# taz.de -- Clubmusik-Festival in Utrecht: Sharing is Caring | |
> Das Stekker-Festival in Utrecht bringt Protagonisten der internationalen | |
> elektronischen Musikszene für eine Werkstattwoche zusammen. | |
Bild: Aus der Werkstatt auf die Bühne im Stadtpark: Stekker Festival 2015 mit … | |
Utrecht taz | Imbisse sind Stereoskope einer Stadt. Besonders nachts, wie | |
im „Hapsalon“ in der Nähe des Utrechter Hauptbahnhofs. Dort macht die | |
gleißende Neonröhre alle Menschen gleich: Zwei Studenten kauern über | |
Kebabs, ein Taxifahrer diskutiert mit dem Koch, und der bestens gelaunte | |
Verkäufer scherzt mit zwei taubstummen jungen Frauen, die auf ihre | |
Sandwiches warten. | |
Auch das kulinarische Angebot für Vegetarier ist down to earth – wenn auch | |
radikal, denn es geht weit über die hollandtypischen Verrücktheiten wie | |
Bratwurst aus dem Automaten oder Mayonnaise auf der Pizza hinaus: Kapsalon, | |
das ist eine Kombination aus zerbröseltem Falafel, Pommes und Eisbergsalat, | |
die in einer Alu-Box aufeinandergeschichtet und mit Schmelzkäse überbacken | |
wird, um in einem Ozean aus Chili- und Knoblauchsauce ertränkt zu werden. | |
Am nächsten Tag ist klar, auch in Utrecht herrscht reger | |
Alltagsliberalismus. Es scheint, als hänge in der Universitätsstadt mit | |
340.000 Einwohnern alles mit allem zusammen: Die dem Dauerregen trotzende | |
Lebensfreude, die für eine Großstadt ungewöhnlich gute Luft, eine | |
durchdesignte Gemütlichkeit, die sich selbstbewusst im öffentlichen Raum | |
bewegenden Menschen mit Behinderung und vor allem: Utrechts verspielte | |
Architektur. | |
Das Tivoli etwa, ein protziges Kulturzentrum, wirkt mit seinem schrägen | |
Dach wie aus überdimensionalen Playmobilklötzen gebaut. Das alte Tivoli im | |
Süden der Stadt hingegen, genannt „Kytopia“, ist heruntergekommen. Bis | |
Mitte der zehner Jahre war es die zentrale Musiklocation. | |
Inzwischen sind hier Studios untergebracht – es gilt als Mekka für | |
elektronische MusikerInnen. Seit zwei Jahren steigt hier das | |
Stekker-Festival, ein weltweit einzigartiges Projekt: Jeweils für eine | |
Woche im August kommen KünstlerInnen aus unterschiedlichsten Bereichen der | |
elektronischen Musik zusammen, um in dem verwinkelten Studiokomplex auf | |
drei Etagen zu musizieren. | |
## Alte Geräte von Ebay | |
Am Samstag findet dann im Utrechter Stadtpark das eigentliche Festival | |
statt: Auf drei Bühnen spielen die eingeladenen Künstler zusammen mit | |
lokalen DJs ihr im Tivoli komponiertes Material. Dieses Jahr sind mit der | |
britischen Produzentin Shanti Celeste und dem in Berlin lebenden Londoner | |
Call Super Protagonisten von breakbeat-freudigem Techno eingeladen. | |
Aber auch Künstler wie Matt Didemus vom legendären kanadischen House-Duo | |
Junior Boys, der holländische Techno-Pionier Steve Rachmad, der | |
Toningenieur Sie Medway-Smith, der etwa Aufnahmen von Massive Attack | |
produziert hat. | |
Das „Kytopia“ ist nicht ohne Grund der zentrale Ort für die Studiosessions. | |
Denn hier ist „Sonar Traffic“ untergebracht, ein von Allert Aalders und Ben | |
Spaander gegründetes Unternehmen für seltene Synthesizer. Eine steile | |
Treppe führt zum Dachgeschoss. Dort ist auf engstem Raum ein Gerätepark mit | |
über 100 Synthesizern stationiert. | |
Es ist so was wie der technische und soziale Umschlagplatz der Sessions. | |
Steve Rachmad diskutiert mit dem schottischen Technoproduzenten Alex Smoke | |
über die Vorzüge der digitalen Musikausübung. Im Hintergrund zischen die | |
ersten Bierdosen, ein alter Modular-Synthesizer blinkt nervös herum. | |
„Zunächst haben wir alte Geräte auf Ebay gekauft“, sagt Aalders, der viele | |
Jahre als Tontechniker mit Marco Haas aka T.Raumschmiere getourt ist. Mit | |
verschmitztem Lächeln deutet er auf einen DX7-Synthesizer der Marke Yamaha, | |
der für seinen warmen Klang geschätzt wird. | |
## Jenseits der Konvention | |
Ein Musiker schnellt die Treppe hoch. Ob er sich mal den Moog ausleihen | |
könne? „Na klar, er gehört dir“, sagt Aalders. Die Atmosphäre wirkt | |
familiär. Alles gehört allen. Könnte sie so aussehen, eine Sharing-Kultur, | |
