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# taz.de -- Festival Club Transmediale Berlin: Das ferne Beben der Utopie
> Viel Platz für diverse Rezeptionsweisen elektronischer Musik und eine
> Würdigung der russischen Avantgarde. Eindrücke vom 15. CTM-Festival
> Berlin.
Bild: Prähistorische Musikinstrumente der russischen Musikavantgarde: Zu sehen…
Verharren statt tanzen, Leitmotiv des am Sonntag zu Ende gegangenen 15.
CTM-Festivals in Berlin, einem der wichtigen Festivals für experimentelle
Clubmusik. Nicht nur weil das Booking Schneisen in die homogene
Clublandschaft schlägt, sondern auch weil es den unterschiedlichen
Rezeptionsweisen von Musik viel Platz einräumt. Wie etwa im HAU2, wo die
ganze Woche über akustische Parallelwelten zwischen Noise, Ambient und Free
Jazz hörbar wurden.
So saßen Besucher bei der Performance des französischen Komponisten Kassel
Jaeger bei trübem Licht auf dem Boden inmitten kreisförmig angeordneter
Boxen, während die Künstler ihre Instrumente von der Bühne aus bedienten.
Die Auflösung von innen und außen in Verbindung mit der Dunkelheit führte
dazu, dass man sich selbst als Teil des Klangs wahrnahm. Unter dem
abstrakten Grundrauschen versteckten sich Klänge, die vertraut schienen,
aber dennoch fremd blieben.
Ein tiefes Grollen erinnerte an ein fernes Beben, während das sich bis zur
Schmerzgrenze hochschraubende Prasseln dazu führte, dass man ständig
zwischen tranceartiger Versenkung und körperlicher Anspannung wechselte.
Die düstere Atmosphäre wurde von aufblitzenden Tonfragmenten konterkariert.
Der US-Elektronik-Pionier Charles Cohen spielte mit seinem modularen
Synthesizer ein beeindruckend improvisiertes Konzert, das in seiner wilden
Rhythmik an Free Jazz erinnerte. Generell wurden diesmal eindeutige,
tanzbare Rhythmen vermieden. Nicht nur auf den Konzerten, auch in den
beiden Clubs Berghain und Stattbad Wedding lag der Schwerpunkt auf
beatlosem Sound. So zeigte das US-Duo Metasplice im Berghain, wie
detailliert die Abstufungen von Dunkelheit sein können, wenn sie nicht mit
geraden Beats unterlegt sind. Auch hier changierten die Klänge zwischen
Abstraktion und Alltagsnähe.
## Komponieren mit Alltagsgeräuschen
Ein Merkmal, das bereits vor 100 Jahren in der russischen Avantgarde
etabliert wurde. Das Rahmenprogramm des Festivals knüpft mit der
Ausstellung „Generation Z: ReNoise“ an die musikalische Avantgarde
Russlands vor und nach dem Ersten Weltkrieg an, in der man nicht mehr nur
mit Tönen, sondern auch mit Alltagsgeräuschen komponierte
Hierzu sind im Künstlerhaus Bethanien seltene Geräuschinstrumente zu sehen,
darunter eine riesige Basstrommel, deren Klangvermögen einer
Techno-Bassdrum von heute in nichts nachsteht. Nicht nur klanglich sind die
Instrumente interessant. Es sind Artefakte einer vergessenen
Kulturgeschichte. Relikte einer Ära, in der Musiker und Wissenschaftler an
einer neuen, visionären Musik forschten und damit den kulturellen Aufbruch
nach der Oktoberrevolution 1917 prägten.
## Geschichtsschreibung als Machtinstrument
Ein Aufbruch, der spätestens unter Stalin zerstört wurde, viele Musiker
wurden in den Säuberungswellen ermordet. Wie viel gesellschaftsverändernde
Sprengkraft das Regime der Avantgarde zuschrieb, lässt sich im
Ausstellungsraum „Destruction of Utopia“ anschauen. Selbst auf berühmte
Komponisten wie Schostakowitsch wurde politischer Druck ausgeübt. In einer
Resolution des ZK der KPdSU 1948 wurden ihre Werke als „musikalische
Folter“ bezeichnet.
Hier setzt das mit „Discontinuity“ betitelte Festivalmotto an, das am
Beispiel der abgesägten Zweige des musikalischen Familienbaums
verdeutlicht, dass Geschichtsschreibung immer auch ein Machtinstrument ist.
Während die Kunst jener Zeit, etwa Malewitschs Schwarzes Quadrat,
weltberühmt ist, fristet die sowjetische Elektronik-Avantgarde bis heute
ein Schattendasein.
Dieser Faden aus musikalischem Pioniergeist und dem Glauben an eine Kunst,
die eine Gesellschaft nicht nur unterhält, sondern auch widerspiegelt,
wurde beim CTM-Festival sichtbar. Nicht nur die Drones von Mark Bain
ähnelten den Geräuschexperimenten der russischen Avantgarde. Auch der große
Besucherandrang beweist, dass ein Bedürfnis nach düsterer und entrückter
Musik besteht. So wird Diskontinuität zu Kontinuität.
3 Feb 2014
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Abschlussbericht
Elektronik
Transmediale
Musik
Transmediale
Berlin
Pudelclub
Berlin
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