Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gentrifizierung in Leipzig: Boomtown zulasten der Mieter
> In Leipzig gab es lange Zeit viele bezahlbare Wohnungen. Das ändert sich
> nun. Doch die Menschen wehren sich.
Bild: Die Eisenbahnstraße in Leipzig: Deutschlands schlimmste Straße?
Leipzig taz | „Wohnen unter Lebensgefahr“ – so schildern Rosa Bolmito und
ihre WG-Freunde die Zustände in ihrem Haus im Leipziger Süden. Ins oberste
Stockwerk regnet es rein, im Erdgeschoss brachen unter einer Badewanne die
durchgeschimmelten Balken. Alle paar Monate schicke der Vermieter aus
Baden-Württemberg eine Kündigung. Bisher konnten die gemeinschaftlich
organisierten Mieter dagegenhalten. Denn sie verlangen nur eine
Instandhaltung und wollen den Kiez nicht verlassen. Nach einer
Generalsanierung würde der Quadratmeterpreis auf 9,80 Euro und damit um das
Dreifache steigen.
Solche Konflikte zwischen Mietern und Vermietern sind aus vielen deutschen
Großstädten bekannt, aber in Leipzig herrschte bis vor fünf, sechs Jahren
noch ein Mietermarkt. Besonders in den verschlissenen Gründerzeitvierteln
kann man bis heute günstig wohnen. In ganz Leipzig liegen die
Durchschnittsmieten bei 5,50 Euro je Quadratmeter.
„Heruntergekommen, dreckig, ein wenig DDR-nostalgisch und erschwinglich“
beschreibt die Gruppe Prisma von der Interventionistischen Linken, einem
Zusammenschluss linksradikaler Gruppen, den ersten äußeren Eindruck von
Leipzig. Dieses „gewisse Gefühl von Freiheit“ unterscheide Leipzig von
vergleichbaren Großstädten, heißt es in ihrer Broschüre über
Gentrifizierungsprozesse in Leipzig.
Bedingt durch Deindustrialisierung und Abwanderung schrumpfte die
Bevölkerung der Stadt in den 90er Jahren um gut 100.000 Menschen. Seit dem
Jahre 2001 aber wächst die Einwohnerzahl wieder, zuletzt in
schwindelerregendem Tempo. Allein im Jahr 2015 kamen knapp 16.000 Bewohner
hinzu. Das ist in Relation zur Gesamtbevölkerung deutscher Rekord.
## Es dominiert das Wörtchen „noch“
Auch mit dem Image als Boomtown. Das gilt sowohl für die Ansiedlung von
Großunternehmen wie BMW, Porsche oder DHL an der Peripherie als auch für
das hippe Stadtklima. Ein relativ aufgeklärter Geist, Kunstfreundlichkeit,
eine intakte Innenstadt und das aus Braunkohletagebauen entstandene
„Neuseenland“ im Süden verstärken den überall spürbaren Trend zur
Urbanisierung noch.
Junge Zuzüge und eine steigende Geburtenrate ließen das Durchschnittsalter
der Stadtbevölkerung auf knapp 43 Jahre sinken. Die Wohnungsleerstände
haben sich nach Schätzungen der Stadtverwaltung auf rund 22.000 Wohnungen
fast halbiert. Dieter Rink vom Leipziger Umweltforschungszentrum weist aber
auf den hohen „nicht marktaktiven“ Leerstand hin. Unsanierte Wohnungen
also, die einfach zu kaputt sind.
Wenn Rink über den Wohnungsmarkt in Leipzig redet, dominiert das Wörtchen
„noch“. Leipzig sei noch eine der preiswertesten, aber eine der ärmsten
Großstädte Deutschlands. Der mit dem wachsenden Druck auf den Wohnungsmarkt
verbundene Umschlag erfolge langsamer als beispielsweise in Jena oder
Dresden. Ab 2010 seien Gentrifizierungsprozesse eher „inselförmig“ zu
beobachten, direkte Verdrängung mit rüden Methoden selten.
Zum Brennpunkt für Gentrifizierung wird immer mehr der Leipziger Osten.
