Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gentrifizierung in Berlin: Kein Recht auf Wohnen
> Stadtteilaktivist Thilo Broschell spricht über die Umwandlung Berlins in
> Immobilieneigentum. Und er plädiert für für ein Recht auf Wohnen.
Bild: Die Einen sagen so, die Anderen so …
Gerade die kleinen, in der Regel unscheinbaren und von den Medien nicht
wahrgenommenen Aktivitäten Einzelner sind es, die das schlingernde soziale
Boot noch halbwegs vor dem Kentern bewahren. Jedenfalls für den betroffenen
Einzelfall. Das soll nicht unter den Tisch fallen. Thilo Brosche war nach
einigem Zögern bereit, mir von seinen Erfahrungen und seiner Arbeit als
„Stadtteilaktivist“ zu berichten. Die Zurückhaltung ist berechtigt. Man
kann damit rechnen, kriminalisiert zu werden, wenn man innerhalb dieser
Gruppierungen arbeitet.
Er erzählt:„Das, was ich jetzt mache, ist verbunden mit der Initiative
Teilhabe e. V., und die ging 2002/2003 quasi aus den Anfängen der
Hartz-IV-Proteste hervor. Ziel war langfristig die Errichtung eines
unabhängigen Arbeitslosenzentrums.
Angefangen damit wurde 2004, da gab es im Stadtteilladen Lunte in Neukölln
einmal wöchentlich ein Frühstück, bei dem Erwerbslose sich treffen und
austauschen konnten, wo auch Beratungsmöglichkeiten geschaffen wurden.
Miete mussten wir nicht bezahlen, und das Frühstück wurde kofinanziert. Die
Referenten und Referentinnen wurden zwar honoriert, haben aber ihr Honorar
fast immer zurückgespendet an den Verein. Inzwischen findet das Frühstück
nur noch vierzehntägig statt. Teilweise ist es so, dass Leute, die
arbeitslos waren, inzwischen auch noch obdachlos geworden sind, also auf
der sozialen Rutsche nach unten gibt es oft kein Halten.
Die gehen dann auch in die Suppenküchen und Kältecafés, die es gibt in der
Stadt. Denen, die weiter zum Frühstück kommen, können wir zwar nicht zu
einer Wohnung verhelfen, aber wir gehen zum Beispiel mit ihnen zu
Einrichtungen, die es dafür gibt. Ein alleinstehender Hartz-IV-Bezieher,
der landet bei Obdachlosigkeit in der Regel in einem Übergangswohnheim. Es
gibt zwar ‚geschützte‘ Segmente für solche ‚Fälle‘, aber die sind ra…
Teil hat man da auch Flüchtlinge untergebracht in den ‚bezahlbaren‘,
‚billigen‘ Wohnungen, und es ist dann ja so, dass immer die eine Gruppe
gegen die andere ausgespielt wird.
## Die Isolation des Einzelnen
Ein zweites wichtiges Standbein des Vereins war, dass wir Veranstaltungen
organisiert haben zu sozialpolitischen Themen innerhalb einer ziemlich
breiten Palette. Wir haben versucht eine größere Öffentlichkeit
herzustellen, bestimmte Themen, mit denen gerade arme und ausgegrenzte
Menschen konfrontiert werden, etwa Psychiatrie, wieder ins Bewusstsein zu
rücken. Für den Großteil der linken Gruppierungen spielt das eigentlich
heute keine Rolle mehr, ebenso wenig wie Wohnungslosigkeit. Das sind
eigentlich nur noch so die Spezialthemen für Leute, die in diesem Bereich
arbeiten.
Und wir haben etwas gemacht zur öffentlichen Gesundheitsversorgung. Also es
ging uns im Prinzip immer darum, die Betroffenen einerseits umfassend zu
informieren über ihre Möglichkeiten und ihre Rechte und auch darüber, wie
sie ihre soziale Isolation überwinden könnten. Es geht immer um die
Isolation des Einzelnen, der auf sich zurückgeworfen ist und zu dem Schluss
kommen soll, er ist selber schuld an seiner Lage. Seine Misere ist seine
Privatsache. Dagegen aber muss man aufklären und neue soziale Netze
schaffen.
