| # taz.de -- Neues Album von Mica Levi: Immer schön ironisch bleiben | |
| > „Good Sad Happy Bad“ heißt das neue Album der Londoner | |
| > Experimentalpop-Künstlerin Micachu und ihrer Band The Shapes. | |
| Bild: Mica Levi inmitten von Micachu & the Shapes. | |
| Diese Szene wiederholt sich vier Mal im Film: Eine schöne Unbekannte | |
| schreitet in die diffuse Tiefe eines Raums. Mit jedem Schritt entkleidet | |
| sie sich mehr. Ein Mann macht es ihr wie gebannt nach. Stumpfes Klopfen | |
| begleitet die Bewegungen der beiden, dazu erklingt der kakophonische Klang | |
| von Streichern, deren langgezogene Töne schmerzhaft zerren. „Void“ heißt | |
| diese musikalische Sequenz und sie spitzt das Bedrohungsszenario zu, denn | |
| mit jedem Klopfen sinkt der Mann tiefer in den schwarzen Grund des Raums, | |
| dem Ende näher. | |
| „Under the Skin“ ist ein surrealistischer Film über die Industrialisierung | |
| des weiblichen Körpers und die Existenz außerirdischen Lebens. Nach der | |
| Romanvorlage von Michel Faber verfilmte Jonathan Glazer 2013 die Geschichte | |
| von einem Alien in weiblicher Gestalt, gespielt von Scarlett Johansson, der | |
| Männer verführt, mästet und später zu Nahrung zermahlt. Der Soundtrack | |
| wiederum kommt von der Londoner Künstlerin Mica Levi. | |
| Für ihre Filmmusik erhielt Mica Levi den „European Film Award“ und wurde | |
| für den Preis der British Academy of Film and Television Arts (BAFTA) | |
| nominiert. Komponiert hat Levi die mikrotonalen Arrangements 2013, während | |
| sie als jüngste Stipendiatin am Londoner Southbank Centre arbeitete. Zuvor, | |
| 2012, hat sie für das Sinfonietta Orchestra bereits „Chopped and Screwed“ | |
| komponiert. | |
| „Chopped and Screwed“ heißt auch eine HipHop-Remix-Technik, entwickelt von | |
| DJ Screw, einem texanischen Produzenten, der die gesampelte Vorlage extrem | |
| verlangsamte, Beats aus dem Mix nahm und Scratches einsetzte. Der Titel ist | |
| ein Statement, denn Mica Levis Musik ist sowohl in der High Academia als | |
| auch in der Popmusik verankert. Vorbilder für ihre Orchesterkompositionen | |
| sind etwa Iannis Xenakis und John Cage – deren konzeptuelle Kompositionen | |
| nannte sie als Inspirationsquelle für den Soundtrack zu „Under the Skin“ �… | |
| aber auch HipHop, Grime oder Death-Metal. | |
| Mica Levi, Jahrgang 1987, ist als Künstlerin eine echte Erscheinung. Mit | |
| ihrem schelmischen Konterfei – kurzes wildes Haar, die Lippen stets frech | |
| in einen Mundwinkel gezogen – brachte sie es dieses Jahr auf die Titelseite | |
| des britischen Musikmagazins The Wire. Im Londoner Nachtleben taucht sie | |
| als DJ mit zäh-wabernden HipHop-Remixes auf, produziert die junge | |
| R&B-Sängerin Tirzah und ist Mastermind der Band Micachu and the Shapes. Mit | |
| ihr veröffentlicht sie nun ein neues Album: „Good Sad Happy Bad“. | |
| Micachu nennt sie sich, wenn sie singt, Gitarre spielt und diverse | |
| selbstgebastelte Klangapparate bedient. The Shapes sind Keyboarderin Rhaisa | |
| Khan und der Schlagzeuger Marc Pell. Noch aus Schulzeiten an der Guildhall | |
| kennen sich die drei. Als sie 2008 die Band gründeten, hatten sie ein | |
| Projekt, resümierte Mica Levi im Interview mit The Wire: Mit ihrer Musik | |
| wollten sie die Technik von Sampling aushebeln. In Echtzeit und analog | |
| sollten synthethische Sounds aus der Popwelt reproduziert werden. Diesen | |
| Ursprungsgedanken hört man ihrem experimentellen Punk-Gemisch heute noch | |
| an. | |
| ## Mit Dilettantismus kokettieren | |
| Übersteuert, verschwommen ist der Sound von Khan und Levi auf dem neuen | |
| Album „Good Sad Happy Bad“. Dazu die klaren Beats von Drummer Perl. Immer | |
| kokettiert das Trio mit einem Dilettantismus, wie er etwa im Post-Punk | |
| gefeiert wird. Doch das Schrammelige ihres Sounds hat nichts mit | |
| Unwissenheit zu tun. Hier sind drei Musiker am Werk, die sich smart und | |
