# taz.de -- „Smell Lab“ in Berlin: So riecht die Erinnerung | |
> Beim „Smell Lab“ experimentieren KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen | |
> mit Gerüchen und Andenken. Den „Kotti“ gibt's dort auch. | |
Bild: Bloß nicht die Nase verbrennen: Smell Lab in Berlin-Neukölln | |
Berlin-Neukölln an einem Freitagabend, in einem kleinen Galerieraum, dessen | |
Name noch von seiner vorherigen Bestimmung zeugt: „Holz Kohlen Koks“. | |
Wasserdampf ringelt sich aus einer komplizierten Apparatur nach oben. | |
Die Wände holzvertäfelt, ein subtiles Odeur von miefigen Handtüchern – man | |
könnte fast schon an finnische Sauna denken. Aber auch leichte Noten von | |
Parfum und Schweiß der etwa dreißig bis vierzig BesucherInnen sowie vom | |
Bier, das aus Flaschen getrunken wird, und der Geruch des regennassen | |
Gehwegs, der durch die offene Tür hereinweht. | |
Eine junge Frau steht vor einem Tisch in der Mitte des Raumes und reicht | |
einer anderen eine kleine Tüte mit salzigen Lakritzen. Dann wird das große | |
Destilliergerät geöffnet, die Lakritze hineingegeben, kurz umgerührt und | |
der Deckel wieder vorsichtig zugemacht. | |
Dieses Destilliergerät – ein robuster Zylinder aus Zink – steht im | |
Mittelpunkt der Veranstaltung „Connected Smells“. Es thront auf einem | |
Sockel in der Mitte des Ausstellungsraums, oben dampft es, aus einem Hahn | |
tropft eine klare Flüssigkeit langsam, aber stetig in eine große | |
Glaskaraffe. Die Besucher halten Abstand – man will das heiße Metall nicht | |
berühren –, nur hin und wieder hält mal jemand Mutiges die Nase in die Nähe | |
und atmet tief ein. | |
„Ich glaube, Gerüche bleiben einem ganz stark im Gedächtnis“, sagt Lovisa | |
Hensfelt, die gerade die Lakritze abgegeben hat. Auf der | |
Facebook-Eventseite haben die Veranstalter darum gebeten, einen Geruch | |
mitzubringen, den man mit einem Menschen oder einem Ort verbindet. | |
Hensfelt verbindet salzige Lakritze mit ihrer Heimat Schweden. „Ich habe | |
lange in Australien gelebt und konnte dort nirgends meine | |
Lieblingslakritzen finden“, sagt sie. „Seitdem haben sie eine ganz große | |
Bedeutung für mich.“ | |
Hensfelt wird keinen persönlichen Lakritzeduft bekommen, denn bei so vielen | |
Gästen und einem einzigen langsamen Destillierer ist das nicht machbar. | |
Aber die Idee von „Connected Smells“ ist ohnehin eine andere: Alle | |
einzelnen Gerüche sollen zu einem verbunden werden – am Ende des Abends | |
werden die Besucher also einen Duft mitnehmen, der sie miteinander und mit | |
der Veranstaltung verbindet. | |
## „Proust-Effekt“ | |
„In Indien riecht es nach vielen würzigen Sachen“, sagt Navneeta Deo, die | |
zusammen mit Hensfelt hier ist. Die Gerüche, die ihren Alltag begleitet | |
haben, fehlen ihr nun in Berlin. Sie hilft sich mit Räucherstäbchen und | |
gibt diese auch in den Destillierer. | |
Ob der Duft von Omas frisch gebackenem Apfelkuchen oder der Geruch des | |
Expartners, der noch immer im aufbewahrten T-Shirt hängt: Gerüche rufen | |
Erinnerungen wach. An die Kindheit, an besondere Menschen und Erlebnisse. | |
In der Wissenschaft spricht man vom „Proust-Effekt“, benannt nach dem | |
französischen Schriftsteller Marcel Proust, in dessen Roman „Auf der Suche | |
nach der verlorenen Zeit“ der Icherzähler beim Geruch von frisch gebackenen | |
Madelaines sofort in seine Kindheit zurückversetzt wird. | |
Ein weiterer Besucher, der Earl-Grey-Tee mitgebracht hat, schreibt in das | |
Gästebuch: „Als ich klein war, hatten wir wenig Geld. Meine Mutter hat | |
Earl-Grey-Teebeutel als Badezusatz verwendet. Heute denke ich bei dem | |
Geruch an meine Mutter, aber auch an Badewasser – deswegen trinke ich den | |
Tee nie.“ | |
Wie unterschiedlich Gerüche wahrgenommen werden, zeigt sich auch bei der | |
Frage, wie der Duft, der aus dem Hahn des Destilliergeräts tröpfelt, | |
eigentlich riecht. „Muffig, aber irgendwie auch warm“, sagt einer. | |
„Irgendwie nach diesen Zitronenbrausetabletten“, sagt eine andere. Wörter, | |
die versuchen, etwas zu beschreiben, was sinnlich intensiv erlebt, aber | |
sprachlich nur schwer gefasst werden kann. | |
## Erinnerungsalbum in Flüssigform | |
Der Geruch verändert sich mit jedem Gegenstand, der abgegeben und | |
destilliert wird. In jedem Tropfen, der in die Glaskaraffe fällt, stecken | |
neue Erinnerungen, der fertige Duft wird ein Erinnerungsalbum in | |
Flüssigform sein. | |
