# taz.de -- Neuer Artschoolpop von Britin Tirzah: Auffangbecken für Gefühle | |
> Tirzah dringt mit den traumhaft schönen Songs ihres neuen Albums | |
> „Colourgrade“ direkt zum affektiven Kern von Artschoolpop vor. | |
Bild: Englisches Wetter: Tirzah auf einem Hausdach | |
Tirzah Mastin lacht gerne. Zumindest zu Hause auf dem Sofa in ihrer Wohnung | |
in Sidcup, einer unwirtlichen Gegend von London, in der die Metropole | |
endgültig von der Groß- zur Vorstadt geworden ist. Die 33-jährige britische | |
Künstlerin beantwortet im Videocall Fragen über ihre Musik. Und wenn sie | |
nicht lacht, dann macht sie eine Sprechpause, schiebt ein „Äh“ oder | |
bekennt, sie „weiß nicht so recht“, bevor sie mit Bedacht nach ein oder | |
zwei Denkschleifen dann doch irgendwann Tacheles spricht. Es bleibt ein | |
nettes Gespräch: ungekünstelt und zugleich angenehm unprofessionell. | |
Momente wie diese machen es leicht, Tirzah Mastins Künstlerpersona mit | |
ihrer Musik kurzzuschließen. Vor drei Jahren, im August 2018, als [1][ihr | |
Debütalbum „Devotion“] veröffentlicht wurde, wirkte Tirzahs Musik noch wie | |
aus der Zeit gefallen. Mit schläfriger Stimme sang die junge Frau über | |
einen Vintage-Piano-Sound, Synthesizer-Hooklines und schlurfigen R&B-Beats | |
von alten Drumcomputern über Liebe und Hingabe. Und doch, Tirzah verlieh | |
jedem Gefühl passende Worte, etwa, eine Person trotz aller Fehler zu | |
begehren, und erklärte mehr als einmal, dass sie verflossene Liebhaber | |
lieber doch nicht zurückhaben möchte, obwohl ihr das oft schwerfällt. | |
Tirzah waren in den Songs von „Devotion“ einprägsame Lovesongs ohne Make-up | |
gelungen, in den besten Fällen sogar mit etwas Morgenatem. Auch auf | |
„Colourgrade“, ihrem heute erscheinendem zweiten Album, verliert sich | |
Tirzah wieder in den ganz großen Gefühlen, und es klingt trotzdem nie zu | |
dick aufgetragen, wirkt wie von leichter Hand komponiert. „Gonna let myself | |
/ Gonna trust again / Gonna show that I’m ok“ singt sie. | |
## Ähnliche Gefühlswelten | |
Im Hintergrund läuft erneut die Effektkette aus Hall, Echo und dumpf | |
klingenden Drums, diese Mischung simuliert perfekt Intimität. „Meine Songs | |
offenbaren nichts von mir persönlich“, erklärt sie dann der taz. „Alle | |
Menschen hegen doch solche oder ähnliche Gefühle. Also, das hoffe ich | |
zumindest.“ Und dann fängt sie wieder an zu kichern. | |
Okay, vielleicht ist es ein Fehler, von Tirzah Mastin, der schmunzelnden | |
Künstlerin am anderen Ende des Videocalls, auf Tirzah, die britische | |
Sängerin und Musikerin, zu schließen. Ihre Songs sind Kunstlieder, keine | |
Bekenntnisse. Vielleicht können sie aber auch einfach nur das, zu dem gute | |
Popsongs nun mal imstande sind: [2][Sie erzählen eine Geschichte] oder | |
finden eine Form für ein Gefühl, das so allgemein ist, damit es viele | |
Menschen ebenso empfinden. | |
Zugleich wirkt es so spezifisch, damit wir den Eindruck gewinnen, es singt | |
jemand nur zu uns. Oder vielleicht sogar über uns? Diese Art von Popsongs | |
zu komponieren ist die große Gabe von Tirzah. | |
## Momente, in denen das Sprechen schwerfällt | |
„Colourgrade“ ist dabei eine Art Fibel der Gefühle, ein Lesebuch für die | |
Momente, in denen Sprechen schwerfällt – vom Kennenlernen im Club bis zur | |
Vertrautheit, auch schwierige Situationen zu meistern. Tirzah vertont diese | |
Momente im Rückgriff auf die britische Popgeschichte: den lähmend | |
klaustrophobischen Beats von TripHop, den schroffen Gitarrenwänden des | |
Noisepop und der introspektiven Verträumtheit von Shoegaze. | |
Tirzah zitiert dabei aber nicht die musikalischen Elemente jener Stile, | |
sondern etwas anderes: ihren affektiven Kern. Das ist Postpunk, aber als | |
Methode: Alles auseinanderreißen und wieder von vorn beginnen. Schließlich | |
schuldet sie der Vergangenheit nichts. | |
An Geschichten mangelt es Tirzah dabei nicht, auch wenn sie sich betont | |
wortkarg gibt. „I got you / You got me / We made life“, singt sie in | |
