# taz.de -- Fotofestival: Subjektiver Blick durch die Linse | |
> Der „European Month of Photography“ zeigt an 120 Orten ein breites | |
> Spektrum an historischer und zeitgenössischer Fotografie. | |
Bild: Bernd Heyden: Kinder im Hinterhof, Stargarder Straße, Ost-Berlin, 1973 �… | |
Ein nackter Hintern hebt die geordnete Welt aus den Angeln: Es waren die | |
Rebellen ihrer Zeit, die der Fotograf Sebastian Mayer Anfang der 2000er | |
Jahre ablichtete. Mit radikalen Posen stellten sie sich gegen eine | |
Kommerzialisierung der Berliner Sub- und Popkultur. Seine Bilder zeigten | |
all jenen den Stinkefinger, die eine Domestizierung des „arm, aber sexy“ | |
Undergrounds im Sinn hatten. | |
Unter „Wild Wild Berlin“ präsentiert der Kunstraum Zwitschermaschine neben | |
Mayer auch Fotografien von Miron Zownir und Eva Otaño. Alle drei beschwören | |
eine Stadt und die Geister einer vergangenen Dekade – Künstler, | |
Hausbesetzer, Hedonisten – jenseits einer saturierten Gesellschaft. Und | |
doch generieren diese Bilder im Jetzt betrachtet fast utopische Zustände. | |
Sie erinnern an ein nicht einmal so fernes Gestern mit Problemen, von denen | |
ein globales, aus den Fugen geratenes Heute nur träumen kann. Das ist kein | |
Manko, sondern offenbart, was Fotografie vermag. | |
Was „Wild Wild Berlin“ eindrucksvoll im Kleinen vor Augen führt, hat sich | |
das Festival „European Month of Photography“ (EMOP) allgemein zum Ziel | |
gesetzt. Die Zwitschermaschine ist nur einer von 120 Orten, die eine | |
Fachjury auserkor und bestes Beispiel dafür, dass nicht nur die großen | |
Namen unter den teilnehmenden Museen, Kulturinstituten, Galerien, | |
Projekträumen, Botschaften und Fotoschulen mit Spannendem aufwarten. | |
## Größtes Fotofestival Deutschlands | |
EMOP Berlin ist das größte Fotofestival Deutschlands. Trotz der 10.000 | |
Bilder und der 130 Ausstellungsprojekte müsse sich aber niemand überfordert | |
sehen, so Moritz van Dülmen, Geschäftsführer von der Kulturprojekte GmbH, | |
einem Tochterunternehmen des Kultursenats, das sich neben dem EMOP etwa | |
auch für die Art Week verantwortlich zeichnet. Vielmehr sollten gerade die | |
Berliner das Angebot als „Appetizer“ verstehen. Tiefer in die Materie | |
einsteigen lässt sich bei den Veranstaltungen rund ums Festival. | |
Schon zum Auftakt diskutierten Archivare, Publizisten und Medienexperten | |
bei C/O Berlin im Amerika Haus heiße Themen. Zum Beispiel die Relevanz von | |
professioneller Fotografie oder ihren Kunstanspruch in digitalen Zeiten, in | |
denen Algorithmen und intensives Foto-Sharing den Takt vorgeben. | |
Zudem können beim experimentierfreudigen C/O Berlin gleich zwei | |
Ausstellungen besucht werden. Im oberen Stockwerk hat gerade „Don’t Start | |
With The Good Old Things But The Bad New Ones“ eröffnet. Da finden sich | |
Bilder von Adam Broomberg & Oliver Chanarin, die Brutales und Zärtliches | |
bannen, Folterinstrumente oder Liebende in der Verschmelzung und solche, | |
die zunächst ganz harmlos anmuten: Ein kleiner Junge mit Kostüm und Maske, | |
ein Mann hat ihm seine Hand auf die Schulter gelegt. Hier drängt sich die | |
Frage auf: Wer steht in der Verantwortung? | |
Glück und Gewalt liegen auch bei „I am you“ nah beieinander. Chicago 1957: | |
Zwei Polizisten in Zivil treten mit gezückten Pistolen eine Tür ein. San | |
Diego 1959: Eine Dame in weißem Pelz steht lächelnd vor Eisbären. Beide | |
Aufnahmen stammen von Gordon Parks, dem Chronisten des Kampfs für | |
Gleichberechtigung der Afroamerikaner. Bevor er mit seinen Porträts etwa | |
von Malcom X, Duke Ellington und Ingrid Bergmann und seinen Modestrecken | |
für Conde Nast Geschichte schrieb, schlug Parks sich in Elendsvierteln | |
unter anderem als Klavierspieler in einem Bordell durch. | |
## „Der Blick des anderen“ als Motto | |
Auch die siebte EMOP-Berlin-Ausgabe will viel, nämlich einem Publikum das | |
gesamte Spektrum an historischer und zeitgenössischer Fotografie bieten und | |
europäisch zusammenzurücken: So macht das Festival auch in Athen, | |
Bratislava, Luxemburg, Paris und Wien halt. Aktuelle Themen, wie die | |
Flüchtlingskrise, greift es dabei nicht explizit auf. Aber das Motto, „Der | |
Blick des anderen“, ist bewusst weit gefasst. | |
Das ermöglicht Ausstellungen wie die in der ifa Galerie. „Mit anderen | |
Augen“ hat eine leise Kraft: Johannes Hail studierte als erster Äthiopier | |
Fotografie in den Vereinigten Staaten. Während einer siebenwöchigen Reise | |
durch Deutschland hielt er Schulkinder, Familien, Fabrik- und Landarbeiter | |
in West- und Ostberlin, auf dem Münchner Oktoberfest oder vor den | |
VW-Montagehallen von Wolfsburg fest. Denn 1962 hatte Hail von der deutschen | |
Botschaft in Äthiopien den Auftrag erhalten, den industriellen Wiederaufbau | |
der Nachkriegszeit in Deutschland zu dokumentieren. | |
Völlig losgelöst von Raum, Zeit und jeglichen Sorgen scheinen dagegen die | |
Schauspieler und Sänger, wie Alain Delon und Mick Jagger oder Françoise | |
Hardy, die Jean-Marie Périer in den 1960ern porträtierte. Das Institut | |
français widmet dem „Fotografen des Glücks“ eine Retrospektive und | |
überspitzt mit der Auswahl ein Zitat des Literaturnobelpreisträgers Patrick | |
Modiano. | |
Der soll einst über die Aufnahmen seines Freundes gesagt haben, in ihnen | |
sehe er nichts als „le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui“ („das | |
Unberührte, das Lebendige und das Schöne heutigentags“). Und tatsächlich | |
lassen sich an ihnen weder Spuren eines Gestern noch eines Morgen ablesen. | |
Gordon Parks hingegen sagte einmal, die Kamera habe er sich als Waffe | |
gewählt. Ob sie nun als Kriegswerkzeug, Schutzschild oder bloß als Auge | |
fungiert, der Blick durch die Linse ist ein subjektiver. Bilder haben | |
Macht, ebenso ihre Produzenten. Das gilt auch auf dem privaten Territorium | |
der Fotografie. Welches Bild soll die Zeiten überdauern? Der Mensch | |
vergisst, das digitale Gedächtnis nicht. | |
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
immer donnerstags in der Printausgabe der taz | |
5 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Jana Janika Bach | |
## TAGS | |
Fotografie | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Andreas Baums „Wir waren die neue Zeit“: Als im Kaputten das Neue lag | |
Aufbruch, Plena, Straßencafés: ein Spaziergang mit Andreas Baum an den | |
Schauplatz seines Berliner Hausbesetzerromans. |