Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Musliminnen in Deutschland: Jenseits des Kalifats
> Islam? Seit den archaischen IS-Angriffen im Irak geht es nur um männliche
> Themen. Es ist Zeit, über moderne, junge Musliminnen zu reden.
Bild: Ehrgeiz: Viele Muslimas in Deutschland wollen hoch hinaus.
Es ist höchste Zeit, über die Frauen zu reden, über junge Musliminnen in
Deutschland. Ich mache sie hier zum Werkzeug meiner Absichten – so wie
andere, mit anderen Absichten, sich das ihre herausgreifen.
Es ist an der Zeit, über moderne junge Frauen zu reden, weil sich der Islam
aus Sicht der meisten Menschen in diesem Land erneut mit einem zementharten
Firnis des Archaischen überzogen hat. Längst verweht jene historische
Sekunde, als Muslimen etwas Emanzipatorisches zugetraut wurde, zu Beginn
der Arabellion.
Brutale, männliche Gewalt ist in diesen Tagen das Gesicht des Islam, sein
Fernsehgesicht. Eine Welt der Extreme, der albtraumartigen Szenen und
mittelalterlichen Verbrechen, in der ausschließlich Männer Handelnde sind,
Handelnde mit harten Konturen. Der Rest wie eine Fototapete, die
Frauen-und-Kinder-Tapete, verwischte Konturen, wehende Tücher, zerzaustes,
staubiges Kinderhaar.
Als die Zeitschrift Cicero die Frage stellte: „Ist der Islam böse?“,
bedeckte das Titelblatt eine blaue Burka, hinter deren Sehgitter eine
eingesperrte weiße Friedenstaube saß. Die Gefangenschaft der Frau und die
kriegerische Gewalt bilden in dieser Religion also eine Einheit, und die
Frauenfeindlichkeit des Islam ist ein integraler Bestandteil seines
Böse-Seins.
Es ist nicht alles falsch an dieser grafischen Metapher. Krieg und
Bürgerkrieg wirken als Patriarchatsverstärker, wie alle gewaltförmigen
Prozesse. Nur gilt das eben auch für den Kongo oder die Ukraine. Letzterer
fehlt es, um authentisch-archaisch zu wirken, am Wüsten- und Buschkolorit,
ansonsten auch hier die hart konturierte Männlichkeit, schwarz Maskierte
vor blassem weiblichem Hintergrund.
## Keine Zeit für Hausarbeit
Was den Islam betrifft, möchte ich nur um der Abwechslung willen einmal von
Frauen als Handelnden erzählen, zumal es sich um ein Phänomen handelt, das
direkt vor unserer Haustür stattfindet: die Dominanz der Frauen im neuen
muslimischen Aktivismus. Neulich bei der Bundeskonferenz von „Zahnräder“,
einem Netzwerk muslimischer Akademiker, das soziales Unternehmertum
fördert: im Saal zu 90 Prozent Frauen, meist mit Kopftuch. „Stellt euch die
Frage: Wie schmeckt Erfolg für mich?!“, rief die Moderatorin. Sie arbeitet
in England für Facebook.
Auf den Zahnräder-Konferenzen wetteifern die Teilnehmenden mit Projektideen
um die Gunst des Publikums und damit um ein Startgeld. Es zählt sozialer
Elan; davon haben die jungen Frauen anscheinend mehr. Eine Kandidatin, die
zertifiziertes Halal-Food zum Angebot großer Supermärkte machen wollte,
begründete ihr Projekt so: „Wir arbeiten den ganzen Tag und sind noch sonst
wie aktiv, da ist Hausarbeit einfach nicht drin.“
Beim neuen Avicenna-Studienwerk, das muslimische Studierende und
Promovierende fördert, bewarben sich mehr Frauen als Männer; wer die Szene
kennt, ist davon nicht überrascht. Von Frauen kam jüngst auch der Anstoß
für ein Netzwerk angehender muslimischer Lehrkräfte. Das Urteil über die
Verfassungsmäßigkeit des Kopftuchverbots für Lehrerinnen wird für diesen
Herbst erwartet, und die Verschleierten nehmen ihre berufliche
Diskriminierung nicht mehr widerstandslos hin.
