# taz.de -- Fünf Jahre „Arabellion“: „Den Blick fürs Mögliche erweiter… | |
> Wie hat die tunesische Revolution auf die Region abgefärbt? Die | |
> Maghreb-Expertin Isabelle Werenfels über die Folgen dieses Aufbruchs. | |
Bild: StudentInnen auf den Stufen zum Theater an der Avenue Habib Bourguiba in … | |
taz: Frau Werenfels, hat die tunesische Revolution den Maghreb grundlegend | |
verändert? | |
Isabelle Werenfels: Sie hat sicherlich die Erwartungen der Bevölkerungen | |
nicht erfüllt. Aber sie hat den Blick für das Mögliche erweitert. | |
Der Funke sprang nicht auf die Nachbarstaaten über? | |
In Algerien hat sie zu keinerlei nennenswerten politischen Veränderungen | |
geführt. Nach wie vor herrscht dort ein autoritäres und höchst | |
intransparentes Regime. In Marokko sah sich der König durch die von | |
Tunesien inspirierten Proteste in seinem Land zu einer Verfassungsänderung | |
mit einigen wichtigen Konzessionen gezwungen. Die Zügel hält aber nach wie | |
vor er fest in der Hand. Nur in Tunesien hat sich das politische System | |
fundamental in Richtung Demokratie verändert. | |
Warum hat die Revolution in Tunesien nicht stärker auf die anderen | |
Maghreb-Staaten abgefärbt? | |
Es gab sehr unterschiedliche Voraussetzungen, und die politischen Eliten | |
haben geschickt gehandelt, um ihre Macht zu erhalten. | |
Weil in Marokko alle den König lieben? | |
Tatsächlich wird in Marokko die Monarchie als Institution von den wenigsten | |
grundsätzlich in Zweifel gezogen. Und das Regime ist weit weniger | |
repressiv, als es das Ben-Ali-Regime in Tunesien war. Der marokkanische | |
König hat schnell reagiert und einige wichtige Reformen selbst initiiert: | |
Der Regierungschef kommt von der stärksten Partei, es gab eine politische | |
Dezentralisierung. All das erweckt den Anschein von Offenheit und einer | |
Reformdynamik. Gleichzeitig stehen Journalisten und Wissenschaftler vor | |
Gericht oder dürfen nicht reisen, weil sie einen investigativen | |
Journalismus vorantreiben wollen oder mehr Meinungsfreiheit einfordern. | |
Und in Algerien? | |
Dort steht die Bevölkerung noch unter dem Trauma des Bürgerkriegs der | |
1990er Jahre. Es gibt ein multipolares undurchsichtiges Machtsystem, das | |
Protestierenden keine klare Zielscheibe bietet. Und es gibt gewisse | |
Freiheiten und damit politische Ventile. Vor allem aber kann durch Erdöl- | |
und Gasreichtum der soziale Frieden erkauft werden. So wurden nach der | |
tunesischen Revolution die Löhne in Algerien massiv erhöht. | |
Sie sagten einmal, dass Tunesien kein Öl hat, sei ein Segen … | |
Erdölreiche Staaten tun sich schwer mit dem Demokratisierung: Öl erlaubt | |
es, Loyalität zu erkaufen und Proteste schnell zu ersticken – etwa durch | |
Subventionserhöhungen oder höhere Löhne. Das ist aber keine nachhaltige | |
Stabilisierungspolitik. Zudem gilt: Wer die Öleinnahmen kontrolliert, hat | |
die Macht. Das fördert die Winner-takes-all-Mentalität und führt zu | |
Machtkämpfen. Das sieht man unter anderem auch in Libyen. | |
Gibt es ein unterschiedliches kulturelles Selbstbewusstsein in den drei | |
Maghreb-Staaten? | |
Ich würde es so formulieren: Die unterschiedlichen historischen Erfahrungen | |
und postkolonialen Entwicklungen haben die Gesellschaften anders geprägt. | |
Marokko hat eine selbstverständlichere Identität, die religiöse und | |
ethnische Diversität – Sufis, Berber, jüdische Marokkaner – einschließt.… | |
hat auch gegenüber Afrika weniger gesellschaftliche Berührungsängste. | |
Algerien hat durch die brutale Kolonialerfahrung und den | |
Unabhängigkeitskrieg eine weniger bunte offizielle Identität, die | |
kulturelle Identität der Berber etwa wurde lange nicht anerkannt. Es gibt | |
wenig Erfahrung, dass politische Konflikte friedlich gelöst werden können. | |
Prägend ist auch das enge, aber höchst ambivalente Verhältnis zu | |
Frankreich. Tunesien ist ein Kleinstaat, es hat keine | |
Regionalmachtambitionen. Und es ist stärker nach außen orientiert und | |
historisch bedingt konsensorientierter. | |
Gilt Tunesien denn als Vorbild? | |
Je mehr Unsicherheit und Gewalt die arabischen Revolutionen brachten, desto | |
weniger protest- und experimentierfreudig wurden die arabischen | |
Bevölkerungen. Heute wird Tunesien etwa in Algerien nicht als Erfolg | |
wahrgenommen. Uns geht es besser, hört man sowohl in Marokko als auch in | |
Algerien. Sicherheit gilt als hohes Gut. Und vor allem: Die | |
Arbeitslosigkeit ist in diesen Staaten deutlich geringer. | |
Ist die tunesische Revolution also gescheitert? | |
Keinesfalls! Gerade vor dem Hintergrund der schwierigen Bedingungen in | |
dieser Region ist die Entwicklung in Tunesien bemerkenswert positiv. Es | |
