# taz.de -- Proteste in Marokko: „Wir sind Lehrer, keine Terroristen“ | |
> Angehende LehrerInnen streiken und protestieren seit Monaten gegen | |
> Einstellungshürden und Kürzungen. Der Staat reagiert hart. | |
Bild: „Nein zu den beiden Verordnungen“: Ein angehender Lehrer protestiert | |
CASABLANCA taz | „Silmya, silmya, silmya“, rufen die jungen LehrerInnen auf | |
der Straße von Casablanca, als die Polizisten zuschlagen. Silmya heißt | |
„friedlich“ auf Arabisch. Lehramtsreferendare aus der ganzen Region sind | |
mit Bussen in die Großstadt gekommen, um zu protestieren. Zwei Verordnungen | |
der Regierung könnten 3.000 von ihnen arbeitslos machen. Doch die Polizei | |
versucht, den Protest zu unterbinden. Sie umzingelt die Demonstrierenden | |
und prügelt auf die ersten Reihen ein, bis alle weglaufen. Kurz danach | |
beginnt der geplante Marsch doch noch. | |
Die Demonstration in Casablanca ist eine unter vielen im ganzen Land. Seit | |
Monaten sind die angehenden LehrerInnen im Streik. Immer wenn sich die | |
Lehramtsreferendare zu einem gemeinsamen Marsch treffen, tragen sie die | |
weißen Kittel, die sie oft in den Schulen tragen, und binden sich Tücher um | |
die Stirn, auf denen „Nein zu den zwei Verordnungen“ steht. | |
In Casablanca liest man auf einem Transparent: „Wir sind Referendare und | |
keine Terroristen!“ Dennoch hat es am Ende des Tages wieder 30 bis 40 | |
Verletzte unter den DemonstrantInnen gegeben. Die heftigste Repression | |
erlebten die StudentInnen in der Küstenstadt Inezgane im Südwesten des | |
Landes. Ein Foto von Lamiae, einer jungen Frau mit einer schlimmen | |
Kopfverletzung, kursiert seither in den sozialen Netzwerken. | |
Marokko ist nicht das sichere Land, zu dem es die Bundesregierung kürzlich | |
im Asylpaket II erklärt hat. Nicht für politisch Verfolgte. Und noch nicht | |
mal für friedliche DemonstrantInnen. 2011, mit der Bewegung des 20. | |
Februar, forderten die MarokkanerInnen Gerechtigkeit, Freiheit und | |
Menschenwürde. Der Arabischer Frühling in Marokko endete mit der | |
Verabschiedung einer modernisierten Verfassung, die Monarchie blieb | |
bestehen. Doch die Proteste sind dadurch nicht ausgeblieben. Sie sind nur | |
präziser geworden. | |
## Gehalt halbiert | |
Im Juli 2015 hat das marokkanische Bildungsministerium unter dem | |
Regierungschef Abdelilah Benkirane zwei Verordnungen verabschiedet. Sie | |
sind ein Beispiel dafür, wie sich die Regierung immer mehr aus dem | |
Bildungssektor zurückzieht. Wer Lehrer an einer öffentlichen Schule werden | |
will, muss sich nach dem fachlichen Bachelor für eine einjährige | |
Pädagogikausbildung bewerben. Sie ähnelt dem deutschen Referendariat. Eine | |
Verordnung soll nun die monatliche Vergütung von umgerechnet 225 auf 110 | |
Euro kürzen – in Casablanca reicht das nicht einmal für die Miete eines | |
Zimmers. Die zweite Verordnung sieht vor, dass die Referendare nicht mehr | |
automatisch nach der Ausbildung in öffentlichen Schulen eingestellt werden. | |
Die 10.000 Absolventen müssen sich einem weiteren Auswahlverfahren | |
unterziehen, nur 7.000 von ihnen sollen eine Anstellung beim Staat | |
bekommen. Dabei gibt es bereits ein dreistufiges Aufnahmeverfahren. Nur | |
jeder 13. bekommt überhaupt einen Referendariatsplatz, 120.000 Bewerber | |
gehen leer aus. | |
„Nach dieser ganzen Prozedur noch ein Examen?“, stöhnt Younes Louzi, der in | |
der Hauptstadt Rabat studiert und Englischlehrer werden will. Er nimmt | |
regelmäßig an den Demonstrationen teil. Die Verordnungen sieht er als ein | |
Teil der „neoliberalen Agenda der Regierung, Bildung und Medizin zu | |
privatisieren“. Als Louzi und seine Mitreferendare vergangenes Jahr von den | |
Verordnungen erfuhren, diskutierten sie zunächst nur darüber. Kurz darauf | |
bildeten sie, wie angehende LehrerInnen im ganzen Land, ein Komitee, um | |
sich gegen die Sparpläne zu wehren. Im Oktober schlossen sich fast alle der | |
landesweit 41 Ausbildungszentren für Referendare einem nationalen Streik | |
an. Aus Studierenden wurden Aktivisten. | |
So wie Samina Lahnaoui. Die angehende Lehrerin ist unzufrieden: „Wir haben | |
ein Recht auf Arbeit, aber warum finden Leute mit einem Abschluss keine | |
Arbeit? Wir haben die Freiheit zu streiken, also warum schlägt die Polizei | |
