| # taz.de -- Porträt New Yorker Techno-Mogul: Zirkus Morelli | |
| > Beim heute startenden Elektronik-Festival „Berlin Atonal“ kommt ein | |
| > Wüterich an die Plattenteller: über Ron Morelli und sein Label L.I.E.S. | |
| Bild: Der Pate beim Bier: Ron Morelli, ausnahmsweise gut gelaunt | |
| Jeder Zeitgeist hat seine eigenen musikalischen Heilsversprechen. Soul war | |
| eine Flucht aus der Gefühlskälte in die liebestolle Innerlichkeit, Punk ein | |
| Mittelfinger auf die bourgeoise Selbstgerechtigkeit der | |
| Wirtschaftswundergeneration und Techno, das war der kollektive Gegenentwurf | |
| auf die Vereinzelungstendenzen einer getriebenen Gesellschaft. | |
| Heute existieren sie alle nebeneinander, sowohl die Musikstile als auch die | |
| Probleme, gegen die sie ankämpfen. Deshalb, ließe sich annehmen, sind es | |
| keine geschlossenen Subkulturen mehr, die in der Lage sind, das Jetzt | |
| angemessen zu reflektieren, sondern einzelne Musiklabels. | |
| Ein gutes Beispiel ist das New Yorker Elektronik-Label L.I.E.S und ihr | |
| Gründer, der Produzent und DJ Ron Morelli, einer der Zugpferde beim heute | |
| beginnenden Festival „Berlin Atonal“. In einem Interview sagte er mal: „I… | |
| lebe nach einem simplen Prinzip: Behandle die anderen so, wie du selbst | |
| behandelt werden willst. Aber alles, was ich sehe, ist mangelnder Respekt | |
| auf einem einfachen menschlichen Level. Ich bin abgestoßen von der | |
| Menschheit.“ | |
| Die Aussage könnte auch die Musik seines Labels charakterisieren, auf dem | |
| er rumpligen Techno und House in allen Spielarten und Tempi, aber auch | |
| Noise und Breakbeat scheinbar wild durcheinandergewürfelt veröffentlicht. | |
| Die Schnittmenge besteht in einer Düsternis, die ein charakteristisches | |
| Gefühl artikuliert: das Ausgesetztsein des modernen Ichs in einer Welt mit | |
| politisch verursachten und medial wiedergekäuten Dauerkrisen und der | |
| stetigen Überforderung von der Nonstop-Vernetzung. | |
| ## Was hat ihn bloß ruiniert? | |
| Das Internet, so Morelli, habe seine Hörgewohnheiten ruiniert. Früher, noch | |
| in den Neunzigern, habe er ein Public-Enemy-Album zwei Jahre am Stück | |
| gehört. Heute skippe er sich nur noch durch eine irre Menge an Tracks. | |
| Ungeduld lässt sich auch aus Morellis eigener Musik heraushören. Statt | |
| monatelang an spezifischen Sounds zu schleifen, schätzt er Unmittelbarkeit. | |
| Die eruptiven Momente, die Ergriffenheit beim Spiel mit den Maschinen – und | |
| die Emotionen, die dabei entstehen. | |
| Fast alle seiner Stücke folgen keiner typischen Techno-Route. Wenn ein Beat | |
| da ist – besteht er höchstens aus rhythmischen Fragmenten, die sich durch | |
| eine löchrige Klangwand mit einem stetigen Grundrauschen und | |
| Fieldrecordings, die an Baustellen erinnern, kämpfen. | |
| Während sein Debütalbum „Spit“ im wahrsten Sinne des Wortes ausgespuckt | |
| wirkte – wie ein zähes Kaugummi – ist „A Gathering Together“ von 2015, | |
| das auf dem Londoner Label Hospital Productions erschien, ein mäßig | |
| gelauntes Monster aus domestiziertem Noise und viel Bass. In seinen besten | |
| Momenten erzeugt Morellis Sound verführerische Angstlust. | |
| Mindestens genauso polarisierend wie seine Musik sind die DJ-Sets des | |
| Enddreißigers, mit denen der New Yorker auch mal Tanzflächen leert, anstatt | |
| sich den hedonistischen Imperativen der Nacht anzubiedern. Das jedoch, soll | |
| hier gesagt sein, liegt sicher nicht an seiner Misanthropie, sondern eher | |
| an der Leidenschaft für verschiedenste Klänge, die gelegentlich nur | |
| entfernt dem Club-Kanon entsprechen und die er auf seinem Label auslebt. | |
| ## Horror-House | |
| Ob der tribalistische Experimental-Techno von Svengalisghost oder der | |
| unheimliche, von verspukten Sprachfetzen gespickte Horror-House des | |
| Chicagoer Produzenten Beau Wanzer – fast alle der inzwischen 89 | |
| veröffentlichten Platten auf L.I.E.S. eint eine unmissverständliche | |
| Haltung: Sie haben Lust, Konventionen zu brechen. Hier zeigen sich auch die | |
| kulturellen Wurzeln Morellis, der in den neunziger Jahren in der | |
| Hardcore-Punk-Szene zu Hause war, bevor er begann, im „A1“, dem | |
| berühmtesten Plattenladen Brooklyns, zu arbeiten. Dort entdeckte er nicht | |
| nur Clubmusik für sich, sondern auch ihre Diversität, was Sound, aber auch | |
| die vielen Subgenres angeht, die sich allein im Techno tummeln. | |
| L.I.E.S, kurz für „Long Island Electrical Systems“, ist ein Sammelbecken | |
| für abseitige elektronische Clubmusik, die sich weniger um eingefahrene | |
| Hörgewohnheiten als um Energie schert – und passt damit gut in die | |
| Ahnenreihe des New Yorker Undergrounds. Die stilistische Offenheit erinnert | |
| an den in den späten Siebzigern entstandenen cholerischen No-Wave-Sound, | |
| der total unabhängig und ebenso schlecht gelaunt war. | |
| Dass Morelli und sein Label Legendenstatus genießen, liegt nicht nur an dem | |
| Widerwillen gegenüber schnelllebigen Moden oder ästhetischem | |
| Perfektionismus, sondern daran, dass er diese Antihaltung in etwas | |
| Positives kanalisiert: Musik wie eine verlassene Wüstenlandschaft, in der | |
| sich Hörer verirren, um auf sich selbst zurückgeworfen zu werden – und | |
| damit dennoch nicht allein sind. Denn es gibt ja noch ein paar andere | |
| Verrückte, moderne Existenzialisten, vereint im Glauben an die Kraft | |
| dissonanter Musik. | |
| 24 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
| ## TAGS | |
| New York | |
| Entfremdung | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Terrorismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Festival im Berliner Kraftwerk: Die Isolation im Kollektiv feiern | |
| „Berlin Atonal“ löst die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur auf. Die | |
| Kuratoren setzen auf künstlerische Freiheit statt auf große Namen. | |
| Clubmusik-Festival in Utrecht: Sharing is Caring | |
| Das Stekker-Festival in Utrecht bringt Protagonisten der internationalen | |
| elektronischen Musikszene für eine Werkstattwoche zusammen. | |
| Ntz, ntz, ntz: Techno bringt Frieden, Liebe, Zukunft | |
| Gefühlt geht gerade die Welt unter. Kann elektronische Tanzmusik da helfen? | |
| Ja, sie kann, wie einige neue Alben zeigen. | |
| Pop und Transzendentalismus: Musik aus dem Unterholz | |
| Deradoorian, White Poppy und DJ Richard: drei neue Popalben von jungen | |
| nordamerikanischen Künstlern und ihre Hinwendung zur Natur. |