| # taz.de -- Experimentelle Musik im Museum: Was heißt „Weltmusik“ heute? | |
| > Eine Ausstellung im Kunstraum Bethanien und der Reader „Seismographic | |
| > Sounds“ überfordern und beflügeln beim CTM-Festival in Berlin. | |
| Bild: Der südafrikanische Musik DJ InviZAble hebt ab. | |
| Andernorts, so schreibt es der libanesische Musiker und DJ Serge Yared, | |
| spreche man von „Less is more“, in Beirut aber müsse es „More is never | |
| enough“ heißen. Mehr ist nie genug. Mit diesem Satz erklärt Yared die | |
| hedonistische Überhitzung, den daraus entstehenden musikalischen Lärm und | |
| die angstlüsterne Alltagsatmosphäre seiner Heimatstadt. Seine Aussage ist | |
| ein paradigmatisches Statement für den tollen Reader „Seismographic Sounds. | |
| Visions of a new world“, in dem Yareds Text steht. | |
| Herausgegeben wird der Band vom Schweizer Thinktank Norient, das sich im | |
| Untertitel „Netzwerk für lokale und globale Sounds und Medienkultur“ nennt | |
| und neben einem Blog auch ein Filmfestival organisiert. Die | |
| Gleichzeitigkeit von lokalen Besonderheiten und globaler Ökonomie, | |
| eigenständigen Klangvorstellungen, westlichen Popinszenierungen und dem | |
| Beschleunigungseffekt, den das Internet mit Musik und Videoclips erzeugt, | |
| wird in vielen der etwa 200 Texte anschaulich dargestellt. | |
| Den drei Herausgebern, Theresa Beyer, Thomas Burkhalter und Hannes Liechti, | |
| gebührt Respekt für diese mehr als 500-seitige Sammlung aus meist kurzen | |
| Texten, Interviews, Fotoserien und Miniessays aus aller Welt. | |
| Parallel zur Buchveröffentlichung ist im Berliner Kunstquartier Bethanien | |
| eine gleichnamige Ausstellung zu sehen, die als Begleitschau des Festivals | |
| Club Transmediale (CTM) fungiert. Das CTM ist die wohl bedeutendste | |
| Veranstaltung für digitale und elektronische Kultur in Deutschland. | |
| ## Mehr als hundert Acts, digitale Echtzeit | |
| Noch bis zum 7. Februar sind mehr als hundert Acts an verschiedenen Orten | |
| zu sehen. Mit dem diesjährigen Festivalthema „New Geographies“, das sich | |
| den in der digitalen Ära in Echtzeit verbreitenden Sounds rund um den | |
| Globus widmet, haben die CTM-Kuratoren und die Schweizer Musikforscher | |
| ähnliche Fragestellungen an die hybride Musik der Gegenwart: Inwieweit | |
| spiegeln Pop und die Aneignung von Styles, Dresses und Codes die globalen | |
| Probleme wider, inwieweit sind sie Seismograf? Was heißt „Weltmusik“ heute? | |
| So ist Norient, eine seit 2002 in Bern ansässige Non-Profit-Organisation, | |
| auch aus Frustration über den selbstzufriedenen Markt der sogenannten World | |
| Music entstanden. „Weltmusik tut so, als sei sie traditionell, in | |
| Wirklichkeit ist sie nur überproduziert“, sagt Norient-Mitgründer, Musiker | |
| und Autor Thomas Burkhalter im Gespräch in Berlin. | |
| In der Begegnung mit Musikern in Kairo und Accra habe er gelernt, dass | |
| eigenständige Musik eben nicht „authentisch“ nach den Orten klingen muss, | |
| an denen sie entstanden ist. Die Bezeichnung „Norient“ sei ein Wortspiel, | |
| das sich nach der Lektüre von Edwards Saids berühmtem Essay „Orientalism“ | |
| ergeben habe, so Burkhalter. | |
| Für das Buch wie für die Schau haben Norient aus Tausenden Videoclips, | |
| Soundcloud-Profiles und Musikstreams von überall her Material gesammelt. | |
| Sie haben sechs Themen eruiert, die prägend für die Gegenwart sind: | |
| „Money“, „Loneliness“, „War“, „Exotica“, „Desire“ und „Be… | |
| diese Kategorien haben sie Songs und Clips eingeordnet. | |
| ## Assoziativ, fast nervös | |
| Liest man in dem Buch, so findet sich in der Sektion „Exotica“ etwa der | |
| ghanaische Rapper Fokn Bois, der die weiße Vorstellungswelt von Afrika | |
| ironisiert. Analysiert werden aber auch Stars wie der afrobelgische | |
| Elektronikproduzent Stromae und seine – bis zu 135 Millionen Mal geklickten | |
| – Reality-TV-Videoclips. Ein Bericht über die syrische Metalszene folgt auf | |
