# taz.de -- Union und SPD in der Großen Koalition: Warten auf die Sozialdemokr… | |
> Diese Regierung wird großartig, verkündet die zukünftige Regierung. | |
> Eigenlob ist nötig, denn die SPD-Mitglieder müssen noch „Ja“ sagen. | |
Bild: Eine Gewinnerin, zwei Gewinner: Die Groko präsentiert ihren Vertrag. | |
BERLIN taz | Zwei Minuten reichen schon, um die dichte Choreografie eines | |
Regierungsstarts durcheinanderzubringen. Wo ist er nur? Angela Merkel | |
schaut starr in die Luft, geht zwei Schritte nach rechts, wieder zurück, | |
dann studiert sie angelegentlich den Raumplan an der Wand. | |
Das nervt sie ein bisschen jetzt. Die Bundeskanzlerin und der CSU-Chef | |
neben ihr tun etwas, was sie selten tun müssen. Merkel und Horst Seehofer | |
warten, ausgerechnet vor der Glasscheibe des Pförtners am Eingang des | |
Hauses der Bundespressekonferenz. Wie zwei Fahrradkuriere, die nicht | |
wissen, wo sie ihre Lieferung abgeben sollen. Wo steckt er? Ein | |
Sicherheitsmann joggt los. Schon 12.03 Uhr, eigentlich sollte es um 12 | |
losgehen. Oben, im Pressesaal, sitzen mehr als hundert Journalisten, sie | |
warten ebenfalls. | |
Endlich, da ist er: Sigmar Gabriel taucht auf, er nahm eine andere Tür. | |
Die kleine Szene illustriert, was in den nächsten zwei Wochen dem ganzen | |
Land bevorsteht. Warten auf die Sozialdemokratie. | |
## Die drei von der Groko | |
Der Koalitionsvertrag steht, doch jetzt beginnt das große Zittern. Denn das | |
letzte Wort haben die gut 470.000 SPD-Mitglieder; sie werden in den | |
nächsten zwei Wochen entscheiden, ob das 185 Seiten starke Gesamtkunstwerk | |
genug Sozialdemokratisches enthält. Alles, was in der Nacht zu Mittwoch und | |
danach passierte, steht unter Vorbehalt. Und es war auch eine Inszenierung, | |
die sich exklusiv an die SPD-Basis richtete, die alles noch gefährden kann. | |
An diesem Mittag sitzen eine Gewinnerin und zwei Gewinner vor der Presse. | |
Das jedenfalls ist, knapp zusammengefasst, die Botschaft. Merkel, Gabriel, | |
Seehofer – alle drei gestehen dem anderen seinen Auftritt zu. Jeder | |
präsentiert sich nach seiner Art. Die Kanzlerin: nüchtern, kontrolliert, | |
mit der ein oder anderen Spitze nach rechts oder links. Der SPD-Chef: | |
großspuriger, ausschweifend, manchmal zu länglich. Der CSU-Vorsitzende: | |
noch selbstbewusster als Gabriel, in der Sache minimalistisch. Es ist eine | |
eher müde Darbietung ohne inhaltliche Überraschungen. | |
Merkel spricht, wie so oft, frei von Überschwang. „Der Geist dieses | |
Vertrages heißt, dass wir eine Große Koalition sind, um auch große Aufgaben | |
für Deutschland zu meistern.“ Es ist der Versuch, dem Ganzen etwas Glanz zu | |
verleihen. Auch diese Koalition, so viel ist sicher, wird Merkel nutzen, um | |
das Bestehende zu wahren. Sie hat die Wahl vor allem deshalb gewonnen, weil | |
sie den zufriedenen Deutschen versprach, dass sich im Grunde nichts ändern | |
muss. Diesen Geist atmet auch der Vertrag, der den nulligen Titel | |
„Deutschlands Zukunft gestalten“ trägt. | |
Merkel wiederholt die zentralen Wahlkampfversprechen der Union, die sie in | |
den Verhandlungen durchgeboxt hat: solide Finanzen, keine Steuererhöhungen, | |
die Sicherung des Wohlstands. Die von der CDU verfochtene Mütterrente, bei | |
Merkel wächst sie zum „Riesenschritt“. | |
## Ein Vertrag für die „kleinen Leute“ | |
Auf jeden noch so kleinen Triumph zulasten des neuen sozialdemokratischen | |
Partners verzichtet die Kanzlerin. Die großen Punktsiege der SPD – den | |
Mindestlohn und die Reform bei der Staatsbürgerschaft – etikettiert Merkel | |
als „faire Kompromisse“. Bloß jetzt nicht unnötig die labile SPD-Basis | |
provozieren, von der in den nächsten 14 Tagen alles abhängen wird. | |
Sigmar Gabriel spricht an diesem Mittag bereits nicht mehr zu den | |
Journalisten vor seinen Augen, sondern zu seiner Parteibasis überall im | |
Land. Von Lastwagenfahrern, Fliesenlegern, Altenpflegerinnen redet der | |
SPD-Chef. Auch von seiner Mutter. Merkel trinkt ein Glas Wasser leer, | |
manchmal scheinen ihr die Augen fast zuzufallen. | |
Dieser Koalitionsvertrag sei ein „Vertrag für alle kleinen, fleißigen | |
Leute, die jeden Tag ihrer Verantwortung nachkommen“, versichert Gabriel. | |
Damit hat er durchaus recht: Die Koalition adressiert mit Beschlüssen wie | |
einer Lebensleistungsrente ausdrücklich Niedrigverdiener. Die SPD will in | |
dieser Regierung dokumentieren, dass sie aus dem Vertrauensverlust nach der | |
Agenda 2010 gelernt hat. | |
Gabriels Gesicht sieht grau aus, die Stirn liegt in tiefen Furchen. Er | |
