# taz.de -- Andreas Baums „Wir waren die neue Zeit“: Als im Kaputten das Ne… | |
> Aufbruch, Plena, Straßencafés: ein Spaziergang mit Andreas Baum an den | |
> Schauplatz seines Berliner Hausbesetzerromans. | |
Bild: Andreas Baum in einem Berliner Straßencafé | |
Es ist nicht einfach, den Gesichtsausdruck des Autors Andreas Baum zu | |
deuten, als wir den Ort des Geschehens in seinem Roman erreicht haben, den | |
Rosenthaler Platz im Berliner Stadtteil Mitte. Der Herbsttag ist kühl, die | |
Regenwolken sind vorbeigezogen und haben auf den Tischen der Straßencafés | |
kleine Pfützen hinterlassen. Vieles in Andreas Baums Gesicht wirkt sehr | |
aufgeräumt. | |
„Da hinten war der Beate-Uhse-Laden“, erinnert er sich – ein Ort, der in | |
seinem Hausbesetzerroman „Wir waren die neue Zeit“ eine Rolle spielt. Jetzt | |
steht an der Stelle ein sandfarbenes Ibishotel mit abgerundeten Kanten. | |
„Manchmal fällt es schwer, sich an all die Lücken und Brandmauern zu | |
erinnern, die es hier noch lange gab“, fügt Baum etwas melancholisch an. | |
Doch dann mischt sich auch wieder Erleichterung in seine Miene. „Heute | |
wirkt hier alles völlig normal, oder?“, ruft er fröhlich in den Lärm der | |
Autos hinein. | |
Mehr als ein Vierteljahrhundert ist es her, dass sich der Rosenthaler Platz | |
weniger als urbane Straßenkreuzung mit schicken Häusern und Cafés | |
präsentierte, die er heute ist – sondern eher wie eine große, kaputte | |
Spielwiese. Hier in der Nähe lebte Baum in einem der an die siebzig | |
besetzten Häuser Berlins – wo genau, will er nicht verraten, denn er | |
besteht darauf, dass sein Roman fiktiv ist. | |
„Irgendwas war immer“, sagt er auf die Frage, warum er diesen Roman erst | |
jetzt geschrieben hat. Erst beim Spaziergang rund um den Rosenthaler Platz | |
gibt er zu, dass er vieles, worüber er geschrieben hat, selbst erlebt hat, | |
dass er auch über viele Straftaten berichtet hat, die so tatsächlich | |
stattgefunden haben – und dass es vielleicht auch deshalb so lange gedauert | |
hat mit dem Roman, weil diese Straftaten erst einmal verjähren mussten. | |
„Viele meiner Freunde aus dieser Zeit, zu denen ich ja noch immer Kontakt | |
halte, riefen mich besorgt an“, sagt er, und berichtet dann, was aus den | |
meisten der Bürgerkinder, die sie ja alle waren, geworden ist: Anwälte, | |
Ärzte oder Werber. | |
## Augenzeuge eines Bürgerkriegs | |
Aber was ist das für ein Buch genau, das Andreas Baum da geschrieben hat? | |
Muss man noch einen Roman lesen, in dem Berlin als Metapher, als Ort der | |
strahlendsten Sehnsuchtsprojektionen funktioniert? | |
Ja, sollte man. Man sollte diesen Roman unbedingt lesen. Denn er ist eine | |
Art Sittengemäde der Hausbesetzerbewegung der Neunziger, wie es selten | |
authentischer zu haben war: Einige Szenen wie der Überfall von | |
Fußballhooligans auf das Kunsthaus Tacheles, wie er im Sommer 1990 wirklich | |
passiert ist, wirken derart plastisch, dass man das Gefühl hat, man wäre | |
Augenzeuge eines Bürgerkriegs. | |
Andreas Baum hat dafür eine plausible Erklärung. Sein schillernder Held, | |
der Hausbesetzer Sebastian Brandt, pflegt eine eigentümliche Haltung zur | |
Geschichte. Er erzählt sie aus der Situation eines Angeklagten, einer | |
verlorenen Schlacht heraus, denn am Ende wird er von seinen Kumpanen | |
verdächtigt, sie für die Polizei ausspioniert zu haben. | |
Darum wirkt er, so Baum, „wie ein traumatisierter Soldat, der | |
runtererzählt, was ihm widerfahren ist“. Etwas später fügt er an: „Ich | |
wollte keinen konventionellen Roman schreiben. Eher eine Art | |
mittelalterliches Heldenlied, in dem einer davon singt, wie es im Krieg | |
war.“ | |
Das bringt es auf den Punkt. Weder wird hier etwas über das Milieu erzählt, | |
aus dem Sebastian Brandt stammt, noch über seine Motive, Teil dieser | |
Hausbesetzerbewegung zu werden. Aber das nimmt man dem Buch auch gar nicht | |
übel. Denn Brandt ist eine Art Außenseiter, der die Ideale seiner Kumpane | |
teilt, der sie niemals verraten würde, der sie aber derart zersetzend | |
authentisch schildert, dass sie vollkommen übergeschnappt wirken. | |
„Wenn man Menschen beschreibt, die sich selbst sehr ernst nehmen, wird das | |
unweigerlich komisch“, grinst Andreas Baum – bringt damit aber auch zum | |
