# taz.de -- Filmfest von Carthage in Tunesien: Dezentralisierung seit der Revol… | |
> Das Filmfest von Carthage feiert 50. Geburtstag. Geboten werden | |
> Autorenfilme vor allem aus Afrika und den arabischen Ländern: politisches | |
> Kino. | |
Bild: Der ägyptische Regisseur Mohamed Diab erhält die silberne Tanit, den zw… | |
Auf der Avenue Habib Bourguiba ist die Hölle los. Die Vögel in den Bäumen | |
auf dem Mittelstreifen der Flaniermeile von Tunis scheinen mit den | |
Hunderten Kinogängern, den Trommeln und den hupenden Autos im Wettstreit zu | |
liegen. Dazwischen droht ein Trupp Gewerkschafter durch ein schepperndes | |
Megafon mit Streik. Der alte Herr mit dem roten Filzkäppi und dem riesigen | |
Plakat auf Französisch und Arabisch bringt seine schlichte Botschaft | |
lautlos rüber. Er flaniert den Boulevard auf und ab und demonstriert: „Für | |
unser schönes Land und seine wunderbaren Menschen.“ Er ist sicherlich keine | |
Idee des ideenarmen Tourismusministeriums. | |
Montag, der 31. 10. 2016. Trauben von Menschen sitzen auf der Treppe vor | |
dem Kino Colisée. Sie stehen in dieser angestaubten 60er-Jahre-Passage vor | |
der verruchten Bar. Hinter den dicken roten Vorhängen wird in dem einst | |
repräsentativen Stadtcafé bierernst getrunken. Ausschließlich Männer. Junge | |
Männer und Frauen, Paare, Gruppen warten schon seit Stunden vor dem Kino. | |
Nicht der billige Eintrittspreis von 1 Euro 20 lockt sie. | |
„Es ist was los“, sagt einer. „Und es macht Spaß.“ Geboten wird Autore… | |
vor allem aus Afrika und den arabischen Ländern. Boten des guten | |
Geschmacks, des engagierten sozialen und politischen Films, der die | |
aktuellen Probleme aufgreift – dafür steht das Filmfest von Carthage, das | |
in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert. | |
Im Colisée wird „Zaineb n’aime pas la neige“ (Zaineb mag keinen Schnee) … | |
dem tunesischen Regisseur Kaouther Ben Hania gespielt. Es wird der Gewinner | |
der „Tanit d’Or“ werden. Anschließend läuft der Dokumentarspielfilm „… | |
d’ébène“ (Ebenholz) des senegalesischen Regisseurs Moussa Touré. Beide | |
Filme sind im Wettbewerb der 27. Filmfestspiele von Carthage, die seit 2014 | |
nicht mehr im Zweijahresrhythmus, sondern jährlich stattfinden. | |
## Kino, ein Motor der Entwicklung | |
Moussa Touré erzählt die Geschichte zweier Afrikaner, die von ihrem König | |
verkauft, von französischen Häschern gefangen und auf die karibischen | |
Antillen verschleppt werden. „Zaineb mag keinen Schnee“ ist die Geschichte | |
einer neunjährigen Tunesierin, die nach dem tödlichen Unfall ihres Vaters | |
mit der Mutter nach Kanada emigrieren soll. Aber sie will nichts von Kanada | |
wissen. | |
Der Kinosaal mit seinen verblichen grünen Plüschsesseln ist bis zum letzten | |
Platz ausverkauft. Das Festival ist beliebt und populär. Die jungen | |
Tunesierinnen finden hier sich und ihre Probleme wieder. Beispielsweise in | |
dem Eröffnungsfilm „Fleur d’Alep“ des tunesischen Regisseur Ridha Behi. … | |
ist die Geschichte einer jungen Frau, die sich den Dschihadisten | |
anschließt. Oder der Film „The Revolution Won’t Be Televised“ von der | |
senegalesischen Regisseurin Ram Thiaw. Ein Film über alte Männer, die | |
brutal an ihrer Rolle als Staatsoberhäupter festhalten. Das kennt man nicht | |
nur im Senegal. | |
Als der senegalesische Präsident Abdoulaye Wade 2011 erneut kandidieren | |
will, formiert sich der Widerstand. Kurz nachdem einige Schulfreunde, unter | |
ihnen die Rapper Thiat und Kilifeu, die Bewegung „Y’en a marre“ (Wir haben | |
die Schnauze voll) gegründet hatten, stößt die Filmemacherin Rama Thiaw | |
hinzu – und dokumentierte die Ereignisse aus der „Innensicht“. „The | |
Revolution Won’t Be Televised“ ist ein Film über ein Land im Umbruch, in | |
dem zwei Drittel der Bevölkerung unter 25 Jahre alt sind. | |
Die Filmfestspiele von Carthage stehen in einer progressiven Tradition | |
Tunesiens. Es begann als Bewegung des postkolonialen Südens für Diversität, | |
für Entwicklung, Demokratie und die Beziehung zum afrikanischen Kontinent | |
und den arabischen Ländern. Eine „aufklärerische Flamme“, die seit den 60… | |