| eine Reimanalyse britischer Grime MCs. | |
| Fotos von südafrikanischen MusikerInnen stehen neben einem Interview mit | |
| der israelischen Komponistin Meira Asher. Alles ist wild | |
| durcheinandergewürfelt, als ob man durch Podcasts oder Blogs scrollt. „Die | |
| Welt klingt wirklich anders als gedacht, frisch, furios und innovativ“, | |
| sagt Burkhalter zur kaskadenhaften Zusammenstellung. | |
| Auch die Anordnung der Schau im Berliner Bethanien wirkt unlinear, | |
| assoziativ, fast nervös. In acht eher kleinen Räumen, finster und dunkel | |
| wie ein Underground-Club (nur der Rauch fehlt), sind Videos, Hörstationen, | |
| Installationen und Fotografien zu sehen und zu hören. Zu den Themenfeldern | |
| sind kleine Kinos in Holzboxen eingerichtet – in diesen Blackboxes werden | |
| YouTube-Clips mit wummerndem Sound abgespielt. | |
| „Wir haben diese Clips sehr bewusst in einen Kinokontext gesetzt“, sagt | |
| Burkhalter, „wenn du die Videos im Alltag schaust, siehst du gleich die | |
| Kommentarspalte darunter, du sharest oder likest sie – und guckst kaum mal | |
| einen Clip zu Ende. Wir glauben aber, die Musikvideos sind kinowürdig – und | |
| sie sind es wert, in voller Länge gesehen zu werden.“ | |
| ## 2.000 Videos im Zufalls-Algorithmus | |
| Während man in den Boxen angehalten ist, sich auf einen einzelnen Clip zu | |
| konzentrieren, bezweckt ein kuratorischer Eingriff im nächsten Raum das | |
| Gegenteil. Hier wird nach Zufallsprinzip aus insgesamt 2.000 Musikvideos | |
| ein fortlaufend neuer Film erstellt. Ein vom Schweizer Künstler Urs Hofer | |
| entwickelter Algorithmus wird aktiviert, wenn Besucher ihre Position im | |
| Raum verändern – dann ändert sich das Video. | |
| Sobald ein Schnitt erfolgt, wechselt es zum nächsten Clip. So wird ein | |
| stetiges Flimmern von Inszenierungen erzeugt. Die visuelle und auditive | |
| Überforderung der Gegenwart, die Bild- und Textflut (im postmodernen, | |
| Derrida’schen Sinn von, vereinfacht gesagt, „Alles ist Text“) – nirgends | |
| wird sie so fassbar wie hier. | |
| Zusätzlich zum Programm des Norient-Kollektivs hat das CTM dieses Jahr noch | |
| drei weitere Künstlerinnen und Künstler eingeladen. Die Arbeit des | |
| Mexikaners Pedro Reyes ist sicher die spektakulärste: Aus dem Material von | |
| Colts und Kalaschnikows, die beim Sprengen eines Drogenmafiarings von der | |
| Polizei beschlagnahmt wurden, hat er große, stählerne Musikinstrumente | |
| gebaut, wie Glockenspiel, Gitarre, Bass und Drums. | |
| ## Instrumente, mit denen Menschen getötet wurden | |
| Sie erinnern an die zusammengebastelten Instrumente der Einstürzenden | |
| Neubauten – nur dass diese hier ausschließlich aus Waffen bestehen (mit | |
| denen wahrscheinlich Menschen getötet wurden) und elektronisch gesteuerte, | |
| selbstspielende Instrumente sind. Der Sound, der durch dieses Orchester | |
| entsteht, ist überwältigend. Zunächst wird ein Beat des Krieges erzeugt – | |
| Maschinengewehrgeratter, Im-Gleichschritt-Marsch-Klänge –, ehe die | |
| Komposition in eine Art Clubbeat übergeht. | |
| Die Lektüre von „Seismographic Sounds“, auch die Schau, wirkt mitunter | |
| chaotisch, messy, überfordernd, aber auch atemberaubend, dreist und | |
| beflügelnd – wie die beschriebene Musik. Die Ausstellung schafft allerdings | |
| zwischendurch Inseln der Konzentration. | |
| Wenn der britische Popkritiker Simon Reynolds in seinem Buch „Retromania“ | |
| schreibt, er „glaube nicht, dass irgendeine Musik im Museum funktioniert, | |
| einem Ort der Stille und Etikette“, so kann das für die Ausstellung im | |
| Berliner Kunstraum Kreuzberg/Bethanien nicht gelten. Hier nähert sich das | |
| Museum dem Club an. Und darüber hinaus wird hier die globale Gegenwart | |
| musealisiert. | |
| 31 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
| Julian Weber | |
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