# taz.de -- Berlin-Kreuzberg: Räumung verschoben: Galgenfrist für den Revolut… | |
> Die für Dienstag angesetzte Räumung des Kreuzberger Szeneladens M99 wurde | |
> verschoben – aber nicht aufgehoben: Neuer Termin soll nach der Wahl sein. | |
Bild: Der M99 in Kreuzberg: eine Kiez-Institution | |
Es klingt wie eine frohe Botschaft: Das M99 wird doch nicht geräumt und | |
Szene-Urgestein [1][HG Lindenau] nicht aus seinem Laden vertrieben, den er | |
als „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“ seit 30 Jahren betreibt. Die | |
Nachricht kam Donnerstagmorgen kurz vor einer Pressekonferenz, die von | |
Lindenaus Unterstützern eigentlich zur Mobilisierung gedacht war. Doch es | |
gibt ein Aber, das es in sich hat: Die Räumung ist nur aufgeschoben, und | |
zwar bis zum 20. September – zwei Tage nach der Berlin-Wahl. | |
Es gibt eine kurze und eine lange Vorgeschichte zu dieser Nachricht. Die | |
kurze geht so: Der Eigentümer des Hauses in der Manteuffelstraße 99 im | |
Kreuzberger Wrangelkiez hatte bereits Ende 2015 einen Räumungstitel für das | |
Ladengeschäft im Erdgeschoss und die darüber liegende Wohnung erwirkt. | |
Beide werden genutzt von Hans-Georg Lindenau, genannt HG, der dort seit den | |
Achtzigern sein Ladengeschäft betreibt. Angeblich hatte er ohne Genehmigung | |
seine Wohnung untervermietet – deshalb gab das Gericht der Räumungsklage | |
statt. | |
## Prominent in linker Szene | |
Der Laden und sein Besitzer sind Prominente in der linken Szene, eine | |
breite Unterstützerschaft fürs M99 hat sich formiert. Die Medien berichten | |
auch überregional, auch weil mit der Rigaer Straße 94 das Thema | |
Zwangsräumung derzeit besondere Beachtung findet. Für die am kommenden | |
Dienstag geplante Räumung war mit Widerstand zu rechnen, die linke Szene | |
mobilisierte bereits nach Kräften. Lindenau selbst ist laut Attest | |
psychisch stark angegriffen von der drohenden Räumung. | |
Nun ist die Vertreibung eines auf den Rollstuhl angewiesenen 57-Jährigen | |
aus einem Laden, den er seit 30 Jahren betreibt, ohnehin wenig | |
prestigeträchtig. Kurz vor dem Termin wurde am Donnerstag die bereits zur | |
Räumung bestellte Polizei sowie der Gerichtsvollzieher zurückgepfiffen, der | |
Eigentümer will bis zum 20. September die Füße still halten. Das steht in | |
einem Räumungsvergleich, der der taz vorliegt. Darin ist auch zu lesen, | |
dass sich Lindenau verpflichtet, am Montag die Wohnung über dem Laden | |
besenrein zu übergeben, er hat sie schon leer geräumt, ist in ein | |
Hinterzimmer des Ladens gezogen. Am 20. September ist dann der Laden dran. | |
Es ist also nur eine Galgenfrist. | |
Die lange Vorgeschichte beginnt viel früher: 1985 hat Lindenau einen Info- | |
und Bücherladen in Kreuzberg gegründet, der bald unter „M99 – | |
Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“ firmiert. Von Anfang an schlägt | |
Lindenau der eisige Wind staatlicher Überwachung und Durchsuchungen | |
entgegen. Weil er in seinem Laden zum Beispiel die Zeitschrift Interim | |
archiviert, als „authentisches Zeugnis der Szene“, wie er sagt. Alle | |
Jubeljahre mal druckt die linksautonome Interim auch Anleitungen zur | |
Herstellung von Brandsätzen ab. Lindenau wird verdächtigt, indirekt zu | |
Straftaten anzuzetteln. Gerichtlichen Bestand haben die Anschuldigungen | |
nie. | |
Auch die Neonaziszene hat den Laden auf dem Kieker, immer wieder gibt es | |
Brandanschläge, rechte Schmierereien an der Fassade. Selbst in der linken | |
Szene wird Lindenau mal mit offenen Armen empfängt, mal mit Boykottaufrufen | |
belegt. „Weil ich mich von niemanden vereinnahmen lasse“, sagt er. Die | |
mindestens acht Eigentümer der mehrfach verkauften Manteuffelstraße 99 | |
wollen Lindenau immer wieder rauskündigen. 1989 verunglückt der damals | |
30-Jährige, er soll von einem Kreuzberger Kirchturm gesprungen sein. Sechs | |
Wochen liegt Lindenau im Koma, wacht querschnittsgelähmt auf. Seitdem ist | |
er auf den Rollstuhl angewiesen. | |
## Marx und vegane Schuhe | |
Und trotz allem hält der Mann fest an seinem Laden, mit dem er längst | |
verwachsen scheint. Kein anderer findet sich zurecht zwischen den | |
gestapelten Kisten, Kartenständern und Klamotten. Zwischen Büchern über | |
Marx und Nietzsche, Aufnähern, Schlagstöcken, Schutzhelmen. Das größte | |
vegane Schuhsortiment Berlins soll Lindenau hier haben – zu unschlagbaren | |
Preisen. | |
Um viel Geld ging es ihm nie: Er lebt streng vegan, ohne Akohol und | |
Nikotin, steckt alles Geld in den maroden Laden. Lindenau geht es vor allem | |
um Kommunikation: „Ich lasse die Leute laufen, rede mit ihnen.“ Manchmal | |
singt er auch. Ein Besuch bei ihm, vielleicht hergelockt von einem der | |
Reiseführer, in denen das M99 inzwischen steht, ist ein Erlebnis zwischen | |
Befremdung und Faszination. | |
Jetzt braucht Lindenau binnen anderthalb Monaten einen neuen Laden. Denn | |
freiwillig will er nur gehen, wenn „mich freiwillig einer nimmt“, sagt er. | |
Alle bezirkspolitischen Bemühungen, einen Laden nebst barrierefreier | |
Wohnung im Kiez zu finden, waren bislang gescheitert. Zur Not will HG | |
Lindenau nun in Hungerstreik treten, denn „ohne meinen Laden kann ich | |
sowieso nicht existieren“. | |
4 Aug 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Montagsinterview-M-99-Betreiber-HG-Lindenau/!5129491 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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