Jahren das Land mit modernisiert hat. „Afrikanisches Kino entsteht aus dem | |
KDie Festspiel stehen in einer progressiven Traditionampf“, sagt der | |
Gründer des Festivals, Tahar Cheriaa, in dem Dokumentarfilm „Im Schatten | |
des Baobab-Baums“ zur Geschichte des Festivals von Mohamed Challouf. | |
Cheriaas Credo: „Kino regt das Denken an, es ist ein Motor der Entwicklung | |
und Kultur.“ | |
## Filme, die sonst kaum auf der Bildfläche erscheinen | |
Auch die diesjährigen Filme im Wettbewerb kommen aus Algerien, Marokko, | |
Syrien, Irak, Ägypten, Palästina, Jordanien, Katar, Madagaskar, Bahrain, | |
Libanon, Saudi-Arabien, Ruanda, Tschad, Senegal, Burkina Faso, Südafrika, | |
Kamerun, Äthiopien, Sudan, Mosambik und Uganda – aus Ländern, die sonst | |
kaum auf der Bildfläche erscheinen. | |
„Tunesien könnte die Plattform für das afrikanische und das arabische Kino | |
sein. Eine Plattform für Austausch und Kommunikation. Dafür wurde das | |
Festival gegründet“, sagt der senegalesische Filmemacher Moussa Touré mit | |
seinem Markenzeichen, einem Käppi in leuchtenden Rastafarben. „Aber leider | |
versteht man hier nicht, dass die wunderbare arabische Sprache von vielen | |
nicht gesprochen wird.“ Man könne eine Debatte oder ein Kolloquium nicht | |
auf Arabisch führen, selbst wenn es um die Filme des ägyptischen Regisseurs | |
Youssef Chahine gehe. „So schließt man Leute, Afrikaner oder Europäer, aus. | |
Tunesien hat den Schlüssel für die Integration der arabischen und | |
afrikanischen Länder. Denn: Nur der Dialog kann den Konflikt vermeiden“, | |
sagt Touré im Frühstückssaal des Hotels Africa, dem höchsten Hotel von | |
Tunis, wo sich während des Festivals „tout le monde“ des Kinos trifft. | |
## Hier gelingt der Dialog zwischen Regisseur und Publikum | |
Touré ist fasziniert von den gefüllten Kinosälen, der schieren Masse junger | |
Leute, vor allem Frauen, die zu den Vorführungen kommen. „Ich als Regisseur | |
sehe den Film als eine Form des Dialogs mit dem Publikum. Hier gelingt | |
dieser Dialog außerordentlich gut“, sagt er. | |
Touré, der auch Präsident der Jury für Dokumentarfilme beim Festival | |
panafricain du Cinéma de Ouagadougou ist, beklagt, dass immer mehr Kinosäle | |
geschlossen werden: „Wir machen Filme, aber wir können sie nirgends | |
zeigen“, sagt er. Das gilt auch für Tunesien. 14 Säle in der Hauptstadt und | |
Umgebung gibt es noch. Sechs weitere im ganzen Land. Als das Festival 1966 | |
vom tunesischen Filmexperten Tahar Cheriaa und dem damaligen Kulturminister | |
Chedli Klibi gegründet wurde, hat das Land zum Vergleich 165 Kinos – 59 | |
allein in Tunis. Damals existierte eine boomende New-Wave-Cinema-Szene. | |
Im Rahmen des diesjährigen Festivals von Carthage wurden überall im Land | |
Filme gespielt. Dezentralisierung ist ein Anspruch seit der Revolution. | |
Auch in den Gefängnissen von Bizerte, Mahdia, Sousse und Touzeur wurden | |
aktuelle Filme vorgeführt. Im Frauengefängnis Manouba in Tunis wird der | |
Film „Inhebbek Hedi“ gezeigt. Der Debütfilm des Tunesiers Mohamed Ben Attia | |
wurde auf der Berlinale 2016 als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet. | |
## Kino für die Frauen im Knast | |
Ungefähr 50 Frauen jeden Alters folgen aufmerksam der Vorstellung, und sie | |
diskutieren danach angeregt mit dem Regisseur, den Schauspielern Bouzouika | |
Sabah und Majid Mastoura. „Ein Liebesfilm ist das wohl eher nicht“, | |
behauptet eine Insassin. Warum, will der Regisseur wissen. „Weil er | |
schlecht ausgeht.“ Eine andere findet, dass alle Eltern ihn sehen sollten, | |
damit sie nicht so streng zu ihren Kindern sind. Auch sie habe rebelliert | |
und sei hier gelandet. | |
Mohamed Ben Attia, der Regisseur von „Hedi“, ist ein großer Fan des | |
Festivals von Carthage: „Das ist für mich Nostalgie. In meiner Jugend war | |
ich immer dort, und es hat mich sehr inspiriert. Das ist ein Festival für | |
die Öffentlichkeit, für die Jugend. Das ist und war so. Und diese Kultur | |
hat eine wichtige Rolle gespielt, dieses Land zu verändern.“ | |
19 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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