage und den Widerstand dagegen, | |
leidenschaftlich vorgetragen. | |
„Ich lass mich nicht vertreiben, ich will Bleibe – ja Bleiberecht“, es | |
folgt eine lange Beschreibung der Situation. Zum Ende hin heißt es (mit | |
tiefer, leiserer Stimme): „22. September sittenwidrige Zwangsräumung von | |
meinem Wohnladen, obwohl ich ein Anrecht habe. Kommt alle, am 22.9. | |
Zwangsräumung verhindern!!“ Dann singt er einen sehr schönen hohen, reinen | |
und klagenden Ton, hält ihn mühelos, bricht ab und sagt zu mir unvermittelt | |
mit sanfter Stimme: „So, kann ich jetzt wieder rein?“ | |
22. September am frühen Morgen. HG ist wieder mal entschlüpft. Er ist | |
heiter. [1][Gestern hat das Landgericht die für heute anstehende | |
Zwangsräumung abgesagt.] Es solle ein medizinisches Gutachten eingeholt | |
werden, beschloss das Landgericht. Es gebe ausreichende Anhaltspunkte für | |
eine Suizidgefährdung. 1.200 Teilnehmer waren für die Demo am Kotti heute | |
Abend polizeilich angemeldet. Die Polizei hatte bereits Absperrgitter | |
abgeladen, die sie nun wieder wird einpacken müssen. Aber die Zwangsräumung | |
ist lediglich auf unbestimmte Zeit aufgeschoben, das Damoklesschwert hängt | |
weiterhin über Herrn Lindenau und seinen Gemischtwarenladen mit | |
Revolutionsbedarf. | |
26 Sep 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!5342470&s=m/ | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
## TAGS | |
Linke Szene | |
M99 | |
Berlin-Kreuzberg | |
Zwangsräumung | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Freie Universität Berlin | |
Gentrifizierung | |
Berlin | |
Zwangsräumung | |
Veganismus | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
M99 | |
Linke Szene | |
Friedrichshain-Kreuzberg | |
Zwangsräumung | |
Linke Szene | |
Rigaer Straße | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Religionsphilosoph Klaus Heinrich: Gelehrsam und so freundlich | |
Er lehrt ein aufregend gegenwärtiges Denken, das befreit und glücklich | |
macht. Zum 90. Geburtstag des Religionsphilosophen Klaus Heinrich. | |
Neue Strategien auf Immobilienmarkt: Zum Abschied keine Blumen | |
Immobilienkonzern Taekker will den Mietern der Lausitzer Straße 10 & 11 | |
doch nicht entgegenkommen – sich wohl aber vom Berliner Markt zurückziehen | |
Über Zwangsräumungen in Berlin: Wenn die Ertragserwartungen locken | |
Beinahe jeden Berliner Altmieter kann eine Kündigung treffen. Der | |
Stadtsoziologe Andrej Holm spricht über den „Häuserkampf von oben“. | |
Zwangsräumung erfolgreich verhindert: Wie aus dem Protest-Bilderbuch | |
In Kreuzberg sollte am Donnerstag eine Wohnung geräumt werden. Rund 100 | |
Menschen protestieren vor dem Haus, bis die Gerichtsvollzieherin | |
kehrtmacht. | |
Nicht jedes Gemüse ist vegan: „Kein Tierleid in der Möhre“ | |
Wie auch der Ökoanbau von industrieller Tierhaltung profitiert und wie er | |
dem entkommen kann, erklärt Agrar-Ingenieur Daniel Mettke. | |
Andreas Baums „Wir waren die neue Zeit“: Als im Kaputten das Neue lag | |
Aufbruch, Plena, Straßencafés: ein Spaziergang mit Andreas Baum an den | |
Schauplatz seines Berliner Hausbesetzerromans. | |
Räumung des Berliner Szene-Ladens M99: Gericht sieht Gefahr für Leib und Leben | |
Das Landgericht kassiert die für Donnerstag angesetzte Zwangsräumung. | |
Zunächst müsse ein Gutachten mögliche Folgen für den Betreiber prüfen. | |
Berliner Szene-Laden M99: Zwangsräumung steht bevor | |
Der Betreiber des linken Ladens hat ab Mai eine neue Bleibe. Bis dahin | |
droht ihm die Obdachlosigkeit, denn Gericht und Eigentümer bleiben hart. | |
Räumungstermin für Kiez-Laden: Neue Galgenfrist für „M99“ | |
Der linke „Laden für Revolutionsbedarf“ in Kreuzberg soll jetzt am 22. | |
September geräumt werden. Besitzer HG Lindenau bleibt aber hartnäckig. | |
Berlin-Kreuzberg: Räumung verschoben: Galgenfrist für den Revolutionsbedarf | |
Die für Dienstag angesetzte Räumung des Kreuzberger Szeneladens M99 wurde | |
verschoben – aber nicht aufgehoben: Neuer Termin soll nach der Wahl sein. | |
Einigung um Berliner Szene-Laden: Doch keine Räumung im M99 | |
Der Laden für „Revolutionsbedarf“ wird doch nicht geräumt. Aber eine | |
Zukunft hat er trotzdem nicht: Am 20. September soll Schluss sein. | |
Bewohner über Rigaer94 in Berlin: „Provokationen rund um die Uhr“ | |
Drei Wochen wurde das Berliner Hausprojekt Rigaer94 von der Polizei | |
besetzt. Für die Mieter war es der totale Ausnahmezustand. |