| # taz.de -- Die Geschichte Zagrebs im Roman: Monster werden sichtbar | |
| > Alles schwankt in Miljenko Jergović’ Roman „Ruth Tannenbaum“, der von | |
| > Antisemitismus im Zagreb der Zwischenkriegszeit erzählt. | |
| Bild: Zagreb heute, die Ilica Straße | |
| Die Zagreber Bürger sollten dem Schriftsteller Miljenko Jergović dankbar | |
| sein. Mit seinem Roman „Ruth Tannenbaum“ hat er ihnen ein Porträt über ei… | |
| Zeit geschenkt, die vergleichsweise unbeschrieben und deswegen mythisiert | |
| ist: die sogenannte Zwischenkriegszeit, die kurze Gefechtspause, in der | |
| politisch einiges versucht und alles schiefgegangen ist. | |
| Jergović’ Roman steigt gleich mit einer krassen Szene ein, die eher an | |
| Krieg als an Frieden erinnert: Eines Tages im Jahr 1920 betritt Salomon | |
| Tannenbaum seine Zagreber Stammkneipe, den Österreichischen Kaiser. Statt | |
| wie üblich von seinen Zechkumpeln begrüßt zu werden, wird Tannenbaum | |
| verprügelt, verschleppt, gefoltert und muss auf Händen nach Hause gehen, da | |
| ihm die Haut auf den Fußsohlen weggeschlagen worden war. Wie üblich hatte | |
| er beim Betreten der Kneipe den österreichischen Kaiser gegrüßt. Der aber | |
| hatte seit Neuestem nicht mehr das Sagen in Kroatien. Das Königreich der | |
| [1][Serben, Kroaten und Slowenen] war an seine Stelle getreten. | |
| Die Gewalt, die mit dem Wechsel politischer Machthaber verbunden ist, | |
| verlagert sich in Nichtkriegszeiten vom Schlachtfeld in die Kneipen, auf | |
| die Straßen, in die Wohnungen und Treppen-, Theater-, Opern- und Klohäuser | |
| der Städte. | |
| ## Vergessen wollen | |
| Jergović porträtiert eine Zeit, in der alles schwankt. Es wechseln die | |
| politischen Systeme, es wechseln die Identitäten und Wertigkeiten. Die | |
| Rahmenhandlung des Romans erzählt von Ruth, Salomons Tochter. Eben noch ein | |
| gefeierter Kinderstar der Zagreber Theaterwelt, darf sie, noch bevor sie | |
| richtig groß werden kann, auf einmal nicht mehr auf die Bühne und in die | |
| Schule – der neuen Machthaber wegen, der kroatischen Faschisten. | |
| Die Tannenbaums sind Juden. Das Schicksal der kleinen Ruth ist lose | |
| angelehnt an „die kroatische Shirley Temple“, in den 1930er Jahren in | |
| Zagreb ein gefeiertes Kinderwunder. Sie hieß Lea Deutsch, wurde 1927 in | |
| Zagreb als Tochter jüdischer Bürger geboren, spielte schon mit 5 Jahren | |
| Shakespeare und Molière und wurde mit 16 Jahren nach Auschwitz deportiert | |
| und ermordet. | |
| „Ruth Tannenbaum“, schreibt Miljenko Jergović in seinem Nachwort, „ist | |
| nicht Lea Deutsch“. Es habe ihn zwar gereizt, über die echte Schauspielerin | |
| zu schreiben. Aber da es kaum Informationen über sie gebe, nicht mal eine | |
| Schule oder Straße nach ihr benannt wurde, ganz Kroatien sie offenbar | |
| vergessen wolle, habe er sich dagegen entschieden. | |
| Tatsächlich ist Ruth Tannenbaum nur die Nebenfigur des nach ihr benannten | |
| Romans. Viel eher im Zentrum stehen ihre Eltern und die Nachbarn, die | |
| Schauspieler, Opernsänger, Kneipenwirte und Kneipengäste, Bahnhofsvorsteher | |
| und Zirkusbetreiber, die Katholiken, Orthodoxen und Juden mit ihren | |