Seit einigen Jahren schon zieht es Muslima in die Islamwissenschaft, ein
bei Gläubigen sonst nicht gut beleumundetes Fach, weil des Orientalismus
verdächtig. Das Studium zwingt junge Frauen, sich selbst mit den Augen der
anderen zu sehen und Distanz zu Glaubensfragen zu entwickeln, ohne sich um
einer besseren Note willen vom Glauben so weit zu entfernen, dass es ihnen
selbst als Verrat erschiene. Eine Gratwanderung, und vielleicht ist
gratwandern eher weiblich.
In den Islamverbänden, wo es um Macht geht, dominieren weiter die Männer;
in der Zivilgesellschaft und in den Jugendorganisationen dominieren die
Frauen. Warum das so ist? Musliminnen, die Kopftuch tragen, machen sich
sicht- und angreifbar; sie verspüren mehr Druck als Männer und haben ein
stärkeres Motiv, die sie umgebende Gesellschaft zu verändern. Aber es gibt
einen weiteren, womöglich wichtigeren Grund: Ehrgeiz. Beruflicher,
wissenschaftlicher Ehrgeiz. Der ist im deutschen Frauenbild ohnehin nur
bedingt vorgesehen. Und nun wird der Ehrgeiz einer neuen Generation von
Musliminnen lieber ignoriert, damit sie weiter in unsere
Integrationsfototapete passen: mit Schlabbermantel und Petersilienbüschel
in der Einkaufstasche. Verwischte Konturen.
Solange jede/r Zweite meint, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, bleibt
der auswärtige Islam, der Islam der Abendnachrichten, immer der echte und
eigentliche. Der IS-Kalif ist nicht nur wirkmächtiger als die Doktorandin
im Nachbarhaus; er ist realer.
## Der Islam wird weiblicher
Vor sieben Jahren schrieben Youssef Courbage und Emmanuel Todd, Forscher am
Pariser Institut National d’Études Démographiques, ihr Buch „Die
unaufhaltsame Revolution. Wie die Werte der Moderne die islamische Welt
verändern“. Sie stützten ihre These vor allem auf Frauen: Deren
Alphabetisierung und der damit einher gehende Geburtenrückgang treibe die
Modernisierung voran. Von Indonesien bis Iran erkämpfen sich Frauen Räume,
von denen ihre Großmütter nicht zu träumen wagten. Der Islam wird weltweit
weiblicher, auch wenn es in unseren Abendnachrichten nicht danach aussieht.
Das Kalifat-Gedröhne greift auch eine Geschlechtermoderne an, die überall
dort unterwegs ist, wo die Lebensumstände nicht von Waffenbesitzern
diktiert werden. Womöglich erleben wir das letzte Aufbäumen archaischer
Männlichkeit.
Für eine aktive, gebildete und ehrgeizige Muslima in Deutschland ist es
übrigens nicht leicht, einen akzeptablen Partner zu finden. Das Phänomen
ist ähnlich aus muslimischen Mehrheitsgesellschaften wie Oman oder Malaysia
bekannt, wo Mädchen die Jungen bereits an den Schulen hinter sich lassen.
Ein Mann, der sich in ein Netzwerk traut, in dem Frauen dominieren, hat
sich als Bewerber qualifiziert. Kriterien, die vom IS-Kalifat weiter
entfernt sind als der Wohnzimmersessel vom Fernsehapparat.
28 Aug 2014
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
Islam
Muslime
Muslima
Kalifat
„Islamischer Staat“ (IS)
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Medien
Zehn Jahre Arabischer Frühling
Religionsfreiheit
Muslime
Julia Klöckner
Fremdenfeindlichkeit
Evangelische Kirche
Schwerpunkt Rassismus
Australien
Evangelische Kirche
Kopftuch
USA
Schwerpunkt Rassismus
Antisemitismus
Islam
Schwerpunkt Angela Merkel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Fünf Jahre „Arabellion“: „Den Blick fürs Mögliche erweitert“
Wie hat die tunesische Revolution auf die Region abgefärbt? Die
Maghreb-Expertin Isabelle Werenfels über die Folgen dieses Aufbruchs.
