# taz.de -- Buchmesse in Kroatien: Die alte und die neue Intelligenzija | |
> Pula war ein kulturelles Zentren im ehemaligen Jugoslawien. Das | |
> Literaturfestival zieht Dissidenten, Avantgardisten und Antinationale an. | |
Bild: Der syrische Dichter Adonis (Zweiter v.r.) vor der Flosse, dem allgegenw�… | |
Pula taz | Europa ist Provinz. Die meisten idyllischen Mittelmeerstädtchen, | |
die im Sommer von Touristen überspült werden, fallen nach der Saison nicht | |
nur in Winterschlaf, sondern sind auch äußerst schwer erreichbar. Zum | |
Beispiel das kroatische Pula. Die nächsten Flughäfen liegen im | |
italienischen Triest (160 km), im slowenischen Ljubljana (224 km) und in | |
der Hauptstadt Zagreb (273 km). Aber suchen Sie mal im Winter von einer | |
europäischen Hauptstadt einen Direktflug zu diesen Destinationen. | |
Pula, an der südlichen Spitze der Halbinsel Istrien, ist selbst für | |
Besucher aus Kroatien mitunter eine halbe Tagesreise entfernt. Trotzdem hat | |
die 7.000 Jahre alte Stadt, in der einst Kaiserin Sisi den größten | |
Militärhafen der österreich-ungarischen Monarchie errichten ließ, so gut | |
wie alle europäischen Herrscher gesehen. Wegen ihrer strategisch | |
hervorragenden Lage in der Adria wurde Pula von Langobarden, Franken und | |
Venetiern, von Napoleon, Hitler und Tito erobert. | |
„Ohne die Buchmesse wäre Pula heute ein Provinzkaff“, meint Vedran, der die | |
internationalen Gäste des Literaturfestivals in Pula zu den Flughäfen | |
fährt. So ähnlich hatte das auch James Joyce gesehen, der 1904 hier ein | |
paar Monate lang Englisch unterrichtete. Er nannte Pula ein | |
„gottverlassenes Nest, das in der Adria eingeklemmt ist“. | |
Das war lange vor Titos sozialistischer Föderation Jugoslawien, die alles | |
förderte, womit man den kapitalistischen Westen davon überzeugen konnte, | |
dass man besser war als er. Und dazu gehörte der gesamte Bereich von Kunst | |
und Kultur. Noch in den 1980er Jahren war die heute knapp | |
57.000-Einwohner-Stadt Pula eines der kulturellen Zentren Jugoslawiens. | |
Übrig geblieben ist davon das Filmfestival, das seit 1954 im gewaltigen | |
römischen Amphitheater der Stadt stattfindet. | |
## „Leipzig am Meer“ | |
Die Buchmesse existiert noch nicht so lang. Und eine Buchmesse im engeren | |
Sinne ist sie auch nicht. Darauf verweist schon ihr Name: „Sa(n)jam Knjige | |
u Istrij“. Was ohne Klammer „Buchmesse in Istrien“ bedeutet, erhält mit … | |
„n“ in der Klammer die Bedeutung „Ich träume von Büchern in Istrien“. | |
Wie in einem mediterranen Traum fühlt man sich auf diesem Literaturfestival | |
allemal. Das Festival findet im österreichischen Marineoffizierscasino | |
statt, ein Prachtbau im Stil des Wiener Historismus mitten im Stadtzentrum, | |
umgeben von römischen Tempeln, venezianischen Villen, Cafés, Restaurants, | |
Galerien, Bars und Clubs, in denen Autoren und Verleger, Übersetzer, | |
Journalisten und Veranstalter trinken, essen, lachen, feiern und | |
diskutieren. | |
Das Festival wurde erst 1995, nach dem Zerfall Jugoslawiens, gegründet, ist | |
aber ein Ereignis, bei dem der Glamour, die Weltoffenheit, der Geist und | |
der Humor der intellektuellen und künstlerischen Avantgarde der ehemaligen | |
Föderation wieder aufblühen. Das ist seiner Direktorin Magdalena Vodopija | |
zu verdanken, die mit einem vor allem aus Frauen bestehenden Team die auch | |
als „Leipzig am Meer“ bezeichnete kleine Messe organisiert. | |
Vodopija ist ein Kind der kulturellen Blütezeit Jugoslawiens, Tochter des | |
legendären Boško Obradović, bekannt vor allem als Gründer und Texter von | |
Atomsko Sklonište (Atombunker), die er mit seinen Antikriegstexten zu einer | |
der populärsten Rockbands des Landes machte. Im August 1991 trat die Band | |
noch auf einem Festival in Serbien auf, obwohl der Krieg längst begonnen | |
hatte. | |
## Nicht unterkriegen lassen | |
Mit seiner Tochter hatte der 1997 verstorbene Obradović 1990 den kleinen | |
Buchladen „Castropola“ im Zentrum Pulas eröffnet, der nach Kriegsbeginn zum | |
Treffpunkt der dissidenten, antinationalistischen Intellektuellen und | |
Künstler in Istrien wurde. In den engen Räumlichkeiten entstand die Idee | |