Und wir plädieren natürlich für ein Recht auf Wohnen. Das gibt es in
Deutschland nicht, es ist lediglich verankert im Internationalen
Menschenrecht, verlangt eine Mindestgarantie für ein menschenwürdiges
Leben, es wurde zwar von Deutschland ratifiziert, findet aber keine
Anwendung. Hier bei den vielen Wohnungslosen, Einzelpersonen und auch
Familien hätte der Staat zu handeln, und er hätte ausreichend billigen
Wohnraum bereitzustellen, um zu verhindern, dass Menschen durch stetige
Mietpreissteigerungen und Mietschulden in die Wohnungslosigkeit getrieben
werden. Es wird ja immer von bezahlbarem Wohnraum geredet. Da muss man sich
dann allerdings fragen, was ist das? Für sehr viele Leute sind inzwischen
14 Euro pro Quadratmeter ‚bezahlbar‘, für andere ist ein Quadratmeterpreis
von 5,50 Euro kalt schon fast unerschwinglich.
Und das sind inzwischen die Ausnahmewohnungen. Meist draußen in der
‚Platte‘ am Stadtrand. Und für Hartz-IV-Bezieher ist es besonders
schwierig, denn die Vermieter wollen die Mieten pünktlich, und es ist
bekannt, dass das Amt oft nicht zahlt. Also es gibt Gerichtsurteile, die,
obwohl das Amt die Miete nicht pünktlich bezahlte, beschieden haben, dass
wegen ausbleibender Miete eine fristlose Kündigung rechtens ist. Und die
Vermieter freuen sich, Hartz-IV-Bezieher wohnen in der Regel in Wohnungen,
die noch ein relativ niedriges Mietenniveau haben, wenn man diese Mieter
dann loswird, kann man bei der Neuvermietung auf jeden Fall verdoppeln,
wenn man will. Es lohnt sich also.
Und das andere Problem ist, dass die Mietobergrenzen eigentlich viel zu
gering angesetzt sind, selbst im sogenannten sozialen Wohnungsbau liegen
die Mieten ja teilweise schon über dem, was auf dem freien Markt, also bei
Bestandsmieten, bezahlt werden muss. Und das führt dann eben auch zu
Mieterprotesten und der Gründung von Initiativen. Seit 2011 gibt es zum
Beispiel die Initiative Kotti & Co der Mietergemeinschaft am südlichen
Kottbusser Tor in Kreuzberg. Die Hochhäuser am Kotti, das ist
privatisierter ehemaliger sozialer Wohnungsbau, die Sozialbindung bleibt
weiterhin wirksam! Das sind Laufzeiten von 15 bis 20 Jahren, soviel ich
weiß, in denen es auch weiterhin Subventionen gibt für den Eigentümer. In
diesen Hochhäusern wohnen sehr viele Sozialmieter. Ihre Wohnungen sind im
Besitz der ehemaligen GSW, sie heißt jetzt Deutsche Wohnen Konzern, ein
börsennotiertes Unternehmen [früher Deutsche Bank]. Der Konzern hat viele
dieser einstigen Genossenschaftswohnungen erworben und immer weitere
dazugekauft.
Das Prinzip ist ja, dass sie ihren Investoren fette Dividenden verschaffen
müssen, sonst gibt es keine guten Prognosen mehr. Das heißt: Wachstum,
Mehreinnahmen und Sparen am Aufwand. Und die liegen mit ihren Mieten jetzt
über dem, was das Amt bezahlt, wenn man Hartz-IV-bekommt. Die Mieter sparen
sich das Geld quasi vom Munde ab, kratzen es irgendwie zusammen, um die
Wohnung nicht zu verlieren, denn das sind ja nicht nur die vier Wände, das
ist das gesamte soziale Leben dort, mit dem die Leute ganz anders verbunden
sind als die Mieter in Charlottenburg oder Dahlem. Auch schon deshalb
wollen sie am Kotti wohnen bleiben und dafür kämpfen.
Und wir sind ja ausgegangen vom Verein Teilhabe und seiner Arbeit. Es
wurden die verschiedensten Veranstaltungen gemacht zu dem Thema, eine
längere Reihe zum Thema Mieten und Mietenpolitik hier in dieser Stadt. Und
wir haben immer versucht zu vernetzen, wie man aus gemeinsamen Perspektiven
eine gemeinsame politische Stärke entwickeln kann, damit sich das
politische Kräfteverhältnis so verändern lässt, dass man daran wirklich
nicht mehr vorbeigehen kann. Es ist, ja so, dass sich die SPD als die
‚Mieterpartei‘ verkauft, aber man muss realistisch sagen, dass das, was in
den letzten Jahren da verabschiedet worden ist an Gesetzen, das ist
schlicht und einfach vollkommen unzureichend und nichts anderes als
Placebo.