| rotzig einen eigenen, unverwechselbar anarchischen Stil erarbeitet haben. | |
| Jeder Makel ist bei Micachu and the Shapes präzise gesetzt. | |
| Drei Jahre ist es her, dass sie ihr Album „Never“ herausbrachten. Das neue | |
| Werk entstand eher aus Versehen: Das Trio fand sich für Proben zusammen, | |
| die in einem stundenlangen Jam mündeten. Drummer Marc Pell hatte die | |
| komplette Session – heimlich, heißt es – aufgenommen. Die Audio-Experimente | |
| müssen so gut gewesen, dass sich die drei kurzerhand entschieden, aus den | |
| Aufnahmen als Basis ein komplettes Album zu erarbeiten. | |
| Dass „Good Sad Happy Bad“ einem Jam entsprungen ist, machen die drei | |
| Musiker kenntlich. „Play it again“ hört man Mica Levi in ihrer rotzigen Art | |
| im Hintergrund sagen. Spitzbübisch hat die Band den Freistil-Sound der | |
| Session mit späteren Studioüberarbeitungen verschnitten. Ein Husten wird | |
| von Marc Pell zum Auftakt für die Drums umgewandelt, vereinzelte Takte | |
| werden gescratcht, Gesangspassagen sind wie aus dem „Off“ inszeniert. | |
| ## Drei-Minuten-Songs | |
| Insgesamt klingt „Good Sad Happy Bad“ jedoch überraschend: Während sie auf | |
| dem Vorgängeralbum „Never“ noch mit dem Pop-Kanon im Clinch lagen – | |
| Songstrukturen wurden gebrochen, Stile gemixt, und Nicht-Instrumente, wie | |
| etwa ein Staubsauger, als Klangerzeuger eingesetzt – so scheinen die drei | |
| nun ein bestehendes Ordnungssystem einfach auszublenden. | |
| Auf simpelste Motive brechen Micachu and the Shapes ihre Musik herunter. | |
| Einfache Tonfolgen von den verschwommenen Keyboards, ein paar Riffs auf der | |
| übersteuerten Gitarre und klare Drumbeats werden in den Loop gesetzt, bis | |
| sie die Länge eines Songs erreichen. Die Melodien singt Levi lose und | |
| unabhängig von den Harmonien, bis sie jeder Melodie enthoben werden. „The | |
| Sunclasses cover their eyes / And that’s so boring“ heißt es bezaubernd im | |
| Song „LA Poison“. Meditative Länge vermeidet die Band. Knapp drei Minuten | |
| dauert ihr längster Song. | |
| Levis Stimme klingt eigenwillig anders. Frech, rau, trocken, aber auch | |
| brüchig und fragil. Unbeteiligt wirkt sie, dabei improvisierend, beschwört | |
| den sentimentalen Untergrund ihrer Musik. Denn die Grundstimmung ist | |
| schwermütig: „Wanna feel sad / To be ok“ heißt es. Oder „It’s only | |
| suffering / That keeps my conscience clean“. Besonders zart wird Mica Levis | |
| Stimme in dem Song „Unity“. | |
| ## Uhuus, Ahaas und Deathmetal | |
| Dass gerade dieses Stück mit markerschütterndem Death-Metal-Gebrüll | |
| durchsetzt ist und Levi aus dem Off noch laszive „Ahaas“ und „Uhus“ | |
| beisteuert, ist ein klassischer Coup von Micachu: Immer ironisch bleiben. | |
| Doch so schelmisch diese Charme die Musik grundiert, eine starke | |
| Melancholie verbindet alle 13 Songs auf dem Album: „Good Sad Happy Bad“ | |
| trägt die Schwermut ja bereits in seinem Titel. | |
| Auch für den Soundtrack von „Under the Skin“ hat Levi eine melancholische | |
| Sequenz komponiert. In der Handlung beginnt die Alien-Figur plötzlich zu | |
| empfinden und zu zweifeln, und Levi vertont die Wendung der Protagonistin | |
| mit einem zitternden Streichersound, über dem eine minimale Melodie | |
| zwischen den Saiten eines Cellos zerrt. | |
| Der Cellist Oliver Coates hat das Stück mit dem Titel „Love“ letztes Jahr | |
| beim Londoner Kammer Klang aufgeführt. Seitdem kursiert ein viel geliktes | |
| Video davon im Internet. „Die Herkunft des Sounds sichtbar zu machen und | |
| eine visuelle Realität zu schaffen, ist ein Großteil meiner Arbeit“, so | |
| Levi im Interview. „Wenn du Musik hörst und den physikalischen Akt ihres | |
| Sounds sehen kannst, ist es aufregender. Es klingt, im Endeffekt, | |
| großzügiger.“ | |
| 12 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
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