Immobilienspekulanten haben inzwischen den international gefärbten Kiez um
die Eisenbahnstraße, in Sachsen einst als „gefährlichste Straße
Deutschlands“ verschrien, entdeckt. Die Prisma-Gruppe listet hier
verwurzelte Basiskulturprojekte wie die „Pilotenküche“ oder das „Japanis…
Haus“ auf, die bei Eigensanierungs- und Zwischennutzungsverträgen
ausgetrickst wurden und denen nun die Schließung droht.
## Stadt hat wenig eigene Flächen
Neben westdeutschen Kapitalanlegern tummeln sich auch Jörg Zochert und
Holger Krimmling, die die KSW Projektentwicklungs GmbH betreiben, in
Leipzig. Die beiden gehören zu den wenigen Ostdeutschen, die mit Immobilien
große Geschäfte gemacht haben. Ihr nächstes Großvorhaben ist der Umbau der
ehemaligen Hauptpost am Augustplatz zu einer Luxusklinik und zu einem nur
wenige hundert Meter von der Uni entfernten Appartementhaus für reiche
Studis.
Aber Leipzig wäre nicht die „Bürgerstadt“, wenn sich dagegen nicht
ungewöhnlich breiter Widerstand organisieren würde. Es gibt
„Häuservernetzungstreffen“ für bezahlbaren Wohnraum und gegen
Zwangsentmietung. Eine Initiative, in der sich auch Bolmito und ihre
Mitbewohner engagieren, nennt sich „87%“ – so hoch ist der Mieteranteil in
Leipzig. Sie organisierte im November einen mietenpolitischen Ratschlag.
„Für Einkommensschwache fehlen in Leipzig bis zu 4.500 Wohnungen jährlich�…
konstatierte Forscher Rink bei dem Treffen.
Beate Ginzel vom Amt für Wohnungsbauförderung musste einräumen, dass „die
Steuerungsmöglichkeiten der Stadt für bezahlbaren Wohnraum relativ begrenzt
sind“, weil sie zu wenige eigene Flächen besitze.
Das Ende 2015 novellierte wohnungspolitische Konzept der Stadt verwendet
viele Wendungen wie „Beratung“ und „Sensibilisierung“, bleibt aber bei
harten Fakten dünn. Der Begriff „Milieuschutz“ taucht darin nicht auf.
Immerhin will die in Leipzig regierende SPD zur Haushaltsdebatte im Februar
eine „Voruntersuchung“ für bestimmte Stadtgebiete beantragen.
5 Jan 2017
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
Gentrifizierung
Mietenbewegung
Leipzig
Wohnraum
Miete
Gentrifizierung
Schwerpunkt taz Leipzig
SPD
Gentrifizierung
Berlin
Mieten
Architektur
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne Balkongespräche: Eine Mauer in der Stadt
Leipzigs Osten gilt manchen als unsicher, anderen als weniger gentrifiziert
als der Westteil. Trennt eine Mauer die ostdeutsche Stadt? Wohl nicht mehr
lange.
Theater in Leipzig: Schöpfung für den Elfenbeinturm
„Hypezig“, „Hypezig“: Im Neuen Schauspiel startet das Theaterstück
„Gewonnene Illusionen“ und beleuchtet den Hype um Leipzig kritisch.
SPD baut Parteizentrale in Dresden: Onkel Herbert segnet Sachsens Sozis
Nach 25 Jahren Anlauf baut sich die kleine sächsische SPD eine große
Parteizentrale. In allerbester Lage unweit vom Zwinger.
Gentrifizierung in München: 34 Quadratmeter, 782 Euro kalt
Selbst für Normalverdiener wird das Wohnen in München zu teuer. Ein
Spaziergang durch das alte Arbeiterviertel Untergiesing.
Über Zwangsräumungen in Berlin: Wenn die Ertragserwartungen locken
Beinahe jeden Berliner Altmieter kann eine Kündigung treffen. Der
Stadtsoziologe Andrej Holm spricht über den „Häuserkampf von oben“.
Wie funktioniert bezahlbares Wohnen?: Freiburg für alle!
Selbstverwaltet: In Freiburg sind drei Häuser im Bau, deren Wohnungen
deutlich billiger vermietet werden als die des kommunalen Trägers.
Wohnen auf 6,4 Quadratmetern in Berlin: Das kleinste Haus der Stadt
Antwort auf steigende Mieten: Der Architekt Van Bo Le-Mentzel hat in
Berlin-Kreuzberg eine Mini-Wohnung für nur 100 Euro Miete designt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.