# taz.de -- Kuratoren des „Club Transmediale“: „Musik ist Transformation�… | |
> Eines der wichtigsten Festivals für elektronische Musik findet in Berlin | |
> statt. Zwei Kuratoren reden über den Austausch von Musik und | |
> künstlerischen Ideen. | |
Bild: Im Berliner Kraftwerk installiert Lichtkünstler Christopher Bauder mit M… | |
Am Freitagabend startet in Berlin „Club Transmediale“ (CTM), weltweit eines | |
der wichtigsten Festivals für elektronische Musik. Bis zum 6. Februar | |
gastieren rund 250 Musikerinnen und Musiker an zwölf verschiedenen | |
Veranstaltungsorten der Stadt, darunter das Berghain und das | |
Hebbel-Theater. Neben Konzerten gibt es Ausstellungen im Kunstraum | |
Bethanien und Podiumsgespräche, Performances und Workshops. | |
„New Geographies“ lautet das Motto der 17. Ausgabe und ihr Fokus liegt auf | |
elektronischer Musik aus der ganzen Welt. KünstlerInnen wie die Tunesierin | |
Deena Abdelwahed und der Libanese Karim Shaar spielen neben Pionieren wie | |
der kalifornischen Komponistin Pauline Oliveros und Jlin, einer jungen | |
Künstlerin aus der Chicagoer Footwork-Szene. Kuratiert wurde das Programm | |
vom künstlerischen Leiter Jan Rohlf zusammen mit einem Gastkurator, dem | |
libanesischen Musiker und DJ Rabih Beaini. | |
taz: Jan Rohlf, wie würden Sie „New Geographies“ definieren? | |
Jan Rohlf: Der Titel bezieht sich zuallererst auf die gegenwärtige | |
Musiklandschaft, denn wir gestalten ein Multimedia-Festival, für das Musik | |
zentral ist. Durch die zunehmende Globalisierung und Digitalisierung hat | |
sich das Nachdenken über Musik erweitert. In gleichem Maße, wie mehr | |
Menschen Zugang zu Informationen erhalten haben, über Soundfiles verfügen | |
und Produktionsmöglichkeiten, wurde ihnen auch die Möglichkeit gegeben, | |
Musik im Netz zirkulieren zu lassen und in die Mediensphäre einzuspeisen, | |
in der Musik heute stattfindet. Das bedeutet auch, Menschen aus abgelegenen | |
Regionen, die vor wenigen Jahren noch nicht in Kontakt mit Medien, | |
Meinungen und Märkten standen, können nun an dieser Konversation teilnehmen | |
und auf sich aufmerksam machen. | |
Führt der weltweite Internetzugang auch zu stärkerem Gleichklang? | |
Rohlf: Das kann ich nicht erkennen, denn Künstler benutzen das Internet | |
auch als Archiv und haben Zugang zu einer Fülle von Material. Im Netz | |
stecken unglaublich viel Input und Inspirationen in Hülle und Fülle. Diese | |
Stimuli wirken mal konfrontativ, mal treten sie auch in einen Dialog, mit | |
dem, was Künstler an Material bei sich zu Hause vorfinden. So entsteht ein | |
Mix aus kulturellem Background, situativem Verhalten, traditionellen | |
Elementen und der sozialpolitischen Lage, in der sich Künstler jeweils | |
befinden. Überall auf der Welt verhandeln sie globale Zirkulation und | |
Lokalität. Dadurch klingt Musik hybrider und gleichzeitig vielfältiger, in | |
ihren spezifischen Antworten auf die neuen Herausforderungen. Darunter | |
verstehen wir, dass zeitgenössische Künstler ähnliche Existenzprobleme | |
haben und diese in ihrer Musik kreativ verarbeiten. Das wiederum verstehen | |
viele Hörer, weil sie mit ähnlichen Problemen zu tun haben. Trotz aller | |
Differenzen gibt es aktuell viele Gemeinsamkeiten, die zu einem | |
Perspektivwechsel geführt haben: Die Konversation findet auf Augenhöhe | |
statt. | |
Rabih Beaini, Sie sind im Libanon aufgewachsen und leben in Berlin. Wie | |
unterscheidet sich Ihre Gegenwart von der Vergangenheit im Libanon? | |
Rabih Beaini: Meine Lebensperspektive reicht über Berlin und den Libanon | |
hinaus. Aber natürlich hat sie auch damit zu tun, wie ich aufgewachsen bin, | |