„Das Faszinierende an Gerüchen ist, dass sie unsichtbar, aber sehr mächtig | |
sind“, sagt Klara Ravat. Die Geruchskünstlerin hat das Smell Lab – das | |
VeranstalterInnenteam von „Connected Smells“ – ins Leben gerufen. „Unser | |
Verhalten wird ganz stark durch das, was wir riechen, beeinflusst“, sagt | |
Ravat. „Meistens merken wir das gar nicht.“ | |
Die 29-Jährige hat an der Koninklijke Academie van Beeldende Kunsten in Den | |
Haag studiert, seit knapp drei Jahren lebt sie in Berlin. In ihrer Kunst | |
verbindet sie Gerüche mit Experimentalfilmen. Die Filme thematisieren | |
Gerüche, oder sie werden in Räumen gezeigt, die mit bestimmten Gerüchen | |
versehen wurden. | |
Vor etwa einem Jahr hat Ravat das Smell Lab ins Leben gerufen, um mit | |
anderen Gerüche zu erforschen. Einmal im Monat trifft sich die offene | |
Gruppe aus WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und anderen | |
Geruchsbegeisterten im Neuköllner Projektraum Spektrum. Zusammen werden | |
Gerüche diskutiert, selbst extrahiert oder ‚Smell Walks‘ durch die Stadt | |
gemacht. | |
Auf einem dieser Spaziergänge hat die Gruppe versucht, typische Berliner | |
Gerüche einzufangen. Mit Baumwollstoff und Plastikbeuteln haben sie zum | |
Beispiel Gerüche in Dönerläden und Kneipen rund um den Kreuzberger | |
U-Bahnhof Kottbusser Tor gesammelt und später extrahiert. | |
## Jasminblüten und Urin | |
Der belebte Platz, der in Berlin nur „Kotti“ genannt wird, ist ein | |
wichtiger Ausgangspunkt für Kultur- und Nachtleben, [1][steht aber immer | |
wieder auch wegen starker Kriminalität in den Schlagzeilen]. Er riecht – | |
darauf hat sich das Smell-Lab-Team geeinigt – nach „gebratenem Fleisch, | |
Rauch und Abgasen, Jasminblüten und saftigen Grünpflanzen, Bier, Fisch, | |
Früchten, Urin und Kanalwasser.“ | |
Die extrahierten Stadtgerüche hat das Smell Lab bei seiner ersten | |
Ausstellung, „Collected Smells“, im Januar präsentiert. Die Besucher | |
konnten ihre Nase in verschiedene Laken halten, die mit den Gerüchen | |
besprüht waren. | |
„Wir haben alle eine künstlerische, aber auch eine wissenschaftliche | |
Denkweise“, sagt Sheraz Khan, der von Anfang an beim Smell Lab dabei ist. | |
Der 27-Jährige hat sich in seinem Chemiestudium vor allem mit Düften und | |
Aromen beschäftigt, er kennt sich mit verschiedenen Destillationsverfahren | |
aus. | |
Auch heute Abend wirft er immer wieder fachmännische Blicke auf das | |
Destilliergerät und hilft bei der Bedienung. „In jedem Material finden sich | |
Geruchsmoleküle, die bei der Dampfdestillation freigesetzt und eingefangen | |
werden“, erklärt Khan. „Wir kochen die Materialien also erst. Der Dampf, in | |
dem die Geruchsmoleküle sind, wird dann stark abgekühlt und kondensiert | |
so.“ | |
Der Dampf bahnt sich seinen Weg nach oben und trifft auf Eiswürfel, die von | |
den Smell-Lab-Mitgliedern regelmäßig nachgefüllt werden. Anschließend | |
tropft der Duft in die Glaskaraffe. | |
Immer wieder werden neue Zutaten eingerührt, mit jedem neuen | |
Erinnerungsstück wird der Duft komplexer. Um die ewig tropfende und | |
dampfende Maschine stehen die unterschiedlichsten Leute und reden darüber, | |
wer was mitgebracht hat und warum das Riechen als Sinn so unterschätzt | |
wird. | |
Anders als in Ausstellungen, in denen man ehrfürchtig vor fertigen Werken | |
steht, geht es hier ums Mitmachen. „Ich denke oft, dass ich moderne Kunst | |
gar nicht richtig verstehe“, sagt Navneeta Deo. Sie wartet darauf, ihre | |
kleine Duftprobe zu bekommen. | |
## Geruchsmoleküle | |
Je nach Material dauert es mindestens fünfzehn bis zwanzig Minuten, bis die | |
Geruchsmoleküle hervortreten und sich dann auch in der Flüssigkeit | |
wiederfinden. „Hier ist die Kunst anders: Jeder kann mit ganz einfachen | |
Dingen mitmachen. Und selbst kreieren“, sagt Deo. | |
Als Lovisa Hensfelt und Navneeta Deo endlich ihre kleinen Duftproben in | |
Glasfläschchen bekommen, die man von Parfümerieproben kennt, riechen sie | |
erst mal. Lakritze? Räucherstäbchen? Fehlanzeige. | |
„Ich rieche es nur ganz leicht. Andere Gerüche waren wohl dominanter“, sagt | |
Deo. Enttäuscht sind die beiden trotzdem nicht. „Die Erfahrung und die | |
Leute hier – das war alles sehr spannend“, sagt Hensfelt. Ein neuer Duft | |
und eine damit verbundene Erinnerung. | |
25 Jul 2016 | |
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## AUTOREN | |
Michelle Ostwald | |
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