referiert jeden noch so kleinen Verhandlungserfolg. Irgendwann ist er beim | |
„Bundesteilhabegesetz“ angekommen. Seine Botschaft könnte nicht eindeutiger | |
sein: Diesem Verhandlungsergebnis kann die Basis eigentlich nur noch | |
zustimmen. Der Mitgliederentscheid, verspricht er, werde ein „großer | |
Erfolg“. | |
## Alle halten sich an die Sprachregelung | |
Merkel blickt inzwischen mürrisch, so als verlange ihr Gabriels Auftritt | |
einige Geduld ab. Die kühle Strategin, sie sitzt eingekeilt zwischen zwei | |
Kerlen, die sich mit Genugtuung die Bälle zuspielen. Es geht um Gabriels | |
Übergewicht, die Ausfälligkeiten des CSU-Generalsekretärs. „Das war das | |
Schöne an diesen Koalitionsverhandlungen“, schwärmt Seehofer, „dass auch | |
mal Humor möglich war – ohne Langfristwirkungen.“ | |
Der Bayer hat die Pkw-Maut und das Betreuungsgeld durch die Verhandlungen | |
gerettet, er schmunzelt viel an diesem Mittwochmittag. Dass niemand weiß, | |
wie diese Vereinbarung zur Maut überhaupt umgesetzt werden soll, es scheint | |
ihn nicht zu scheren. Das Symbol zählt. | |
17 Stunden lang haben die drei bis zum frühen Mittwochmorgen im | |
Willy-Brandt-Haus verhandelt. Der Bürgersteig zwischen Absperrgittern ist | |
von Scheinwerfern taghell ausgeleuchtet, um kurz vor sechs Uhr gibt eine | |
sichtlich zufriedene Andrea Nahles ihre erste Bewertung ab. „Wir“, sagt | |
Nahles, „können dazu Ja sagen.“ Wir, die SPD. Der Satz ist eine Empfehlung | |
und zugleich ein Appell. | |
Einstimmig hatte das Verhandlerteam der SPD zuvor für den Vertrag gestimmt. | |
Und alle hielten sich an die Sprachregelung, das Beschlusswerk zu loben – | |
von Hannelore Kraft, der zunächst skeptischen Ministerpräsidentin aus | |
Nordrhein-Westfalen, bis hin zu Schleswig-Holsteins Landeschef Ralf | |
Stegner. Er sagte: „Für die Menschen, denen wir im Wahlkampf eine Menge | |
versprochen haben, ist einiges herausgekommen.“ | |
Das Lob von SPD-Linken wie ihm ist wichtig. Schließlich gilt es, skeptische | |
Ortsvereine von dem realpolitischsten aller Bündnisse zu überzeugen. | |
Niemand in der SPD hat das Trauma von 2009 vergessen: 23 Prozent nach einer | |
Großen Koalition, das darf nie wieder passieren. | |
Entsprechend zäh waren die Verhandlungen, die, so war von allen Seiten zu | |
hören, freundlich im Ton, aber hart in der Sache bestritten wurden. Die | |
15-köpfige sogenannte kleine Runde ging im ersten Stock der SPD-Zentrale | |
Punkt für Punkt die strittigen Paragrafen durch. In dieser Runde sitzen die | |
drei Parteichefs, die Fraktionsvorsitzenden, die Generalsekretäre und | |
wichtige Ministerpräsidenten. | |
## Viele Gucken Fußball | |
Eigentlich war geplant, auch die 77 Bundes- und Landespolitiker aus der | |
großen Runde an den entscheidenden Abschlüssen zu beteiligen. Doch diesen | |
Umweg sparen sich die unter Zeitdruck stehenden Parteien. So kommt es, dass | |
sich Klaus Wowereit in einem Sessel fläzt, Hubertus Heil eine Zigarette vor | |
dem Willy-Brandt-Haus raucht und viele Politiker drinnen Fußball schauen – | |
Dortmund gegen Neapel. | |
Kurz nach Mitternacht kommt Bewegung in die Sache. Nahles geht raus zu | |
ihren Länderkollegen und bittet sie dazubleiben, denn das gemeinsame Signal | |
am Ende sei wichtig. Fast im Stundentakt sickern jetzt Neuigkeiten zu den | |
wartenden Journalisten durch. Die Verhandler einigen sich auf einen | |
Mindestlohn mit Übergangsregelungen. Merkel, Seehofer und Gabriel ziehen | |
sich zu einem Sechsaugengespräch zurück, Hauptthema: Finanzen. | |
Um 4.55 Uhr fällt die Optionspflicht – ein Erfolg für die Sozialdemokraten, | |
die eine Einigung über den Doppelpass zur Bedingung gemacht hatten. Gegen 5 | |
Uhr geht es noch mal um die Finanzen, die Unionsleute dürfen nach außen | |
geben, was schon zuvor feststand: Keine neuen Schulden mit der Großen | |
Koalition. | |
Die allgemeine Müdigkeit hatte Folgen, am Ende flutschen sogar einige | |
Fehler in den hektisch verhandelten Koalitionsvertrag. Kurz vor Beginn des | |
Merkel-Auftritts wird der Presse ein Extrablatt mit Korrekturen gereicht. | |
Und wie steht’s mit der Last des Wartens? Kein Problem, versichert Merkel | |
einem fragenden Journalisten. Warum solle sie nicht zwei Wochen abwarten | |
können? „Warten kann ich. Ich sitze ruhig und mache meine Arbeit.“ Manches | |
SPD-Mitglied könnte das möglicherweise als Drohung verstehen. | |
27 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
Astrid Geisler | |
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