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# taz.de -- Berliner Club Transmediale: Der Fluss von Sounds durch die Welt
> Das CTM Festival mit dem Fokus auf „New Geographies“ hat gezeigt, dass
> Musik gute Unterhaltung, kulturelle Kreuzung und politischer Akteur ist.
Bild: Dank Lichtinstallation fließt der Sound beim CTM Festival sehr anschauli…
Berlin taz | Popmusik ist seit jeher ein Labor für eine bessere Welt.
Jegliche Grenzen (kulturelle wie physische) sind hier längst eingerissen,
erlauben einen ungehinderten Austausch – und das vermeintlich Fremde ist
keine Bedrohung, sondern eine Chance für Neues.
Hip Hop aus Syrien, House aus Äthiopien oder angolanische Clubmusik aus
Portugal; Musikstile reisen inzwischen schrankenlos und sind überall
verfügbar. Und indem sie Gleichheit und Differenz sichtbar machen, sollte
man ihre Betrachtung gerade vor dem Hintergrund der neuen globalen
Konflikte nicht unterschätzen. Denn das Polyzentrische und Hybride, für das
sie steht, sind zwei der positiveren Symptome der Globalisierung. Doch
diese Situation erfordert auch ein neues Hören, das offen ist für die neuen
kulturellen Realitäten dieser verrückten Welt.
Dass Musik mehr als Unterhaltung ist, sondern ein Container von
Informationen, eine kulturelle Wegekreuzung, ein Provokateur der Sinne, des
Intellekts, des Körpers, ein sozialer Klebstoff, und ja, auch ein
politischer Akteur, daran erinnerte das Club Transmediale Festival mit dem
Schwerpunkt „New Geographies“.
Neue Geografien – damit waren nicht nur die unterschiedlichen, jenseits des
eurozentristischen Radars liegenden Heimatländer der Künstler gemeint,
sondern auch die Welt jenseits des Physischen. Das Digitale und der freie
Fluss von Sounds und Samples quer durch die Welt.
## „All Hail Mother Internet“
Und die ist ja heute bekanntlich vernetzter, aber auch verletzlicher als je
zuvor. Das zeigte die Ausstellung „Seismographic Sounds“ des Züricher
Netzwerks Norient, dessen begleitendes Buch (ähnlich wie das Festival
selbst) versucht, die globale Polyphonie abzubilden, ohne dabei in die
Falle rassistischer Weltmusik-Esoterik zu tappen. In Installationen, Filmen
und kurzen Texten werden Musiker und Szenen aus 50 Ländern abgebildet.
In vielen Beiträgen geht es auch um die Konflikte, die viele der
vorgestellten, in Diktaturen lebenden Musiker haben. „Veränderung kommt
immer lokal und individuell und kann die Welt zum Besseren verändern“,
heißt es in einem Interview-Auszug, der mit großen Buchstaben auf einer
Wand im Kunstquartier Bethanien steht.
Der Idealismus, der in dieser Aussage von Salome MC, einer jungen
Hip-Hop-Künstlerin aus Iran, steckt, verbindet sie mit vielen anderen, die
sich ihren Optimismus nicht von den repressiven Strukturen ihrer Länder
verbieten lassen. Ähnlich spannungsgeladen war die Solo-Performance „All
Hail Mother Internet“ zwischen Spoken Word, Live-Hörspiel und Soundkunst
der Tunesierin Deena Abdelwahed in der Werkstatt der Kulturen. Sie bestand
aus nervös stolpernden Beats, gesungenen Passagen, Noise und längeren
erzählerischen Stücken.
## Popmusik als Waffe
In einem führte sie als konservative Radiomoderatorin Dialoge mit Anrufern,
deren Stimmen sie auf ihrem Mischpult hinzuschaltete. Darunter war eine
junge Frau, die von ihren regelmäßigen Clubbesuchen berichtete, woraus ein
bissiger Dialog entstand, in dem Abdelwahed die freizügige Ausgehmoral
kritisierte. „Ich ziehe Werte jeglicher Ideologie vor“, antwortet die
Stimme. Es ist auch diese kritische Haltung, welche die Soundkünstlerin mit
den anderen Künstlern des Festivals verbindet.
