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# taz.de -- Festival im Berliner Kraftwerk: Die Isolation im Kollektiv feiern
> „Berlin Atonal“ löst die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur auf. Die
> Kuratoren setzen auf künstlerische Freiheit statt auf große Namen.
Bild: Freuen sich auf das Risiko: die Atonal-Kuratoren Laurens von Oswald, Harr…
Musikfestivals sind ja so was wie real gewordene Utopien. Im
Ausnahmezustand zwischen zufälligen Begegnungen und Gesprächen, spontan
verschenkter Liebe und immer neuen ästhetischen Herausforderungen ist alles
so, wie das Leben sein sollte: ein friedliches Mit- und Nebeneinander, bei
dem neue Musik wertgeschätzt und das Jetzt in jedem Moment ausgekostet
wird.
Beim Atonal-Festival in Berlin, das heute beginnt, kommt noch etwas anderes
hinzu: Entfremdung. Mit einem Fokus auf Musik, die an Noise, Dubstep,
Techno und Neue Musik andockt, stehen Klänge im Fokus, die aufwühlen oder
sedieren, anstrengen oder beruhigen und vor allem: den Körper zum Denken
und das Gehirn zum Tanzen bringen.
Intensität war schon bei der ersten Ausgabe 1982 gemeinsamer Nenner. Damals
spielten im Kreuzberger Club „SO 36“ Bands wie die den Genialen Dilletanten
zugerechneten Einstürzenden Neubauten oder die New Wave-Band Malaria. Bis
zu seinem vorläufigen Ende 1990 entwickelte sich das Festival zu einem der
wichtigsten Treffen für progressive elektronische Musik.
2013 wurde Berlin Atonal neu aufgelegt und fand mit dem Kraftwerk, einem
stillgelegten Heizkraftwerk im Bezirk Mitte, ein neues Zuhause. Die
Architektur passt perfekt zum bis heute stark vertretenen Stil Industrial.
Statt Wiese und Bäumen blühen auf den 8.000 Quadratmetern Beton und Metall.
Der Außenbereich mit spartanischen Sitzgelegenheiten ist sehr klein. Alles
dreht sich um die Musik, die im Einklang mit der Umgebung selbst unter
Sonneneinfluss apokalyptisch daherkommt.
„Das ist Teil des Konzepts. Statt Massenaufläufen wie bei anderen
Sommerfestivals steht die Musik im Vordergrund“, sagt Paulo Reachi. Der
Franzose ist mit Laurens von Oswald und dem Australier Harry Glass einer
der drei Festivalkuratoren, die 2013 den damaligen Organisator Dimitri
Hegemann ablösten, der seit 1990 den Techno-Club Tresor betreibt.
## Radikale Intuition und Detailverliebheit
Dass Atonal 2.0 mit den clubmusikaffinen Leitern zu einem weltweit
renommierten Festival wurde, liegt auch an der Auswahl der KünstlerInnen.
Sie vereint Undergroundacts mit Szenegrößen. Einige Werke wurden exklusiv
in Auftrag gegeben. Zwei Highlights sind in diesem Jahr das Duo zwischen
dem Berliner Toningenieur und Musiker Rashad Becker und dem japanischen
Produzenten Ena, die sich mit einem Acht-Kanal-System auf das
„Oktophonische System“ des Komponisten Karlheinz Stockhausen beziehen und
„Oratorio for the Underworld“ von Sophie Schnell alias Pyur, deren
technoider bis ambientlastiger Sound radikale Intuition und
Detailverliebheit verbindet.
„Wir mögen es, Künstler zu motivieren, außerhalb ihrer üblichen
Wirkungsfelder zu arbeiten. Es gibt ihnen mehr Freiheit.“ Künstlerische
Freiheit geht wiederum auch auf die finanzielle Unterstützung zurück, die
vom Berliner Senat, der Kulturstiftung des Bundes und dem Musicboard Berlin
stammt. Ein Glück, findet von Oswald. Das erlaube ihnen, mehr Künstler
einzuladen und größere Risiken einzugehen. „Wir können ganz anders
operieren als kommerzielle Veranstalter, die große Namen benötigen, um
Tickets zu verkaufen.“
Ein Blick auf das Line-up bestätigt das. Im Fokus stehen KünstlerInnen, die
an der Grenze zum Erträglichen agieren, aber auch das Unerträgliche in
Schönheit sublimieren. Neben der chinesischen Noise-Produzentin Pan Daijing
und der Bassmusic-Produzentin Sky H1 sind etwa Mick Harris, ehemaliger
Drummer der britischen Grindcore-Band Napalm Death, mit seinem
Ambient-Projekt Fret und der japanische Rapper Killer Bong aka K-Bomb
eingeladen. Bongs Liveshows werden im Programmheft damit verglichen, einem
unkontrollierten Fahrzeug bei vollem Tempo zuzuschauen.
## Klänge, die keine Entsprechung in der Natur haben
Die Auflösung jener Grenzen, die früher zwischen Hoch- oder Popkultur
bestanden, erlaubt die Entdeckung ästhetischer Zusammenhänge, die sonst
eher verborgen bleiben. So bestehen zwischen Stockhausens elektronischen
Experimenten und den Tracks des Bristoler Dubstep-Produzenten Pinch viele
Gemeinsamkeiten, etwa die düsteren, artifiziellen Klänge, die keine
Entsprechung in der Natur haben. „Vielleicht hat sich die Unterscheidung
zwischen High und Low transformiert in funktional und unfunktional“,
vermutet von Oswald. Die Unterschiede bestünden „zwischen Musik, die
versucht, Menschen zum Tanzen zu bringen, und einer, die nicht aufs
Tanzbare zu reduzieren ist“.
Ob funktional oder nicht, fast alle KünstlerInnen auf der Hauptbühne stehen
in Verbindung mit visueller Kunst. Auch hier besticht das Festival Atonal
durch seine Installationen – und zeigt in vielen versteckten Ecken des
Areals Video- und Soundart. „Es ist ja oft so, dass Video und Film eher
Musik und Sound inkorporiert haben“, sagt Glass. Bei Atonal sei es auch
umgekehrt.
Besonders jene Werke, in denen Sound und Bewegtbild ineinanderfallen,
prägen den spezifischen, dialektischen Atonal-Vibe: einerseits die totale
Immersion, das Eintauchen in eine außeralltägliche Erfahrung, die neue
Wahrnehmungen von Wirklichkeit erlaubt, und andererseits das Gefühl der
Entfremdung vom Gewohnten. Im Kraftwerk ist man trotz immenser Größe
zugleich allein und mit Tausenden anderen vereint.
Die individuelle Isolation im Kollektiv – ein Zustand, den das heutige Ich
auch im Alltag erfährt. Darin steckt auch etwas Politisches. Weil jene
ästhetischen Grenzerfahrungen, die Aggregatzustände zwischen Entfremdung
und Ekstase, Euphorie und Katharsis, neue Denkräume schaffen. Dass es kein
diskursives Programm gibt, wie es heute obligatorisch scheint, als könne
Musik nicht für sich selbst sprechen, ist daher zu verschmerzen. Solange
die Ohrenstöpsel nicht fehlen.
16 Aug 2017
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Popfestival
elektronische Musik
Entfremdung
Festival
Elektronik
Fehlfarben
New York
Detroit
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