Es gab zwar dieses Zweckentfremdungsgesetz, aber es lässt sich gar nicht
richtig durchsetzen. Der Bezirk Neukölln etwa war zwei Jahre lang überhaupt
nicht in der Lage, dem nachzukommen, weil sie kein Personal hatten dafür.
Und so ähnlich ist es auch in anderen Bezirken. Das Gesetz ist jetzt
irgendwie noch mal ‚nachgebessert‘ worden, aber zum Beispiel dürfen
weiterhin – mit dem letzten Urteil – die Zweitwohnungsbesitzer doch
irgendwie Feriengäste haben.
## Tausende privater Ferienwohnungen
Es hat sich in der Praxis nicht viel geändert. Wenn man den Rechner
anschaltet und ‚Ferienwohnungen in Berlin‘ googelt, dann findet man bei den
großen Anbietern immer noch Tausende von privaten Ferienwohnungen im
Angebot. Es kann also wirklich keine Rede davon sein, dass das Gesetz jetzt
gegriffen hätte!
Das gilt auch für die Mietobergrenze, die sie jetzt verabschiedet haben.
Das Gesetz ist wieder mit so vielen Ausnahmegenehmigungen versehen, dass es
für die meisten Eigentümer kein Problem ist, bei Neuvermietungen dann doch
einen entsprechend höheren Mietpreis zu nehmen. Ab einem bestimmten Baujahr
fallen Wohnungen raus, modernisierte Wohnungen fallen raus – man muss ein
bisschen was chic machen mit wenig Geld, und schon kann die Wohnung zu
einem höheren Preis weitervermietet werden. Und das andere große Problem in
Berlin ist, die Stadt wächst, es gibt viel Zuzug – aber nicht wie vor der
Wende von Studenten, Künstlern usw. – jetzt kommen Besserverdienende, und
die können es sich natürlich aussuchen.
Die Politik freut sich über diesen Zuzug, sieht aber nicht, was er zur
Folge hat. Die soziale Umwandlung von ‚angesagten‘ Bezirken. Es wird zwar
immer davon geredet, dass neu gebaut werden muss, dass die Wohnungen
‚bezahlbar‘ sein sollen, aber die SPD meint damit, dass 20 bis 30 Prozent
der neu gebauten Wohnungen für 6,50 Euro pro Quadratmeter zur Verfügung
gestellt werden sollen, der Rest ist alles drüber. Selbst die städtischen
Wohnungsbaugesellschaften, die ja eigentlich diese Wohnungen vorhalten
sollen, haben immer nur ein Drittel, der Rest kann dann auf dem freien
Markt angeboten werden, bis hin zu irgendwelchen Stadtvillen, die
städtische Wohnungsbaugesellschaften bauen. Folge: akute Wohnungsnot der
einkommensschwachen Bevölkerung, weil das untere Preissegment nur sehr
unzureichend zur Verfügung gestellt wird bzw. inzwischen ganz fehlt. Keine
der Parteien hat ein Konzept für einen neuen sozialen Wohnungsbau, keines,
das diesen Namen verdienen würde.
Dieses politische Versagen trifft eben nicht mehr nur Hartz-IV-Bezieher. Es
gibt ja eine Menge Leute, die Arbeit ‚haben‘, eine Vollzeitstelle zum
Mindestlohn, und denen das Geld dann am Ende trotzdem nicht langt. Die
gerade mal etwas über dem Hartz-IV-Satz liegen. Noch schlechter geht es
denen, die nur eine halbe Stelle haben, Alleinerziehende usw., die stellen
einen großen Teil der ‚Beschäftigten‘, und denen reicht es hinten und vor…
nicht. Insgesamt ist es so, dass sich das gesamte Lohnniveau in bestimmten
Bereichen, vor allem im Dienstleistungs- und Leiharbeitsbereich, stark nach
unten orientiert und nicht nach oben. Und Alte, Kranke und Behinderte, die
fallen durch den Rost und werden abgespeist, das war'sdann!