Doch das, was verbindet, ist oft das, was trennt. So wird der oft
politische Hip Hop in Ägypten nach der Revolution 2011 im Zuge der sich neu
aufbauenden Diktatur im Land heute von staatlicher Seite offensiv
unterdrückt.
Im Mittleren Osten und anderen religiös geprägten Ländern sei Popmusik
daher eine Waffe, wie das Duo Fokn Bois aus Ghana auf einem Panel über den
Protestgehalt von Musik erklärte. In dem christlichen Land, in dem der
eigenen Aussage zufolge „50 Kirchen auf eine Schule“ kämen, sei Musik oft
die einzige Form, um Kritik an den Verhältnissen zu äußern.
## Trance-Rituale vs. Berghain-Ego
Von einer kulturellen Universalie erzählte die Videoinstallation „Rituals“
des französischen Filmemachers Vincent Moon. Sie zeigte unterschiedliche
Trance-Rituale, eine Sufi-Zeremonie in Äthiopien und eine Ayahuasca-Feier
in Peru. Die Bilder von tanzenden Menschen, synchronisiert von Gesängen und
Trommeln, kamen einem bekannt vor.
Schnitt ins Berghain, Freitagnacht, 5:47: Aus den Boxen tönt das historisch
geschulte House-Set der queeren Techno-Künstlerin Honey Dijon. Auf den
ersten Blick wirkten die Menschen wie in den Videos. Doch eigentlich ist
vieles anders, tragen die Tanzenden doch alle unterschiedliche Kleidung,
balancieren Flaschen in der Hand, rufen sich Unverständliches ins Ohr,
tippen in Handys, saugen weltvergessen an Zigaretten oder wirbeln mit ihren
Armen den Nebel auf, um sich, aber auch andere zu beeindrucken. Dass die
meisten nicht nur tanzen, sondern sich zusätzlich auch andere Reize
verschaffen, zeigt den Unterschied: Das Ego ist bei den meisten noch
anwesend. Was bei den Menschen in „Rituals“ weniger der Fall war.
Ein Ritual, oder besser: eine verzerrte Kopie davon sollte auch die
Performance „The Swedish Congo Record“ des schwedischen Techno-Künstlers
Peder Mannerfelt sein, die auf alten Musikaufnahmen aus dem Zentralkongo
basierte. Drei ganz in Weiß gekleidete Trommlerinnen tanzten um einen
Maschinenpark Mannerfelts herum, der seinerseits ebenfalls in schreiendem
Weiß, mit einer das Gesicht verdeckenden Perücke an den Knöpfen drehte.
## Aufwirbeln der Sinne
Die koloniale Ästhetik wirkte trotz aller beabsichtigten Austreibung des
Exotismus, also das Ergötzens am „edlen Wilden“, zynisch – und war nicht
nur visuell fragwürdig. Die Musik wurde zwar gekonnt in die Gegenwart
übersetzt, doch passierte das wie so oft, wenn afrikanische Einflüsse
herangezogen werden, auf Kosten der Rhythmik. Das Regime der geraden Bass
Drum verdeckte das zentrale Merkmal kongolesischer Musik: Polyrhythmik.
Aus vertrackten Rhythmen hingegen bestanden die Sets der US-amerikanischen
Muskerin Jlin und der portugiesischen Produzentin Nidia Minaj. Denn der
überdrehte Footwork-Sound Jlins, der in seiner komplexen Rhythmik klingt,
als spielten vier Tracks gleichzeitig, sowie der Kuduro Minaj, einer aus
Angola nach Portugal importierten Clubmusik, waren ein Angriff auf das mit
geraden Takten sozialisierte Publikum – und damit ein gutes Beispiel für
ein neues Hören. Denn da der Körper mit der stetigen Konfrontation neuer
Rhythmen nach passenden Bewegungen suchen muss, programmiert er sich neu.
Musik muss keine expliziten Texte enthalten, um politisch zu sein. Die
Macht der Popmusik besteht auch im Aufwirbeln der Sinne und in der stetigen
Neudefinition von dem, was schön ist oder nicht. Sie ist ein Labor.
Weltweit.
8 Feb 2016
## AUTOREN
Philipp Rhensius
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