„Beating“ – die Geschichte einer Geburt in neun Worten. Und tatsächlich … | |
auch Mastin zwischen ihrem ersten und ihrem zweiten Album zwei Kinder zur | |
Welt gebracht. Aber ob ihre Songs die überwältigenden Gefühle artikulieren, | |
ein Elternteil zu sein? Nein, so weit würde Tirzah dann doch wieder nicht | |
gehen. „Es ist unbestreitbar, dass ich über mich als Elternteil singe, aber | |
selbst eine Zeile wie ‚We made life‘ kann man nehmen und zu etwas anderem | |
machen“, sagt sie. | |
## Akustische Tagebucheinträge | |
Ihre Songs seien akustische Tagebucheinträge, meint Tirzah: „Wie | |
Lesezeichen. Es geht nicht um eine einzige Botschaft oder eine spezifische | |
Information. Die Songs reflektieren vage, wie wir uns an dem Tag gefühlt | |
haben.“ „Wir“, damit umschreibt Tirzah ihre Mitmusiker:innen [3][Mica | |
Levi] und Coby Sey. Levi und sie haben sich im Alter von 13 in einem | |
Musikinternat kennengelernt, an dem Mastin Harfe studiert hat. | |
Dort haben sie gemeinsam ihre ersten Songs im Studio der Schule aufgenommen | |
– das Highlight ihrer Schulzeit. Denn nach der Schule wurde Mastin erst | |
einmal Schmuckdesignerin und Levis Postpunk-Collagen eroberten zuerst die | |
Noisepop-Szene. bevor Mica Levi schließlich Soundtracks für Hollywoodfilme | |
komponierte. Aber der Kontakt riss niemals ab. „Immer wenn wir uns | |
getroffen haben, haben wir neue Songs gemacht“, erklärt Tirzah. „Es wurde | |
eine Angewohnheit, die alltäglicher Ausdruck unserer gewachsenen | |
Freundschaft war.“ | |
Die Songs aus dieser engen Verbindung wurden dann zu Tirzahs Debütalbum | |
„Devotion“, auf dem Coby Sey schließlich seinen Falsetto-Gesang | |
beisteuerte. Während Tirzah introvertiert in sich hineinnuschelt, singt Sey | |
mit der Klarheit des House-Crooners. „Wir waren danach zusammen auf Tour | |
und dieses Gefühl wollten wir in unseren gemeinsamen Songs festhalten.“ | |
Tirzah hat einen Song darüber gemacht: „Hive Mind“ heißt er, | |
„Schwarmintelligenz“, ein minimalistisches R&B-Duett mit Coby Sey. | |
## Intellektuell, aber nicht akademisch | |
Im Videoclip (gedreht von Levis Partnerin Leah White) verteilt Tirzah | |
Blumen an ihre Freunde Mica und Coby und spielt mit ihren Kindern auf der | |
Schaukel. Sie gehen spazieren und hängen hinter der Bühne mit ihr und | |
ihrem Partner, dem Musiker Kwake Bass, ab. Sie bilden ein Kollektiv, das an | |
den Rändern der britischen Musikszene die Traditionen von britischem | |
Artschoolpop fortsetzt: intellektuell, aber nicht akademisch; mit Blick auf | |
die Charts, aber ohne gesteigertes Interesse, dort mitzuspielen. | |
Und zugleich verbindet sie eine Freundschaft, ohne die ihre Musik nicht | |
denkbar ist. „Ich kann den beiden blind vertrauen“, sagt Tirzah. „Egal, ob | |
wir im Studio etwas aufnehmen oder einfach improvisieren, ich habe das | |
Gefühl, dass alles möglich sein könnte – ganz gleich, ob es albern klingt | |
oder ernstzunehmend.“ | |
Aus diesem blinden Vertrauen ist der vielleicht außergewöhnlichste Moment | |
von Tirzahs neuem Album entstanden: „Crepuscular Rays“, ein | |
sechseinhalbminütiges Stück. Über einem improvisierten Gitarrenloop driften | |
die Stimmen von Coby und Tirzah durchs Stereofeld und sind trotz der | |
Abwesenheit von Worten ein Auffangbecken für Gefühle. „Die Stimme ist ein | |
Instrument wie jedes andere“, meint Tirzah. „Oft finde ich erst eine | |
Melodie und danach diktiert ihre Phrasierung den Text.“ Ein perfekter | |
Popsong kann dabei trotzdem entstehen – nur unter veränderten Vorzeichen. | |
Vielleicht ist Tirzah einfach eine Art Anti-Diva. Anstatt sich mit ihren | |
Songs über das Leben hinauszuführen, führt sie uns näher an das heran, was | |
wir gerne verdrängen würden: die Momente der Sprachlosigkeit, die ein Song | |
am besten mit Sinn füllen kann. „Ich bin nicht anti-irgendwas“, sagt | |
Tirzah. „Ich bin für Höhen und Tiefen, am besten ungeschminkt.“ Und lacht | |
dann wieder. | |
1 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Christian Werthschulte | |
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