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# taz.de -- CTM-Festival in Berlin: Sounds und Kontrolle
> Erfahrungen in Bezug auf Lautstärke und Bässe: Bei dem Musikfestival gab
> es eine Woche lang Klanglandschaften unterschiedlichster Art zu
> entdecken.
Bild: Dreampop ist ihr Ding: Lucrecia Dalt.
History repeats itself: „Ist das Absicht?“, fragt die junge Frau auf der
Ausstellung „UnTune“ des CTM-Festivals mit schmerzverzerrtem Gesicht. Die
historische Parallele ist eklatant.
1986 hatte eine Putzfrau auf einer Joseph-Beuys-Ausstellung im Angesicht
der einer realen Verschmutzung nicht unähnlichen „Fettecke“ die inzwischen
zum Running Gag avancierte Frage „Ist das Kunst oder kann das weg?“
gestellt – und sie kurz darauf weggewischt.
Dass die CTM-Ausstellung im Berliner Kunstraum Bethanien ausschließlich aus
Soundinstallationen besteht und die sich ins Gehör schneidende Sirene zur
Installation „Should I Stay or Should I Go“ des mexikanischen Künstlers
Mario de Vega gehört, hat der Besucherin wohl niemand gesagt.
Doch ihre Frage war berechtigt. Denn sie verweist auf die Kluft im
Verständnis von gegenwärtiger Kunst. Während die Verfremdung der
natürlich-sichtbaren Welt in der modernen Malerei heute ein
Millionenpublikum anzieht, fristet die Klangkunst, die ja auch nichts
anderes ist als eine Abstraktion von „natürlichen“ Tönen, seit jeher ein
Nischendasein.
## Algorithmus-Alarm
Obwohl Klänge und Musik in all ihrer Unmittelbarkeit jeden Menschen,
unabhängig von der Bildung oder Sozialisation, auf gleiche Weise
ansprechen, faszinieren, überwältigen, rühren oder, im Fall der Besucherin,
erschrecken können.
Die Installation von de Vega im Bethanien etwa besteht aus einer
Alarmsirene, deren Auslösung von einem an die Öffnungszeiten gekoppelten
Algorithmus abhängt. Da niemand weiß, wann sie losschmettert, wird hier das
Machtpotenzial von Sound als Kontrollinstanz hinterfragt.
Es sind solche Fragen nach den affektiven Wirkungen von Sound und Musik,
die in diesem Jahr im Fokus des Festivals standen. In ästhetischer Hinsicht
kommt dieses oft implizite Wissen heute vor allem in der Dancefloor-Musik
zur Anwendung: etwa in Form tiefer, die Magengrube erschütternder Subbässe
im Dubstep oder den psychoakustischen Tricks in experimenteller
Drone-Musik.
Letztere konnte man auf den Konzerten im HAU und HKW erleben. Im Stück
„Perception“, einer Kollaboration zwischen dem Soundkünstler Pierce
Warnecke und dem in Montreal lebenden Videokünstler Matthew Biederman, bei
der abstrakte geometrische Formen auf zwei Leinwände projiziert wurden,
wurden die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung ausgelotet.
## Drone-Musik
„Es geht um das Zusammenspiel von visuellen und akustischen Tricks und wie
sie durch ihre unnatürliche Räumlichkeit die Sinne verwirren können“,
erklärte Biederman im Anschluss. Konventioneller, aber nicht weniger
intensiv war die Performance der kolumbianischen Künstlerin Lucrecia Dalt.
Mit ihrer Mischung aus elegischem Dreampop und abstrakten
Klanglandschaften, die sie ihren selbst gebauten Effekten entlockte,
pendelte sie virtuos zwischen Popsong und Soundinstallation.
Wie sich die Affekte von Sound bis zur Extreme steigern lassen, zeigten
dann die Konzerte im Berghain, etwa die beeindruckende Show der stets mit
amorph-unheimlicher Maske auftretenden britischen Industrial-Techno
Musikerin Gazelle Twin oder des mit „Sirens“ ziemlich passend betitelten
Konzerts des Londoner Produzenten The Bug. Der Club war auch der Ort, an
dem sich das Festivalpublikum nach all den kognitiv fordernden „Lectures“
und „Hack Labs“ sichtlich erleichtert seiner hedonistischen Seite widmete.
Kurz vor The Bug die üblichen Szenen: eine Gruppe schwarz gekleideter
Italiener, die sich lauthals über die Vorzüge analoger Musikgeräte
unterhalten und eine das Geschehen mit dem i-Phone filmende Japanerin,
deren engagiert brennender Zigarillo die Netzhaut des Autors problemlos
verätzt hätte, wenn dieser nicht einen Schritt nach vorne gegangen wäre, um
den Platz einer Tänzerin einzunehmen, die aufgrund zu hohen Ketamin-Konsums
zu kollabieren drohte.
Doch schon die ersten Sekunden ließen das alles vergessen. Wie sehr die
Drones des Briten zwischen Schönheit und Destruktion den Körper zum
Vibrieren brachten, ließ sich einen Tag später auf Facebook nachlesen, wo
The Bug genüsslich den Kommentar eines Besuchers repos-tete.
„Das war wohl die extremste Erfahrung, die ich je in Bezug auf Lautstärke
und Bässe gemacht habe – bevor ich dann den Raum aufgrund von
Schweißausbrüchen und Kreislaufproblemen verlassen musste.“ Lieber Herr
Bug, war das Absicht?
5 Feb 2015
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Joseph Beuys
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