## Deutlich sichtbare Konsequenzen
Es ist kaum zu glauben, mit welchen handwerklichen Fehlern heute solche
Gesetze zusammengezimmert werden, und das ist noch eine positive Auslegung.
Denn die ‚billigen Lohnempfänger‘ sind ja ganz im Sinne der Wirtschaft. Und
das alles hat deutlich sichtbare Konsequenzen innerhalb der Gesellschaft,
in der immer mehr Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigen
können. Besonders schlimm ist das beim Wohnen, denn das ist ja der letzte
Schutz, eine Wohnung. Und deshalb haben wir uns auch intensiv mit
Wohnungsfragen beschäftigt. den betroffenen Stadtteilen haben sich dann
verschiedene Initiativen gegründet, Mietergruppen, es gab auch einzelne
Häuser, die als Hausgemeinschaften Probleme bekamen, meist ging es um
Modernisierung, Umwandlung usw.
Als immer mehr Zwangsräumungen bekannt wurden, musste dagegen natürlich
Widerstand organisiert werden. 2012 hat sich das sehr aktive Bündnis
‚Zwangsräumung verhindern‘ gegründet. Die Vorläuferin hieß ‚Zwangsumz…
verhindern‘. Sie entstand, weil man nach der Einführung von Hartz IV im
Jahr 2005 befürchtet hatte, dass viele Leute zwangsweise umziehen müssen in
preiswertere Wohnungen.
Das war aber in der ersten Zeit, so etwa bis 2008, nicht der Fall, weil die
Ausnahmeregelungen eine Weile noch relativ kulant gehandhabt wurden. Es
änderte sich dann massiv, und es begann eine systematische Verdrängung
einkommenärmerer Schichten aus dem Innenstadtring an die Ränder. So ab 2009
war es dann nicht nur Kreuzberg, es waren auch Mitte, Tiergarten, Neukölln,
Wedding, Treptow. Prenzlauer Berg war damals fast durch, man kann schon
sagen, dass bestimmte Gegenden ‚Hartz-IV-frei‘ gemacht wurden.
## Zwangsräumung politisiert
Die Situation hatte sich rasant verschlechtert, Mietsteigerungen, härtere
Umgangsformen mit den Mietern durch Hausbesitzer, Ämter und Gerichte. Das
mündete dann 2011 in der großen unabhängigen Mieterinnen- und
Mieterdemonstration, auf der mehrere Tausend Leute gegen die vorherrschende
Politik demonstriert haben – kurz vor den Wahlen –, um mal zu zeigen, dass
Handlungsbedarf besteht. Aber der ist heute größer denn je! Und so ab 2012
kamen dann die Zwangsräumungen dazu, die von der Öffentlichkeit aber nur
wahrgenommen wurden, wenn ein Fall besonders spektakulär verlief und es in
die Medien schaffte. In dieser Situation, wie gesagt, entstand das Bündnis
Zwangsräumung verhindern, bei dem ich selbst nicht bin, wir haben aber
natürlich Kontakt.
Das Bündnis ist ein Zusammenschluss von, man kann sagen, Zwanzig- bis
Siebzigjährigen. Teils sind es Betroffene, teils politische Gruppen,
Kiez-Initiativen, Nachbarn, Arbeitslose und Arbeitende. Eine der ersten
Aufgabe war, Zwangsräumung zu politisieren und ins Bewusstsein der
Öffentlichkeit zu bringen. Und dann mussten Formen gefunden werden zur
Abwendung der jeweiligen Zwangsräumung, also es ging darum, die ganze
Palette zu nutzen, sage ich mal, mit dem Vermieter versuchen zu reden, mit
den Ämtern, Begleitung zu den Gerichtsterminen. Blockaden waren dann immer
quasi das letzte Mittel der Wahl des Widerstands. Das ist gelungen. Sie
organisieren ihn zusammen mit den Betroffenen und planen die jeweiligen
Aktionsformen, je nach Lage der Dinge.
Es ist so, dass immer öffentlich aufgerufen wird, wenn wieder Aktivitäten
zur Verhinderung von Zwangsräumungen anstehen. Und wenn es notwendig ist,
dann kommen eben auch Unterstützer, die blockieren. Ich kann mal am
Beispiel der Familie des Malermeisters Ali Gülbol erzählen, wie eine
Zwangsräumung so in etwa abläuft und wie die Gegenaktionen. Da war ich auch
dabei. Das war 2012 im September. Seine Geschichte zeigt auch sehr gut, was
das für ein tiefer Eingriff in die Existenz von Mietern ist, in ihren
Wunsch, da beheimatet zu sein und zu bleiben, wo sie leben, ein sicheres
Zuhause zu haben in ihrem vertrauten Kiez. Das alles wird zerstört. Das
Soziale ist von keiner Relevanz.