in der alle einander vertrauen und Besitz etwas Kollektives ist? Geurt | |
Kersjes alias Pitto, einer der berühmtesten Produzenten der Niederlande, | |
würde sicher zustimmen. | |
Die Idee des Festivals geht auf ihn zurück, genauer gesagt auf ein Gespräch | |
mit seinem Kumpel Matt von den Junior Boys, mit denen er vor vier Jahren in | |
Utrecht aufgetreten ist. Sie wollten Musikern die Möglichkeit geben, zu | |
experimentieren, jenseits von Konventionen und Deadlines. Einzige Auflage | |
ist, für kleine Gage zu spielen. Das Tolle hier sei, dass es keine | |
Ego-Allüren gebe, erklärt der Mittdreißiger. | |
Seine dunkelblauen Augenringe erzählen von einer betriebsamen Woche. „Jeder | |
spricht mit jedem. Sie Medway-Smith hat schon mit Stars wie Björk | |
gearbeitet, aber er ist die entspannteste Person hier.“ Wie wichtig das | |
Soziale, die Psychologie hinter der Technologie ist, weiß Kersjes als | |
erfahrener Produzent nur allzu gut. Er arbeitet inzwischen oft im | |
Live-Kontext mit MusikerInnen. | |
Die Gäste wählt er nicht nur nach musikalischen Gesichtspunkten aus, auch | |
Persönlichkeiten spielten eine Rolle. Für ihn seien der rege Austausch, das | |
soziale Miteinander das Beste an „Stekker“. Kein Wunder, ist doch die | |
Komposition elektronischer Musik oft eine einsame Angelegenheit am | |
Bildschirm. Die Sessions sind eine temporäre Auszeit dieser Vereinzelung. | |
Für manche ist es nicht nur die intensivste musikalische Woche des Jahres, | |
sondern auch ein Urlaub. Dehlia de France, Sängerin der Leipziger Band | |
Pentatones, tritt nicht auf, ist aber in den Studios zur Orientierung | |
unterwegs. „Es wirkt wie ein großer Spielplatz und ist sehr inspirierend, | |
zu schauen, was an Geräten und Konsolen so passiert.“ | |
Später am Abend nickt Haas in einem der großzügigen Räume rhythmisch mit | |
dem Kopf. Er steht neben dem in Berlin lebenden kanadischen | |
Dub-Techno-Musiker Scott Monteith alias Deadbeat, der seinerseits | |
schelmisch grinsend am Mischpult dreht, um den Klang einer Bassdrum zu | |
optimieren. | |
## Neues Set, alte Geräte | |
Ihr Ziel ist es, ein neues Live-Set zu erstellen. Loops und Samples, also | |
Melodie- und Soundschnipsel, stammen allesamt von den alten analogen | |
Geräten aus dem Dachgeschoss, die sie sich selbst nicht leisten könnten. | |
Eingeweihte bekommen am Freitagabend einige der Maschinen in der ehemaligen | |
Konzerthalle des „Kytopia“ im Rahmen der Reihe „Modulation!“ zu hören.… | |
die Sounds wollen nicht zünden – oder können nicht. | |
Das vorwiegend männliche Publikum steht wie menschgewordene Fragezeichen | |
herum und starrt lieber auf all die blinkenden Dinger, als zu tanzen. | |
Weniger nerdig geht es am Samstag auf dem Festival im idyllischen | |
Voorveldse-Park zu – eine Feier der Kontraste: | |
Hippe StudentInnen aus Amsterdam tanzen neben Vorstädtern in | |
Bizeps-betonten Achselshirts. Ein bärtiger Barista entlockt seiner | |
verchromten Maschine perfekten Espresso auf einer zertrampelt matschigen | |
Wiese. Offene Plastik-Pissoirs stehen zwischen Bäumen, die mit | |
ausgebreiteten Armen verträumt im Wind wehen. Fast 4.000 Menschen sind | |
gekommen- und alle bleiben friedlich. Keine aufdringlichen Betrunkenen, | |
selbst Drogen sind rar. | |
Dennoch ist die Euphorie groß, als um 22 Uhr T.Raumschmiere und Deadbeat | |
die Hauptbühne betreten. Dass sie noch nie zusammen performt haben, merkt | |
man ihrem Auftritt nicht an. Während der Berliner das aufgedrehte | |
Rock-’n’-Roll-Animal am Effektgerät mimt, bleibt der Kanadier cool und | |
loopt zünftige Technobeats mit entschleunigten Basslines. Nicht nur für sie | |
scheint das Konzept „Stekker“ aufzugehen. | |
Zum Abschied gibt es Standing Ovations, die man gern zurückgeben würde. An | |
die Festivalmacher, aber auch an die Tanzenden und vor allem die Stadt | |
Utrecht selbst. Denn ihre Bewohner, so scheint es, vertreten auch ohne | |
größere Techno-Szene die universellen Werte der Clubkultur: Respekt, | |
Toleranz, Freundlichkeit, Offenheit und die Lust am Leben. In Utrecht hängt | |
alles mit allem zusammen. | |
22 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
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