wurden große Freiheiten erreicht, eine neue fortschrittliche Verfassung | |
wurde ausgearbeitet, und – was auch auf symbolischer Ebene wichtig ist: Die | |
tunesischen Islamisten haben die Demokratisierung mit vorangetrieben. Die | |
islamistische Ennadha-Partei hat sich selbst auch in religiösen Belangen – | |
wenn auch auf Druck der Zivilgesellschaft und unter dem Eindruck der | |
Ereignisse in Ägypten – zunehmend kompromissbereit gezeigt. Aber es ist ein | |
sehr fragiler Prozess. Die Bevölkerung ist enttäuscht, weil sie nicht „nur�… | |
Freiheit, sondern mehr wirtschaftliche Chancen und Gerechtigkeit und | |
weniger Korruption erwartet hat. Zudem hat sich durch die Terroranschläge | |
die Sicherheitslage verschlechtert. | |
Viele TunesierInnen kritisieren, dass die islamistische Ennadha-Partei | |
salafistischen Strömungen im Land die Tür geöffnet hat. | |
Die Ennadha hat direkt nach der Revolution in der Tat versucht, die | |
Salafisten einzubinden, bzw. hat diese gewähren lassen. Sie hat – nicht zu | |
Unrecht – argumentiert, dass sie die Fehler des ehemaligen Diktators, der | |
alle Islamisten unterdrückt hat, nicht wiederholen will. Sicherlich hat sie | |
auch auf Wählerstimmen geschielt. Aber das Erstarken der Salafisten ist vor | |
allem in Tunesiens Geschichte begründet, in sozioökonomischen Problemen und | |
den regionalen Entwicklungen. | |
Was macht den jungen Menschen in der Region Hoffnung? Was schafft | |
Identität? | |
Studien ergaben, dass Arbeit und Familie auch für die Jugendlichen am | |
wichtigsten sind. Die traditionellen Familienstrukturen erodieren aber, und | |
es gibt für viele keine Arbeit. Die Orientierungslosigkeit ist daher sehr | |
groß. Schwierig ist diese Entwicklung vor allem für das Selbstbewusstsein | |
junger Männer, wenn hinzukommt, dass Frauen die wichtigeren Versorger der | |
Familie sind. Der Salafismus ist attraktiv, nicht weil er gewalttätig ist, | |
sondern weil er klare Vorgaben und männlich geprägte Orientierung gibt. | |
Antworten auf die Sinnsuche. | |
Wie viel Mittelmeer – oder Weltoffenheit – steckt im Maghreb? | |
Sehr, sehr viel, aber eben nicht nur. Die Maghreb-Staaten sind zweigeteilt: | |
in den Norden am Mittelmeer und die Sahara im Süden. Diese Zweiteilung | |
spiegelt sich in anderen wirtschaftlichen, kulturellen und | |
gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken wider. Marokko hat den Süden am | |
stärksten angenommen, primär aus politischen Gründen wegen der Westsahara. | |
Insgesamt gibt es aber in allen drei Ländern eine starke | |
Nord-Süd-Hierarchie und einen innergesellschaftlichen Rassismus gegenüber | |
dem Süden. | |
Sind die drei Länder Tunesien, Marokko, Algerien untereinander vernetzt? | |
Die maghrebinische Integration existiert nur auf dem Papier. Die | |
wirtschaftlichen Beziehungen sind sehr schwach. Tunesien unterhält gute | |
politische Beziehungen zu beiden Staaten, aber das Verhältnis zwischen | |
Algerien und Marokko ist aufgrund des Westsaharakonflikts sowie einer | |
grundsätzlichen Konkurrenz angespannt. Gesellschaftlich existieren | |
erstaunlich wenige Verbindungen. Paradoxerweise ist die Orientierung nach | |
Frankreich oftmals stärker als die an den Nachbarn. Ich analysiere gerade | |
maghrebinische Twitter-Netzwerke, da ist das ganz deutlich – ein | |
tunesischer Twitter-Nutzer hat es einmal so formuliert: „Was uns | |
Maghrebiner verbindet, ist das französische Fernsehen.“ | |
Welche Rolle spielt Europa im politischen Prozess? | |
Die europäische Mittelmeerpolitik war in der Vergangenheit nicht sonderlich | |
erfolgreich. Unter anderem weil Europa primär eigene wirtschaftliche und | |
Sicherheitsinteressen verfolgt hat. Die Maghreb-Länder kritisieren vor | |
allem das Fehlen von Personenfreizügigkeit und fordern | |
Visumerleichterungen. Allerdings: Europa hat in Tunesien seit der | |
Revolution eine positive Rolle gespielt. Aber es hat sich vor allem auf den | |
politischen Prozess konzentriert; die wirtschaftliche Unterstützung fiel | |
definitiv zu bescheiden aus. | |
Wie stark gefährdet der Terrorismus die demokratische Entwicklung besonders | |
in Tunesien? | |
Ich sehe hier eine wachsende Gefahr: Durch den Kampf gegen den Terrorismus | |
und die damit verbundene sehr hohe Gewichtung von Stabilität wird zu wenig | |
auf negative Tendenzen geachtet: So agiert in Tunesien der alte, nicht | |
reformierte Sicherheitssektor zunehmend wieder mit Repression, Folter und | |
willkürlichen Übergriffen. Autoritäre Reflexe in der politischen Elite | |
nehmen zu. So positiv viele Entwicklungen sind: Es ist keine kluge oder | |
nachhaltige Politik, davor die Augen zu verschließen. | |
14 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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