und diese beiden Perspektiven stehen in ständigem Widerstreit. Bis Mitte | |
der Neunziger lebte ich in einer Bergregion im Libanon. Vom Ende der | |
Sowjetunion habe ich dort drei Monate später erfahren. Meine Eltern hatten | |
weder Telefon noch Internet noch Fernsehen, die Zeitungen kamen erst mit | |
Verspätung. Heute dauert es keine 20 Minuten und wir kriegen durchs | |
Internet alle Breaking News. Wenn man das nun auf Musik runterbricht, haben | |
auch Leute aus der Peripherie Zugang zu den fortschrittlichsten Sounds, sie | |
lassen sich von ihnen inspirieren. Geografische oder nationale Grenzen | |
werden so aufgehoben. | |
Walter Benjamin hat mit „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen | |
Reproduzierbarkeit“ die einflussreichste Theorie über Kunst im 20. | |
Jahrhundert verfasst. Wie hat sich die Aura von Kunstwerken durch die | |
Beschleunigung im Netz verändert? | |
Rohlf: Wir sind uns heute viel stärker bewusst, dass alles, was wir machen, | |
praktische Arbeit am Objekt ist. Aber Musik als Objekt ist eine Chimäre, es | |
gibt sie gar nicht. Im Moment, in dem Musik zirkuliert, produziert, | |
angehört wird, in dem wir sozusagen „musicken“, wird Musik transformiert. | |
„Musicking“ ist ein Begriff des neuseeländischen Wissenschaftlers | |
Christopher Small, der damit gezeigt hat, dass Musik niemals endgültig in | |
eine Form gegossen ist. Aber was ist Musik in einem File dann? | |
Rohlf: Sie hat mit dem Austausch von Informationen und Files zu tun. | |
Musikmachen ist in einem Beziehungsgeflecht, sie aktualisiert sich ständig | |
und wird nonstop produziert. Und sie ist Kommunikation unterschiedlichster | |
Menschen. Dieses Beziehungsgeflecht von Künstlern und Material lässt auch | |
die Hörer an ihrer transkulturellen Existenz teilhaben. Man kann nicht mehr | |
sagen, dass es nur ein Aufeinandertreffen unterschiedlichster Beteiligter | |
ist, die von der Praxis nicht weiter berührt werden. Musik ist | |
Transformation. Es gibt keine Quelle, kein Original, nichts, auf was wir | |
uns beziehen können. Das ist auch eine „Neue Geografie“, weil wir Musik nun | |
als seismografischen kulturellen Sound wahrnehmen, in ihm werden einzelne | |
Klanglemente weit deutlicher hörbar und in einem weit früheren Stadium | |
seiner Entstehung. Und das wiederum lässt Rückschlüsse auf Gesellschaften | |
und Kultur als Ganzes zu. So stellt sich etwa die Frage, ob Musik überhaupt | |
noch private Praxis ist: Manche hören zu Hause hybriden Pop und gehen dann | |
die AfD oder den Front National wählen. Es gibt also viel Ungereimtheiten | |
und Widersprüche, denn manche Hörer deklarieren kulturelle Konsumtion als | |
Privatangelenheit, die nichts mit ihrer politischen Orientierung zu tun | |
hat. Daher wollen wir mit CTM auch ein Bewusstsein schaffen dafür, dass | |
diese Unterteilung nicht existiert. | |
Beaini: Man kann Musik gar nicht mehr vom Alltag trennen. Ihre Bemerkung | |
von der Bedeutung von Benjamins Theorie im Internetzeitalter hat ja durch | |
das Auftauchen von Popkultur eine ganze andere Beschleunigung erfahren: | |
Denn was ist Pop anderes als die Vervielfältigung von Kunstwerken, um damit | |
größtmögliche Auflagen und Reichweiten zu erzielen? Das beruht auch auf | |
Andy Warhols Ideen, diese haben auf die Praxis beim Musikmachen weltweit | |
abgestrahlt. Musik aus den abgelegensten Weltregionen strebt heute danach, | |
aus ihrem Umfeld hinaus möglichst viele Hörer anderswo zu erreichen. Und da | |
ist es unvermeidlich, dass sie währenddessen transformiert wird. | |
Anstelle der alten Kulturindustrie sind durch das Internet neue, mächtige | |