Er war damals Anfang 40, hatte Frau und drei Kinder, wohnte seit seinem
sechsten Lebensjahr mit den Eltern in einem ziemlich heruntergekommenen
Altbau in Kreuzberg in der Lausitzer Straße. Seit Ende der 90er Jahre mit
seiner Familie in einer eigenen Wohnung im selben Haus, die er auf eigene
Kosten für ein paar Tausend Mark von Grund auf sanierte. Mit dem damaligen
Besitzer war mündlich vereinbart, dass im Gegenzug dafür die Miete nicht
erhöht wird.
## Der Fall Ali Gülbol
Dieses Haus erwarb dann aber der Berliner Unternehmer André Franell 2006
bei einer Zwangsversteigerung, und der hat daraufhin die Mieten erhöht. Das
führte zu einem jahrelangen Rechtsstreit durch alle Instanzen, und Ali
Gülbol unterlag, er musste die Mieterhöhung nachzahlen für die ganze Zeit,
versäumte den Termin, bzw. er hatte nachgezahlt, aber zu spät. Er bekam
postwendend die fristlose Kündigung. Und dann war es so, dass Ali Gülbol
gesagt hat, er will nicht raus aus seiner Wohnung, freiwillig geht er
nicht. Er hat sich ans Bündnis gegen Zwangsräumung gewandt – Betroffene
haben oft das Problem, sich öffentlich zu outen, weil ja jeder denkt, sie
sind selber schuld.
Aber Ali Gülbol hat den Schritt getan. Die vom Bündnis Zwangsräumung
verhindern haben dann verschiedene Lösungsversuche gemacht. Es gab – immer
zusammen mit dem Betroffenen – Besuche bei der Firma, die das Haus
verwaltet, es gab Begleitung zu den Gerichtsverhandlungen, es gab einen
Spaziergang zum Eigentümer, es gab Demos, und als das alles wirkungslos
geblieben war und die Räumung anstand, gab es den Aufruf zur Blockade am
Termin der Zwangsräumung.
Am Anfang ist es ja so: Alle wollen, dass es möglichst ‚problemlos‘
vonstatten geht, dass der Vermieter doch noch überzeugt werden kann, die
Betroffenen da wohnen zu lassen, wenn sie etwas mehr Miete bezahlen oder
so. In diesem Fall war es so, dass der Vermieter unerbittlich war und aus
reinen Profitgründen darauf bestanden hat, dass die Familie Gülbol
zwangsgeräumt wird. Dann wird eben mobilisiert. Der Gerichtsvollzieher – in
dem Fall war es eine Gerichtsvollzieherin – meldet sich an zur
Räumungsvollstreckung, meist so drei Wochen vorher.
In dieser Zeit muss dann der Widerstand mobilisiert werden. Man muss
möglichst viele Leute finden, die sich an diesem Tag ins Treppenhaus, vor
die Wohnungstür und auf die Straße vors Haus setzen. Beim ersten Termin –
ich glaube, es war im Oktober 2012 – war zuerst der Schlosser da, der immer
mitkommt, um gegebenenfalls die Wohnungstür zu öffnen, wenn niemand
aufmacht. Dann kam die Gerichtsvollzieherin, hat aber gleich gesehen, dass
da kein Durchkommen ist. Sie hat daraufhin mit dem Schlosser den Rückzug
angetreten und den ersten Räumungstermin abgesagt.
## Großeinsatz der Berliner Polizei
Das war sozusagen eine Premiere, das war das erste Mal in Berlin, dass es
gelungen ist, eine Zwangsräumung zu verhindern. Und weil es so erfolgreich
verlief, gab es viel Zuspruch, auch die Medien berichteten wohlwollend.
Doch dann stand der zweite Räumungstermin an, Anfang Februar 2013 ungefähr.
