| # taz.de -- Ntz, ntz, ntz: Techno bringt Frieden, Liebe, Zukunft | |
| > Gefühlt geht gerade die Welt unter. Kann elektronische Tanzmusik da | |
| > helfen? Ja, sie kann, wie einige neue Alben zeigen. | |
| Bild: Byron the Aquarius weiß, wohin er will: in ein besseres Morgen | |
| Was kann Musik in einem Sommer ausrichten, der nonstop | |
| Schreckensnachrichten bereithält? Eilmeldungen zu Unzeiten, die jeder für | |
| sich – wie paralysiert – auf den Displays anstarrt. Es gilt, dieser Plage | |
| etwas entgegenzusetzen. So wie es der US-Schriftsteller Ishmael Reed in | |
| seinem Roman „Mumbo Jumbo“ (1972), einem hochkomischen Manifest gegen | |
| rassistische Ausgrenzung, getan hat. Darin erzählt er von „Jes Grew“, einer | |
| „Anti-Plage“, „elektrisierend wie das Leben und gekennzeichnet durch | |
| Überschwänglichkeit und Ekstase“. In Reeds Vorstellung wird diese | |
| Anti-Plage durch moderne Technologie und Reden in Zungen auf Menschen | |
| übertragen, die dann zum Vergnügen der Götter tanzen. | |
| Jetzt ist der Moment gekommen, um an das tröstliche Element des Dancefloor | |
| zu erinnern, einer kollektiven und weltumspannenden Form von Zerstreuung. | |
| Bindeglied ist der Sound, vor allem dessen Rhythmus, sichtbar in den | |
| Bewegungen von TänzerInnen, hörbar im konstanten Shift der Rhythmus-Muster, | |
| die aus den Lautsprechern ertönen, aber auch in der Art und Weise, wie DJs | |
| die verschiedenen Tracks miteinander montieren. | |
| „Ohne Techno gibt es weder Frieden noch Liebe noch eine Zukunftsvision für | |
| die Menschheit“, hat das US-Dancefloor-Kollektiv Underground Resistance | |
| (UR) einmal als künstlerisches Credo formuliert. Dieser Aussage liegt keine | |
| ausgeklügelte Marketingstrategie zugrunde. Underground Resistance heißen | |
| so, weil sie aus dem postindustriellen Wasteland Detroit stammen, einer | |
| schrumpfenden Stadt ohne funktionierende Infrastruktur, abseits der | |
| Verheißungen des Musikbiz. | |
| Trotzdem werden die Ruinen Detroits inzwischen auch romantisch verklärt. | |
| Und ja, selbstverständlich klingt der UR-Technosound auch nach Vergnügen, | |
| aber mehr noch nach den Härten des Lebens. Bis er entsteht, müssen sich | |
| alle Beteiligten mächtig ins Zeug legen. Aus dem Credo von UR ist auch zu | |
| erfahren: Techno sorge dafür, dass sich Menschen unterschiedlicher Herkunft | |
| unter einem Dach versammeln. Musik und Tanz seien Schlüssel zum Verständnis | |
| des Universums. | |
| Die Künstler von Underground Resistance wirken heute verteilt über | |
| verschiedene Orte in den USA, manche sind inzwischen in Kalifornien | |
| ansässig, andere leben im Bundesstaat Georgia. Dort leiten sie Talente an | |
| wie Byron the Aquarius. So nennt sich ein junger Produzent aus Atlanta. | |
| Byron Blaylock, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, veröffentlicht seit | |
| einiger Zeit auf Detroiter Labels wie Sound Signature und Wild Oats Tracks | |
| auf höchstem Niveau. | |
| ## Ein besseres Morgen | |
| Nun ist sein Debütalbum „Gone Today Here Tomorrow“ erschienen, ein | |
| beschwingtes elektronisches Exerzitium durch Raum und Zeit. Mal ist | |
| schwindeliger Instrumental-HipHop zu hören, der ruckelt und zuckelt wie der | |
| defekte Anlasser eines Motors; mal zündet ein deeper Housetrack die nächste | |
| Raketenstufe, in der sich Byron the Aquarius von Keyboard-Wizzard Herbie | |
| Hancock zu verspielten Melodiefiguren auf der Basis von gutgeölten Grooves | |
| inspirieren lässt. „Coming to Detroit“, „Aquarian Voyage“, „Better | |
| Tomorrow“: Byron the Aquarius weiß, wohin er will, aber er hat auch nicht | |
| vergessen, woher er kommt. Gute Manieren hat er auch: Auf dem Label seiner | |
| Maxisingle „Euphoria“ dankt er seinen Eltern für die Klavierstunden. | |
| Drastik, Unversöhnlichkeit, Beklemmung, auch danach klingen | |
| State-of-the-art-Dancefloor-Produktionen im Jahr 2016. Dass der permanente | |
| Ausnahmezustand früher oder später in der Musik seine Spuren hinterlässt, | |
| verlangt von den KünstlerInnen, die Form ästhetisch voranzubringen, um sie | |
| ethisch zu erden. Das begründete schon Theodor W. Adorno: „Die | |
| Unmenschlichkeit der Kunst muss die der Welt überbieten um des Menschlichen | |
| willen“. | |
| Nehmen wir „Raw Tracks“ von Basic Rhythm, einem grindigen House-Mutanten | |
| des britischen Produzenten Anthoney J. Hart. Wobei sein Alias Basic Rhythm | |
| klassisches britisches Understatement ist: Harts Klangsignatur ist | |
| Beatscience, um ein Vielfaches im Teilchenbeschleuniger hochgekocht. Die | |
| neunziger Jahre verbrachte der Londoner damit, bei einem Piraten-Sender | |