| Vorurteilen und Ressentiments. Sie sind Mitläufer und Mittäter, ohne | |
| irgendeiner Partei angehörig zu sein, sie sind getrieben und durchsetzt von | |
| Angst, Neid, Hass, Schuldgefühlen, Boshaftigkeit, Arroganz und Ignoranz. | |
| Niemand, nicht mal die kleine Ruth mit ihren großen Augen, ist eine Figur, | |
| die man als Leserin wegen ihrer Schrullen sympathisch finden könnte. Was | |
| andere als Schrullen verniedlichen würden, sind bei Jergović immer misogyne | |
| und boshafte Elemente. Oder auch: die ganz normalen Abgründe | |
| durchschnittlicher Bürger einer durchschnittlichen europäischen Stadt. | |
| ## Aus welchen Beständen das Gift sich nährt | |
| Zwar geht es in dem Roman zentral um den in der Zwischenkriegszeit immer | |
| aggressiver werdenden Antisemitismus. Aber noch viel eher geht es darum, | |
| aus welchen Bestandteilen sich dieses Gift immer wieder nähren kann und | |
| alle zu Irren, Idioten und Mördern machen kann, einfältige Trinker, | |
| belesene Kulturbürger, jüdische Gemeindevertreter. | |
| Salomon Tannenbaum wehrt sich sein Leben lang dagegen, Jude zu sein, aber | |
| weder die Juden noch die Nichtjuden lassen ihn in Ruhe. Und so fährt er | |
| allabendlich in Spelunken am Rande der Stadt und gibt sich dort als | |
| katholischer Geistlicher Emanuel von Keglević aus. Nur hier und nur hinter | |
| dieser Maske fühlt er sich als „einer von ihnen“ akzeptiert. Der Preis, den | |
| er dafür zahlt, ist hoch. Er wird eine vierköpfige Familie auf dem Gewissen | |
| haben. | |
| „Salomon Tannenbaum wollte Teil des Volkszorns sein, nicht dessen Opfer“, | |
| beschreibt Jergović gewohnt lakonisch die Motive seines | |
| Protagonisten.Tannenbaums Schwiegervater Abraham Singer, den er so hasst, | |
| weil er ihn immer wieder zum Juden macht, wird am Ende recht behalten: Der | |
| brutale Einstieg in den Roman korrespondiert mit seinem mörderischen Ende. | |
| Der Faschismus beginnt und treibt nur aufs Äußerste, was schon da war. | |
| Jergović’ Roman wurde bei seinem Erscheinen 2006 in Zagreb nicht sonderlich | |
| gut aufgenommen. Man empfand es als Schande und Diffamierung der Stadt. | |
| Ausgerechnet von einem Autor, der 1992 vor dem Krieg in Sarajevo nach | |
| Zagreb geflohen und hier aufgenommen worden war. | |
| Dabei ist der kroatische Autor Miljenko Jergović seit dem frühen | |
| Erzählungsband „Sarajevo Marlboro“ von 1994 für seine meisterhaft präzise | |
| Ausleuchtung der menschlichen Schmuddelecken bekannt. Auch wenn er das mit | |
| leichter Hand und großem Witz präsentiert: Dort, wo Jergović Licht anmacht, | |
| werden Monster sichtbar, die sich sonst bestens verstecken. Jergović’ | |
| großes literarisches Talent schafft es, diese Monster so zu inszenieren, | |
| dass sie, obwohl äußerst befremdlich, nicht fremd erscheinen. Es sind eben | |
| unsere Monster, die menschlichen Abgründe, die wir alle kennen, aber nicht | |
| gern benennen. Das aber muss man, zumindest um nicht überrascht zu sein, | |
| wenn sie wieder ausreichend gefüttert wurden, um die Kontrolle zu | |
| übernehmen. | |
| 25 Nov 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
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