Gatekeeper am Geschäft mit Musik beteiligt. In Ghana etwa gibt es kaum noch | |
Plattenfirmen: Talente werden gehört, wenn sie Werbe-Botschafter von | |
Handyanbietern werden. | |
Rohlf: Wenn Telefongesellschaften zu Gatekeepern werden, ist das | |
bedenklich. Auch wenn manche Künstler davon profitieren, so hat das | |
Einfluss auf die Entstehung von Musik und welche Person sie repräsentieren | |
kann. Denn die Künstler dürfen mit ihrem Image keinesfalls die Marke | |
beschädigen. Wichtig ist, dass es auch in Ghana alternative Kanäle gibt, | |
auch wenn sie weniger Reichweite haben als die Telefongesellschaften. Die | |
Tauschbörsen abseits der großen Netzwerke sind in der Tat wichtig, um zu | |
kommunizieren und Musik zu schicken. Aber die Mediensphäre ist nicht alles. | |
Es braucht Auftrittsmöglichkeiten, direkten Austausch mit dem Publikum und | |
einen gültigen Pass, um zu reisen. Es braucht eine große Portion | |
Optimismus, sonst können wir alles sein lassen. Schauen Sie sich die | |
neueste Oxfam-Studie an. Sie besagt, 62 Menschen besitzen so viel Geld wie | |
die Hälfte der Weltbevölkerung. Wenn wir dieses Ungleichgewicht nicht | |
ändern, ist unser musikalisches Engagement sinnlos. | |
Beaini: Über Optimismus und Selbsttäuschung habe ich viel gelernt, als ich | |
nach Indonesien gereist bin, um Konzerte zu spielen. Man erklärte mir dort, | |
Kunst sei schön und gut, aber keine Notwendigkeit. Egal wie viel Energie | |
wir im Westen der Musik widmen, wie viel wir mit dem syrischen | |
Qanun-Musiker gemeinsam haben, den wir zur CTM eingeladen haben und der | |
trotz Vermittlung des Goethe-Instituts nicht einreisen durfte, weil er als | |
syrischer Flüchtling eingestuft wurde. Es war für die deutschen Behörden | |
offensichtlich keine Notwendigkeit, dass er in Berlin spielt. | |
Auch CTM braucht Sponsoren, Finanzhilfen von staatlichen | |
Kulturinstitutionen und ausländischen Botschaften. Was bedeutet das für die | |
Credibility Ihres Festivals? | |
Rohlf: Unsere Planung beruht seit jeher auf einer ökonomischen | |
Mischkalkulation. In der Tat beziehen wir kulturelle Fördergelder, erzielen | |
Einkünfte aus Ticketverkäufen, haben Sponsoren aus der Wirtschaft, die aber | |
im Hintergrund bleiben. Wir bemühen uns, dass ihre Präsenz den | |
Programmablauf nicht behindert. | |
Elektronischer Musik eilt nach wie vor der Ruf des Futuristischen voraus, | |
gleichwohl wird sie in der medialen Wahrnehmung von Männern dominiert. Auch | |
dieses Jahr präsentieren Sie Künstlerinnen und talentierte Produzentinnen. | |
Wie schätzen Sie denn die Geschlechtergerechtigkeit von elektronischer | |
Musik ein, wäre es da nicht auch Zeit für „Neue Geografien“? | |
Rohlf: Alle, die die herrschende Geschlechterordnung aufbrechen, genießen | |
unsere besondere Aufmerksamkeit. Künstlerinnen sind für uns besonders | |
wichtig,Frauen wurde lange Zeit der Zugang zur elektronischen Musik und zu | |
experimentellen Stilen erschwert. Das Nachdenken darüber hat nun immerhin | |
begonnen, und auch wir haben darauf reagiert. Es ist unerlässlich, das wir | |
hier alle gemeinsam Veränderungen erreichen. „Neue Geografien“ meint nicht | |
nur geophysikalische Gegebenheiten, sondern adressiert generell Konzepte | |
und Strukturen, die Möglichkeitend es persönlichen Ausdrucks und des | |
Wir-Selbst-Seins beschneiden. Auch deshalb spielen queere Positionen und | |
Trans-Künstler*innen wie Tara Transitory aka One Man Nation ein wichtige | |
Rolle. | |
29 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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