| Drum ’n’ Bass aufzulegen. Das hat seine Klangsignatur immun werden lassen | |
| gegen süßlichen Melodieplunder. | |
| „Raw Tracks“ klingen genauso ungeschliffen, wie sie heißen: | |
| Klaustrophobischer Hall, Horrorfilm-Spezialeffekte, Stimmsamples, die vom | |
| Grund eines Sees wie Wasserleichen emporzusteigen scheinen. Dazu steinkalt | |
| pochende Bassdrums, zischelnde Hihats und eine peitschende Snare. Diese | |
| Grooves ändern sich urplötzlich und sorgen dafür, dass Harts Tracks virtuos | |
| und aber auch ziellos zwischen Genres und Tempos umherirren. Und doch zieht | |
| diese „Alien Music“ (Kodwo Eshun) in den Bann. Auf dem Rückcover | |
| abgebildet ist die unscharfe Fotografie zweier Männer, die durch das Foyer | |
| eines schmucklosen Hochhauses eilen. | |
| ## Raus aus dem Haus | |
| Ein Hochhaus bildet auch den Hintergrund des Covers von „Social Housing“: | |
| So hat der in Berlin lebende Schotte Marquis Hawkes sein Debütalbum | |
| betitelt. Illustriert ist das Coverbild von Alan Oldham, einer | |
| Zeichnerlegende aus Detroit, der schon vor 25 Jahren Cover und Labels von | |
| Schallplatten gestaltete. „Social Housing“ ist doppeldeutig, es meint | |
| sowohl den sozialen Wohnungsbau, aus dem Hawkes, in Glasgow geboren, | |
| stammt. Vor Oldhams gezeichneten High-Rises sind Tanzende zu sehen: Raus | |
| aus dem Haus, das ist die übergeordnete Aufgabe für den Dancefloor, | |
| Ausgehen als sozialer Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält und ihr ein | |
| bisschen Linderung verschafft. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. | |
| Das bringt Marquis Hawkes auf brillante Art mit „Social Housing“ zum | |
| Ausdruck: Dramaturgisch korrekt legt er sein Werk als Künstleralbum an, | |
| Gäste wie die Sängerin Jocelyn Brown unterstützen ihn dabei wirkmächtig. | |
| Die zwölf Tracks sind ein Showcase, geeignet für verschiedene Stunden einer | |
| Nacht: vom suggestiven Anheizer zum Peak-Hour-Bollerwagen, bis zum | |
| sphärisch-melancholischen Ausklang. Hawkes ist ein Atmosphärenmeister, der | |
| weiß, wie er beton-gerührte Beats gewinnbringend verschraubt. Als Referenz | |
| dient ihm dabei die Blütezeit von Chicago House, namentlich der Labels | |
| Relief und Dance Mania, deren elektronischer „Ghetto-Funk“ seiner | |
| Entstehungszeit weit voraus war. | |
| ## Hundsgemeine Knochenbrecher-Musik | |
| Chicago House dieser Machart ist auch eine Blaupause für die | |
| Künstlerpersona Delroy Edwards. So nennt sich der kalifornische Produzent | |
| und Schauspielersohn Brandon Perlman. Benannt nach einem Drogendealer | |
| inszeniert sich Perlman mit dem Delroy-Edwards-Alias wie ein Gangsta, was | |
| in der Houseszene kontrovers diskutiert wird. | |
| Perlman sagt: „Wenn ich durch East-LA kurve, wo ich wohne, sehe ich häufig | |
| Cops, die junge afroamerikanische Männer kontrollieren, das ist mein | |
| Alltag. In meiner Musik will ich diese Schattenseiten zeigen, aber das | |
| Upliftende soll auch nicht zu kurz kommen. Es ist eine Vorstellungswelt, es | |
| entspricht nicht der Realität, und trotzdem hat es mit meinem Alltagsleben | |
| zu tun. Ich versuche mir darauf einen Reim zu machen.“ | |
| Edwards Sound ist pure Reduktion. Fast alles hat er ausgeknipst, bis auf | |
| die Drummachine; die schlägt dafür in alle Richtungen aus, scheuert und | |
| shuffelt, quietscht und zischt. Sein Debütalbum „Hangin at the Beach“ | |
| erscheint auf seinem eigenen Imprint LA Club Resource: 30 skizzenhafte | |
| Kracher, aufsässig, asozial, hundsgemeine Knochenbrecher-Musik, die man | |
| nicht mal seinem schlimmsten Feind im Albtraum zu hören wünscht. | |
| Alle hier genannten Tracks könnten [1][in einem Mix von Barbara Preisinger] | |
| auftauchen. Was wäre der Dancefloor ohne die Sichtungsarbeit von DJs, die | |
| den Tracks das nötige Know-how angedeihen lassen? Preisinger, Berlinerin | |
| mit bayerischem Migrationshintergrund, ist seit Langem hinter den Kulissen | |
| tätig, oftmals selbstlos hat sie als Multiplikatorin und Bookerin für | |
| andere KünstlerInnen gearbeitet und Scape, das Label ihres Lebensgefährten | |
| Pole, geleitet. Dass sie selbst eine begnadete DJ ist, die elegant und | |
| suggestiv mischt, soll hier zum Schluss erwähnt werden. | |
| „Emotionen, Schweiß, schlaflose Nächte, ein kleines Stück Lebenszeit“, d… | |
| sind Faktoren, die in der DJ-Tätigkeit von Preisinger eine Rolle spielen. | |
| Damit kann sie das Unheil mit einer Anti-Plage zurückschlagen. | |
| 21 Jul 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.mixcloud.com/DasFilter/filter-tapes-017-barbara-preisinger/ | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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