uns?“ Lahnaoui glaubt, dass die Regierung nicht in Bildung investieren | |
will, damit die Menschen nicht ihre Rechte kennen lernen und so | |
widersprechen können: „Die Regierung will, dass wir Analphabeten bleiben“, | |
sagt Lahnaoui. Eine Grenze gebe es aber bei den Protesten: Die Monarchie | |
und der König Mohammed VI. würden nicht kritisiert. Ihre Familie | |
unterstützt Samina Lahnaoui bei der Entscheidung, bei dem Streik | |
mitzumachen. | |
Anders bei Younes Louzi: Von seiner konservativen Familie bekommt er keinen | |
Rückhalt. Die ersten drei Monate verheimlichte er ihnen, dass er sich beim | |
Streik beteiligte. Dann entdeckte ihn jemand aus der Familie auf einem | |
YouTube-Video einer Demonstration. Seine Mutter bittet ihn seither, von den | |
Protesten fernzubleiben. Den Kontakt mit seinem Vater meidet Younes Louzi, | |
aus Angst, nur angebrüllt zu werden. | |
Seine Aktivität könnte für ihn berufliche Folgen haben: Der Direktor seines | |
Ausbildungszentrums hat ihm angedroht, ihn von der Schule zu werfen, sollte | |
er seinen Streik nicht beenden und die Ausbildung wiederaufnehmen. Louzi | |
scheint es darauf ankommen zu lassen: „Ich glaube daran, was ich tue.“ | |
Das marokkanische Bildungssystem hat viele Schwachpunkte. Jeder dritte | |
Marokkaner ist Analphabet, unter Frauen ist es sogar fast jede Zweite. Laut | |
Vereinten Nationen lernen weniger als die Hälfte der marokkanischen Kinder | |
Grundlagen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Der Ruf der öffentlichen | |
Schulen verschlechtert sich stetig. In manchen Klassen sind bis zu 70 | |
SchülerInnen. Weil Lehrkräfte fehlen, werden Klassen zusammengelegt. Wer es | |
sich leisten kann, schickt seine Kinder auf Privatschulen. „Damit in jeder | |
Klasse nicht mehr als 45 Schüler sind, bräuchten wir 15.000 statt 7.000 | |
Lehrer“, sagt Referendar Younes Louzi. | |
Es ist nicht das erste Mal in jüngster Zeit, dass Studierende gegen die | |
Pläne der Regierung auf die Straße gehen. Im September und Oktober | |
protestierten die MedizinstudentInnen gegen einen schlecht bezahlten | |
„Zivildienst“. Die Regierung wollte, dass die Mediziner nach dem Studium | |
weitere zwei Jahre in einer ländlichen Region arbeiten. Das Diplom hätten | |
sie erst danach bekommen. Die MedizinstudentInnen riefen zum nationalen | |
Streik auf. Den obligatorischen Dienst bezeichneten sie als | |
verfassungswidrig. Auch Fachärzte schlossen sich dem Streik an. | |
Professoren, Parteien und andere Fakultäten unterstützen sie. 60 Tage lang | |
boykottierten die Studierenden den Unterricht und einige Dienste in den | |
Krankenhäusern. Sie halfen nur noch bei Notfällen und im | |
Bereitschaftsdienst. Der Streik behinderte den Betrieb in den | |
Krankenhäusern derart, dass die Regierung das Gesetz verwarf. | |
Im Gegensatz zu den MedizinstudentInnen haben die LehramtsanwärterInnen | |
kein wirksames Druckmittel. Fehlen die Referendare in den Schulen, legt das | |
noch nicht den Betrieb lahm. Immerhin zeigen auch ältere KollegInnen | |
Solidarität und beteiligen sich mittlerweile an den Kundgebungen. Auch | |
einige Gewerkschaften und Organisationen unterstützten den Streik mit | |
kleinen Spenden. | |
## Regierung legt Köder aus | |
Bisher ist die Regierung nicht kompromissbereit, sie hält an den | |
Verordnungen fest. Ihr letztes Angebot: Sie werde zum Januar 2017 alle | |
10.000 Referendare des aktuellen Jahrgangs übernehmen. Eine zusätzliche | |
Prüfung müssten sie jedoch trotzdem schreiben. Die Details soll eine | |
Kommission regeln, der auch Referendare angehören sollen. | |
Younes Louzi lehnt das Angebot ab, das nur dem aktuellen Jahrgang hilft: | |
„So werden die beiden Verordnungen doch umgesetzt.“ Anstatt in einen | |
ernsthaften Dialog zu treten, unterdrücke die Regierung die Referendare. Er | |
befürchtet, dass bald die Repression noch härter wird. Erst vergangene | |
Woche hat ihnen die Regierung verboten zu demonstrieren. | |
Die Geduld von Regierungschef Benkirane scheint aufgebraucht. Im Parlament | |
sagte er: „Ich habe den Lehrerpraktikanten gesagt, in die Schulen | |
zurückzukehren, möge Gott ihnen den guten Weg zeigen.“ | |
21 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Luisa Meyer | |
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