Kommentar Neues Kopftuchurteil: Pegida wird jubeln
Das Verfassungsgericht erteilt der Ungleichbehandlung der Religionen in der
Schule eine Absage. Endlich. Aber es hat Türen für einen Kulturkampf
geöffnet.
Entscheidung Bundesverfassungsgericht: Kein pauschales Kopftuchverbot
Die Karlsruher Richter revidieren ihre Rechtsprechung: Künftig soll eine
„konkrete Gefahr“ als Grundlage für ein Kopftuchverbot bei Lehrerinnen
gelten.
Diskussion über Burka-Verbot: Den Schleier lüften
Die CDU diskutiert über ein Burka-Verbot. Dabei geht es nicht nur um die
Rechte der Frau. Für die Antragsteller belegt der Schleier mangelnden
Integrationswillen.
Kommentar Patriotische Europäer: Friedlich, nett und fremdenfeindlich
Xenophobie und Muslimfeindlichkeit sind weit verbreitet hierzulande. Auch
etablierte Medien und Politiker heizen die fremdenfeindliche Stimmung an.
Evangelische Islamkritik: Vom hohen Ross
Nikolaus Schneider vom Rat der evangelischen Kirche fordert eine Debatte
über Gewalt und den Koran. Der Stammtisch wird ihm applaudieren.
Halal in Frankreich: Lebensmitteltest hilft Muslimen
In Frankreich kommt ein Verbrauchertest für Schweinefleisch auf den Markt.
Rechte kritisieren die „Islamisierung“ der Gesellschaft.
Burkaverbot in Australien gelockert: Verschleierter Besuch im Parlament
Der Zutritt zum australischen Parlament sollte Burka-Trägerinnen verboten
werden. Nur wenige Tage später ist die Regelung jedoch schon wieder
zurückgenommen worden.
Evangelischer Pastor über Kopftücher: „Es gibt kein generelles Verbot“
Norbert Groß verteidigt kirchliche Einrichtungen, die keine bekennenden
Muslime beschäftigen möchten. Er kann sich aber Ausnahmen vorstellen.
Kopftuchverbot in christlicher Klinik: Ein haariges Urteil
Evangelische Einrichtungen dürfen muslimischen Krankenschwestern verbieten,
ein Kopftuch zu tragen. Das entschied das Bundesarbeitsgericht.
Neue Allianzen in Nahost: Die unerwünschte Geschichte
Die Terrormiliz IS rüttelt das westliche Freund-Feind-Schema durcheinander.
Aus Schurken werden Partner, aus Terroristen Brüder im Kampfe.
Muslimischer Schützenkönig: Wehret den Anfängen!
Brauchtum, Ehre, Manneszucht – der Schützenverein ist der
schrumpfschwänzige Fahnenträger abendländischer Werte. Da hat der Muslim
nichts zu suchen.
Antisemitismus in Deutschland: Gazakrieg wühlt deutsche Juden auf
Zentralrat der Juden fordert von Muslimen mehr Einsatz gegen
Antisemitismus. Der Publizist Grosser wirft jüdischen Verbänden blinde
Parteinahme für Israel vor.
Islamfeindlichkeit in Deutschland: Der Anti-Muslim
Er ist überzeugt, dass München kein Islamzentrum braucht. Im Laufe der
Jahre hat sich das einstige CSU-Mitglied Michael Stürzenberger
radikalisiert.
Junge Islamkonferenz: Kampf im Kopf
Bei der ersten Jungen Islamkonferenz versetzen sich junge BerlinerInnen in
die Rolle politischer Akteure – und gewinnen überraschende Erkenntnisse.
Kommentar Kanzlerin Merkel: Besser mit als ohne Angela
Locker bei der Bildung, offen gegenüber Migranten: Merkel sollte weiter
Kanzlerin bleiben. Denn nur sie garantiert einen linksliberalen Kurs.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.