# taz.de -- Workshop für Nachhaltigkeit: Der Sound der Steine | |
> Entrückt das Zusammenleben trainieren und der Natur ihre Sounds | |
> ablauschen: Eindrücke vom Workshop „Clean Sounds“ auf Fuerteventura. | |
Bild: Mensch und Natur schwingen auf Fuerteventura musikalisch zusammen – wen… | |
FUERTEVENTURA taz | Wind rauscht um die Ohren, ein streunender Hund bellt | |
ins Nichts, und die Sonne brennt stoisch vom graublauen Himmel, als wolle | |
sie den fünf Wesen da unten zurufen: Was denkt ihr eigentlich, wer ihr | |
seid, wie ihr da mit euren schicken Sneakern über den Wüstenboden wandert | |
und die Überreste einer uralten Spezies zertretet? Die Gruppe jedoch weiß, | |
dass ihre scheinbare Zerstörung zugleich etwas Neues hervorbringt. Das | |
Knirschen der Muscheln, die mal Teil eines Ozeans und der kleinen Steine, | |
die mal zu einem Vulkan gehörten, erzeugen einen verführerischen Rhythmus, | |
der auch als TripHop-Beat durchgehen könnte. | |
Auch die größeren Steine sind purer Sound. „Sie sind rau, aber klingen | |
schön warm. Hör mal“, sagt Oliver Peryman. Er hebt zwei Exemplare auf, legt | |
eins in seine Hand und reibt mit dem anderen die Oberfläche, bevor er seine | |
Hand schließt und öffnet, bis ein waberndes, Synthesizer-ähnliches Geräusch | |
entsteht. | |
Der aus Neuseeland stammende Musiker, der als FIS experimentelle Clubmusik | |
produziert, lächelt und schaut zu den anderen. Auch sie wirken leicht | |
entrückt, stehen unter einer Palme oder halten ihre Arme in die Luft, um | |
das Rascheln der Äste mit ihren Fieldrecordern aufzunehmen. | |
Peryman leitet mit der Berliner Musikerin Sophie Schnell alias Pyur den | |
Sound-Workshop im Rahmen der „Clean Perspectives“-Woche auf Fuerteventura. | |
Neben Feldaufnahmen, also dem Festhalten von Sounds aus der Umwelt, geht es | |
um die Schulung des Gehörs, etwa mithilfe von Meditation. Für Perymann und | |
Schnell, die beide futuristische Clubmusik zwischen Ambient, IDM und | |
Umweltklängen komponieren, ist das enorm wichtig. Weil Klang immer im Jetzt | |
stattfindet und eine tiefe Beziehung zur äußeren und inneren, persönlichen | |
Welt ermöglicht. | |
## Mit der Natur schwingen | |
Die spanische Insel, die wegen ihres ganzjährig warmen Klimas auch „Insel | |
des ewigen Frühlings“ genannt wird, ist der perfekte Ort dafür. Nicht nur, | |
weil der stetige Wind einen stetig im Jetzt situiert. „Der raue Charakter | |
der Landschaft ist generell inspirierend“, sagt Letizia Trussi und blickt | |
in Richtung der Vulkane, die wie Wächter am Horizont lauern. | |
„Es geht darum, die Reizüberflutung der Stadt hinter sich lassen und den | |
Rhythmus der Natur wahrzunehmen“, ergänzt Marie Klinke. Sie sitzen auf | |
einem der Bänke vor der kleinen Herberge mitten in einer Steinwüste. Die in | |
Berlin lebenden Künstlerinnen vom Verein „Cluster“ haben die Woche zusammen | |
mit Remi de Wilde und Gereon Lake ins Leben gerufen, die mit ihrem | |
solarbetriebenen Soundsystem „Clean Sounds“ Partys veranstalten. | |
Mit „Clean“ verbinden sie nicht nur saubere Energie, sondern ebenso einen | |
leeren Raum, in dem neue Ideen wachsen können, aber auch eine Befreiung von | |
unnötigen Gedanken oder Routinen, die sich in den Alltag eingeschlichen | |
haben. Die Woche umfasst neben Künstlerresidenzen wie von Christina | |
Tsantekidou, die – dem ökologischen Anspruch entsprechend – einen großen | |
Lollipop aus Müll herstellt, auch andere Workshops, darunter „Clean Energy“ | |
und „Clean Radio“. Letzterer wird von Matteo Spanó und Filippo Gianetta | |
geleitet, die in Berlin den Onlinesender „Cashmere“ betreiben und hier | |
zusammen mit lokalen Interessenten ein lokales Community-Radio aufbauen. | |
## Auf engem Raum | |
Die Beziehung zu den Inselbewohnern ist allen, vor allem Lake und de Wilde, | |
die hier leben und arbeiten, sehr wichtig. Zugleich soll ein | |