einer Buchmesse, um all jene zusammenzubringen, die sich von Krieg und | |
Nationalismus nicht hatten unterkriegen und vereinnahmen lassen. | |
Das „Pressezentrum“ der Buchmesse ist ein kleiner Salon im Casino. An ein | |
paar kleinen Tischen sitzen Autoren, Verleger, Moderatoren, Übersetzer. | |
„Das ist unser Familientreffen“, erzählt die immer lachende, alle herzlich | |
umarmende Magdalena Vodopija. Sie versammelt die Intelligenzija des alten | |
Jugoslawiens und bringt sie mit den jungen Literaten und Künstlern der | |
Region zusammen. | |
Die Literaturszene war in fast allen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens | |
von Anfang an diejenige, die sich am meisten Mühe gab, wenn es darum ging, | |
nationale Grenzen zu überwinden. Das ist bis heute so geblieben. | |
Neben prominenten Autoren aus dem ehemaligen Jugoslawien, die in Pula die | |
Premiere ihrer neuen Romane feiern, sind Gäste aus Spanien, Portugal, | |
Brasilien und Angola angereist. „Transatlantik“ ist in diesem Jahr das | |
Motto. Literatur, die von Flucht und Vertreibung, Kolonisierten und | |
Kolonisierern erzählt, das Schwerpunktthema. Regionaler Schwerpunkt das | |
Nachbarland Slowenien. | |
Am Eröffnungswochenende überraschte die slowenische Buchagentur mit einem | |
Event in die Kirche Sveta Srca. Auf dem Kirchenboden: ein Manifest der | |
slowenischen Band Laibach. An den Seitenwänden: Plakate der Band, | |
angeordnet wie ein Kreuzweg. Im Altarbereich: Keyboards und Mikros. Die | |
slowenische Kultband spielte eine Messe, wie sie diese Kirche noch nie | |
erlebt hat. | |
„Ich bin Kind eines Rock ’n’ Rollers und ein Kind von Leidenschaft und | |
Schönheit. Das ist mein Erbe und ein Traum“, erzählt Magdalena Vodopija. | |
Beinahe wäre ihr Traum geplatzt. Seit im Januar der offen rechtsradikale | |
Zlatko Hasanbegović als Kulturminister eingesetzt wurde, hat die | |
linksliberale Kulturszene Kroatiens mit drastischen Budgetkürzungen zu | |
kämpfen. | |
„Einen Großteil des Budgets haben wir aus privaten Spenden finanziert“, | |
sagt Vodopija. 200 Autoren, 300 Verlage, 80.000 Besucher – das sind die | |
Zahlen der kleinen Messe aus dem letzten Jahr. Trotz der politischen | |
Diskriminierung rechnet Vodopija auch dieses Jahr mit ähnlichen Zahlen. | |
## Kollektive Erinnerung | |
Auch der Verleger des bedeutendsten kroatischen Verlags für Belletristik, | |
Fraktura, erzählt von drastischen Kürzungen. „Aber wir schaffen auch das“, | |
sagt er lachend auf Deutsch. In dieser Szene will niemand Opfer sein. Es | |
ist der aufrechte Stolz von Leuten, die schon einmal einen | |
nationalistischen Taumel überlebt haben und sich von debilen Idioten nicht | |
wieder alles kaputt machen lassen wollen. | |
Zu den debilen Idioten zählt der populäre Autor Senko Karuza auch die | |
Touristen. Dabei scheint die Biografie des Autors selbst wie eine Erfindung | |
aus einem Touristenführer: Schriftsteller, Insulaner, Umweltaktivist und | |
Restaurantbesitzer. Und er sieht auch so aus: Wildes weißes Haar und ein | |
wilder weißer Bart umrahmen sein braun gegerbtes Gesicht. | |
Der 57-Jährige stellt auf dem Festival seinen neuen Roman vor, der von | |
seiner Insel Vis und deren Bewohnern handelt, die sich zu Trotteln der | |
Tourismusindustrie machen. „Die kollektive Erinnerung geht verloren. Die | |
Leute reden nur noch darüber, wie sie mehr Betten und mehr Cevapcici | |
verkaufen können“, erzählt Karuza. | |
Pula ist von tiefen Buchten zerfurcht, die durch bewaldete, hügelige | |
Halbinseln voneinander getrennt sind, auf denen 26 Forts liegen, noch heute | |
Hauptsitz der kroatischen Kriegsmarine. „Die größte Integrationskraft in | |
Jugoslawien war das Militär. Den Militärdienst mussten die Soldaten | |
außerhalb ihrer Heimatrepubliken leisten“, erzählt Karuza. Diese Aufgabe | |
leistet das Militär nicht mehr. | |
Dafür organisiert Magdalena Vodopija die kollektive Erinnerung. Nicht im | |
Sinne einer selbstreferentiellen Nostalgie. Sondern im Sinne einer | |
integrativen Zukunft. | |
8 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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