Der verlief vollkommen anders. Da gab es einen Großeinsatz der Berliner
Polizei, der war rabiat.“ [Bei der Räumungsvollstreckung hat der
Gerichtsvollzieher den Schuldner aus dem Besitz zu setzen und den Gläubiger
in den Besitz einzuweisen. Dies kann nach Paragraf 758 III ZPO auch mit
Gewalt geschehen. Anm. G.G.]
„Die Aktivisten vom Bündnis Zwangsräumung verhindern und eine größere
Unterstützergruppe waren schon am Abend zuvor da und blieben über Nacht im
Haus. Es war vom Bündnis seit Wochen mobilisiert worden. Am nächsten
Vormittag um 9 Uhr sollte zwangsgeräumt werden. Aber die Polizeiwannen
haben sich schon um 6 versammelt, Drängelgitter wurden aufgestellt und die
Zugänge zur Lausitzer Straße gesperrt. Die Leute, die ankamen zur
solidarischen Unterstützung, kamen nicht mehr zum Haus, die haben sich dann
direkt an die Absperrungen gesetzt, um die Gerichtsvollzieherin zu
blockieren. Es kamen um die 500 Unterstützer – insgesamt waren es am Ende
Tausend Leute. Das war mehr als erwartet.
Es war ja kalt, Bewohner aus den umliegenden Häusern der Straße kamen und
haben den Blockierern Tee und Brote gebracht, viele standen auf ihren
Balkons und haben Transparente gezeigt, viele haben mit Kochlöffeln auf
Kochtöpfe geschlagen und Krach gemacht aus Protest und zur Unterstützung.
Es gab Sprechchöre. Es war eine richtig gute Atmosphäre, was das betraf. Es
war jedenfalls so laut, dass man kaum noch den Polizeihubschrauber hörte,
der unentwegt über der Lausitzer kreiste wie über einem Kriegsschauplatz.
## Die Politik handelt nicht
Zu dem Zeitpunkt war die Gerichtsvollzieherin längst im Haus. Sie war schon
früh reingeschleust worden. Das Haus und der Zugang zur Wohnung wurden zwar
rechtzeitig von vielen Leuten blockiert. Aber was die nicht wussten, war,
dass es noch einen anderen Eingang gab von einer Seitenstraße aus. Die
Polizei hat angeblich irgendwelche Türen eingetreten und Zäune
aufgeschnitten, ist dann von der Seite ins Haus eingedrungen. Sie hat die
Blockierer brutal aus dem Treppenhaus geräumt. Dann sind sie hoch und haben
die Wohnung letztlich für die Gerichtsvollzieherin zugänglich gemacht.
Die Gerichtsvollzieherin übrigens, die wurde mit einer Polizeiuniform oder
Polizeiweste und Polizeimütze ausgestattet – das haben Zeugen beobachtet
und sogar fotografiert –, und so wurde sie über Seitenstraße und
Hintereingang geleitet nach oben. Zur Wohnung. Dort hat sie dann ihre
Amtshandlung durchgeführt, sich die Wohnungsschlüssel aushändigen lassen,
die Wohnung versiegelt. Ali Gülbol und seine Familie standen vor dem
Nichts. Hätten sie nicht in die Wohnung der Eltern im selben Haus ziehen
können, wären sie obdachlos gewesen. Der Mieter ‚hat keinen Widerstand
geleistet‘, hieß es später.
Als die blockierenden Unterstützer draußen erfahren haben, dass die Räumung
längst gelaufen ist, hat sie natürlich die Wut gepackt, und das haben die
auch ausgedrückt. Also, sie hatten die Bereitschaft, diesem Unrecht auch
körperlich was entgegenzusetzen, kann man sagen. Es kam zum Einsatz von
Pfefferspray und Knüppeln durch die Polizei, mehrere Blockierer wurden
verletzt, einige festgenommen. Die Leute waren bunt gemischt, es war nicht
so, dass da vor allem die stadtbekannten Politszeneleute gewesen wären. Und
es kamen spontan vollkommen außenstehende Leute dazu, Autos, die
vorbeifuhren, haben Hupkonzerte gemacht, viele haben gerufen: ‚Richtig
so!!‘ Es war zwar eine bittere Niederlage, aber es hat dem Bündnis
Popularität verschafft, und die Medien berichteten ausführlich.