internationales Netzwerk entstehen, das über den konventionellen Tourismus, | |
den zentralen Wirtschaftszweig der Insel, hinausgeht. Der Grundstein ist | |
gelegt: Die 31 TeilnehmerInnen zwischen 16 und 52 stammen aus Italien, | |
Griechenland, USA, Belgien, Polen, Neuseeland, Kroatien, Mexico, | |
Deutschland, Frankreich, Schweden und Südkorea. | |
Die Gruppe lebt auf engem Raum. In der Herberge wird gearbeitet, geschlafen | |
und gegessen. Die Hochbetten, die gemeinsamen Mahlzeiten und die mit | |
Laptops belegten Holztische wirken wie eine Kreuzung aus Jugendfreizeit und | |
Co-Working-Space; die nächtlichen Jamsessions mit Trommeln und | |
batteriebetriebenen Synthesizern wie eine futuristische Hippiekommune. | |
Hierarchien und Vorschriften gibt es nicht, es wird auf individuelle | |
Selbstermächtigung und kollektive Selbstorganisation gesetzt. Gekocht, | |
gespült und geputzt wird freiwillig und je nach Bedarf. Interessierte wie | |
der 16-jährige Roberto aus Lajares, der von Peryman spontan einen Crashkurs | |
in Musikproduktion bekommt, werden herzlich empfangen. Es ist ein | |
Mikrokosmos einer besseren, gerechteren und freieren Welt. | |
„Unsere Gesellschaft benötigt dringend neue Methoden für ein besseres | |
Zusammenleben, das auf Teilen und gemeinsamem kreativem Schaffen basiert“, | |
sagt Klinke am Samstagmorgen auf dem Markt in Lajares, wo die Gruppe ihre | |
Werke, darunter die Lollipop-Skulptur und Zeichnungen der koreanischen | |
Künstlerin Kui-Soon Park sowie Skizzen von Musikstücken vorstellen, die von | |
abstrakter Musique concrète bis zu House reichen und einigen Passanten ein | |
wohlwollendes Kopfnicken entlocken. De Wilde ist zufrieden: „Die Woche war | |
produktiver als gedacht. Wir haben ja lediglich Ort und Zeit | |
bereitgestellt, und alles hat sich organisch entwickelt.“ | |
## Eine mobile Solar-Sound-Box | |
Geglückt ist auch, das Bewusstsein für erneuerbare Energien zu schärfen. | |
Der Strom der Herberge stammt von einer kleinen Windkraftanlage. Laut | |
Eckard Schaarschmidt, der den Solarworkshop leitet und den Internetsender | |
Castor TV gegründet hat, produziert die Anlage konstant 1.000 Watt. Das | |
reicht völlig aus, ein Laptop benötigt 24 Watt. Mit den Teilnehmern hat er | |
eine mobile Solar-Sound-Box gebaut, die sie mit nach Hause nehmen können. | |
„Ich möchte das so selbstverständlich werden lassen wie die Solarzelle im | |
Taschenrechner. Die Sonne schickt keine Rechnung.“ | |
Unbezahlbar ist auch der Ausflug auf den Berg Tindaya. Hier oben, in 500 | |
Meter Höhe, offenbart sich ein weiter Blick über den nervösen Ozean und die | |
surreale, in rötlichem Braun gefärbte Mondlandschaft. „Wir sind alle | |
resonante Wesen“, hatte Peryman beim Workshop gesagt. Es ist wahr, für | |
einen kurzen Moment schwingen alle im Einklang, vereint in Demut vor dem | |
cineastischen Soundtrack der Umwelt, der die organischen Prozesse der Natur | |
mit der Zivilisation versöhnt und in dem alle ihre Stimme haben: der | |
dauersingende Wind, das Bellen der Wachhunde in den Vorgärten des nahen | |
Dorfes, das Klagen der Ziegen, die Rufe der spielenden Kinder und die | |
heulenden Automotoren. | |
„Natürlich gibt es kein richtiges Leben im falschen“, hatte ein Teilnehmer | |
zu Beginn des Workshops gesagt, wohl wissend, dass das hier eine physische | |
Filterbubble ist. Andererseits können sozial-ökologische Veränderungen | |
nicht autoritär installiert werden, sondern müssen organisch im Einklang | |
mit den Interessen aller wachsen. Der Moment auf dem Berg ist ein Fenster | |
in die Zukunft einer neuen Gesellschaft. Einer, die teilt, anstatt zu | |
besitzen und in der man einander zuhört, statt sich ständig zu übertönen. | |
30 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
## TAGS | |
Nachhaltigkeit | |
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