Ausdruck, wie kritisch er die Menschen, die mal Teil seines Lebens und | |
deren Träume die seinen waren, schon damals trotz allem sah. | |
Am härtesten kommt diese Kritik in all diesen zermürbenden Plena zum | |
Ausdruck, in denen noch über die banalsten Dinge so lang debattiert wird, | |
bis kaum einer mehr die Kraft hat, wirklich etwas zu unternehmen. Einmal | |
wird einer der Mitstreiter beim Fremdgehen erwischt. Normalerweise kümmert | |
sich in diesem Haus keiner darum, wer mit wem schläft – viel zu | |
unübersichtlich wäre da auch die Lage. | |
In diesem Fall aber ist alles anders, wenn auch keiner wirklich weiß, | |
warum. Jedenfalls erscheinen alle zum Plenum, das zunächst zum Rauswurf des | |
Fremdgehers aufgrund von Sexismus führen soll. Und sie erscheinen wie zu | |
einem Kriegsgericht, in voller Montur, „die Frauen hatten sich ihre Haare | |
hochgesteckt, die blonden, geschickt verfilzten Dreadlocks auf ihren Köpfen | |
zu Türmen aufgebaut, und auch die Punks hatten ihre Iros mit Zuckerwasser | |
und klebrigem Ost-Haarspray aufgestellt und ihre Schläfen frisch | |
ausrasiert.“ | |
## Konflikte um Sex, Macht, Gewalt | |
Es sind genaue Stellen wie diese, warum man dem Roman so leicht verzeiht, | |
dass er wirkt, als wäre er auch aufgrund seiner mageren 280 Seiten aus | |
einem Großen und Ganzen heraus gesägt worden, was ein „echter Roman“ hät… | |
werden können. | |
Da ist zum einen das Allgemeinmenschliche, die Konflikte um Sex, Macht, | |
Gewalt, die eigentlich überall und jederzeit stattfinden – vielleicht hier | |
nur mehr Raum greifen konnten als anderswo. Und zum anderen geht es hier um | |
eine Klientel, die immerhin die bürgerliche Gesellschaft mit Stumpf und | |
Stiel ausrotten wollte, ein altes Projekt also, in dem Privatsphäre und | |
Innenleben kaum Raum hatten. Insofern passt sich die Erzählung, die seinem | |
Helden auch kein Innenleben lässt, dem Erzählten gut an. | |
Woher kommt das eigentlich, dass vieles in der hölzernen Art, wie diese | |
Hausbesetzer miteinander umgehen, wie eine noch steifere Kopie des Habitus | |
der Achtundsechziger wirkt? „Damals war 1968 erst 20 Jahre her“, sagt der | |
Autor. „Diese Art zu diskutieren, die Art des Idealismus und die | |
Selbstverständlichkeit, mit der man davon ausging, in einer faschistischen | |
Gesellschaft zu leben … Eigentlich hat 1968 doch nie aufgehört“, fügt er | |
an. | |
Und erklärt auf diese Weise, dass man bei der Lektüre manchmal die | |
Übersicht über die Jahrzehnte verliert – dann zum Beispiel, als es um jene | |
berüchtigte Indianerkommune geht, die nicht nur in den Siebzigern die | |
Situation nutzte und ihre pädophilen Übergriffe mit sexueller Libertinage | |
zu rechtfertigen versuchte, sondern die noch in den Neunzigern in Ostberlin | |
ein Haus besetzte und es auch dort noch schaffte, viele Linken in tiefe | |
Verwirrung zu stürzen. | |
## Kämpfe und Krämpfe | |
Waren also doch eher Kämpfe und Krämpfe wie diese der eigentliche Grund, | |
warum Sebastian Brandt am Ende rausmuss aus dem besetzten Haus? Genauso wie | |
sein Erfinder, wie Andreas Baum, bei aller Liebe zu den Mitstreitern und | |
deren Ideen, die ja eigentlich keine falschen waren? | |
„Nein“, sagt Baum, als wir beim Heinrich Heine-Denkmal im Weinbergspark | |
angekommen sind. „All das hat nichts mit dem zu tun, was ich erlebt habe“, | |
sagt er. „Für mich war es eher so, dass ich einfach nur mehr Zeit brauchte | |
für mich selbst.“ | |
Und eigentlich glaubt Andreas Baum noch immer an das Zauberhafte, das | |
Märchenhafte in dieser Stadt. Wenn man es hier, am Rosenthaler Platz, nicht | |
mehr finden mag, dann muss man eben ein wenig weiter fahren, sagt er. | |
Und erzählt schließlich von seinen letzten journalistischen Entdeckungen. | |
Von einem Schloss im Mühlenbecker Land, in dem es eine Bowlingbahn in der | |
Orangerie gibt und in dem noch lange wilde Technopartys veranstaltet | |
wurden. Und von einem Plattenbau in der Uckermark, der gerade von ein paar | |
jungen Leuten aus Neukölln in eine Künstlerresidenz verwandelt wird. | |
So gesehen gibt es ihn tatsächlich immer noch, den gesellschaftlichen | |
Aufbruch in diesem Berlin. | |
23 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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