Seither gab es viele ähnliche Aktionen. Einige Zwangsräumungen konnten
verhindert werden, andere nicht. Die Politik handelt nicht oder nur durch
die Niederschlagung des Widerstands. Sie sieht zu, ohne zu handeln. Derweil
kippen die Verhältnisse in der Stadt immer mehr. Das ist ein Skandal, dass
es kein Recht auf Wohnen gibt bei uns.“
29 Nov 2016
## AUTOREN
Gabriele Goettle
## TAGS
Gentrifizierung
Wohnungsmarkt
Immobilien
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
Wohnungsnot
Mietenwahnsinn
Sozialer Wohnungsbau
Bauen
Gentrifizierung
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
Mieten
Berlin
Architektur
Gentrifizierung
Markt
Immobilienmarkt
Wohnungsbau
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wohnungsnot in Unistädten: Teures Pflaster für Studierende
In Hamburg suchen tausende Erstsemester bezahlbaren Wohnraum. Gerade
ausländische Studierende stehen lange auf den Wartelisten.
Räumungsklage vor Gericht: Eigenbedarf für einen Ahnungslosen
Eine Mieterin mahnt die Einhaltung des Mietspiegels an und erhält darauf
eine Klage auf Eigenbedarf. Ein Gerichtstermin.
Schlechte Lage bei Sozialwohnungen: 25 Quadratmeter Deutschland
Sozialer Wohnungsbau ist relativ: Was in München günstig ist, erscheint in
Berlin sauteuer. Die Suche nach einer Bleibe ist wie Lotto spielen.
Bauhaus Campus Berlin: Sind so kleine Häuschen
Beim Bauen besser klein denken – wie das gehen kann, will die Tinyhouse
University beim Bauhaus Campus Berlin zeigen.
Neue Strategien auf Immobilienmarkt: Zum Abschied keine Blumen
Immobilienkonzern Taekker will den Mietern der Lausitzer Straße 10 & 11
doch nicht entgegenkommen – sich wohl aber vom Berliner Markt zurückziehen
Mietenpolitik in Berlin: Ärger gibt's auch ohne Holm
Mit den landeseigenen Unternehmen will Rot-Rot-Grün die Mieten dämpfen.
Doch gerade deren MieterInnen erhalten jetzt reihenweise Mieterhöhungen.
Essay zur Obdachlosigkeit in Deutschland: Den Zusammenhalt verzocken
Immer mehr Menschen haben keine Wohnung. Immer mehr von ihnen sind
Akademiker. Doch die Regierung verharmlost das Problem.
Über Zwangsräumungen in Berlin: Wenn die Ertragserwartungen locken
Beinahe jeden Berliner Altmieter kann eine Kündigung treffen. Der
Stadtsoziologe Andrej Holm spricht über den „Häuserkampf von oben“.
Wohnen auf 6,4 Quadratmetern in Berlin: Das kleinste Haus der Stadt
Antwort auf steigende Mieten: Der Architekt Van Bo Le-Mentzel hat in
Berlin-Kreuzberg eine Mini-Wohnung für nur 100 Euro Miete designt.
Brand in Oakland: Wenn Gentrifizierung tötet
In einem illegalen Club sterben bei einem Brand mehr als 30 Menschen. Warum
das nicht die Schuld der Veranstalter ist.
Kommentar Teilhabegesetz: Kein Paradigmenwechsel
Das Bundesteilhabegesetz ist nur ein Reförmchen der bisherigen
Gesetzgebung. Und ein Rückschritt in Sachen Inklusion und Teilhabe.
Gesetz für Menschen mit Behinderung: Willkür statt Selbstbestimmung
Wenig Verbesserungen, mehr Unsicherheit: Das bedeutet das neue
Bundesteilhabegesetz für diejenigen, die es betrifft. Die Einzelheiten im
Überblick.
20 Jahre Ökomarkt auf dem Kollwitzplatz: „Morgens geerntet, mittags verkauft…
Seit zwei Jahrzehnten gibt es den Ökomarkt am Kollwitzplatz. Wie hat er
sich durch die Gentrifizierung in Prenzlauer Berg verändert?
Gentrifizierung und Milieuschutz: Investoren suchen neue Ziele
Zu spät, zu wirkungslos: Opposition und Mietervertreter kritisieren die
Verordnung, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen erschweren soll.
Das war die Woche in Berlin I: Wenn die SPD zum Hörer greift
Eigentlich will Michael Müller mit den landeseigenen Wohnungen gegen
Gentrifizierung vorgehen. Doch das klappt nicht immer wie gewünscht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.