# taz.de -- Politische Karikaturen in Frankreich: Unverzichtbare Verzerrung | |
> Im 19. Jahrhundert schuf man in Frankreich die Grundlagen drastischer | |
> Darstellungsformen. Ohne sie gäbe es weder HipHop noch Karikaturen. | |
Bild: Karikatur von Honoré Daumier, 1855. | |
Es ist wichtig, nach dem fundamentalen und für mehrere Pariser Kollegen | |
todbringenden Angriff auf die Freiheit der Presse im Allgemeinen und die | |
Existenz der linken französischen Satirezeitung Charlie Hebdo im | |
Besonderen, an Charles Baudelaire und seine Bemerkung zu erinnern: „Die | |
Karikatur ist der reale Boden der Modernität.“ | |
Wichtig auch, weil das Paris von Baudelaire seinen Platz in der kollektiven | |
Geschichte hat als „Metropole des 19. Jahrhunderts“, von der viele der | |
entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen | |
Entwicklungen ausgingen, die das demokratische Selbstverständnis unserer | |
westlichen Welt noch heute prägen. | |
Das kann zum Beispiel bedeuten: Ohne die rund 200-jährige französische | |
Tradition der politischen Karikatur gäbe es keinen HipHop, den sich die | |
mutmaßlichen Attentäter von Paris angehört haben, bevor sie ihrem | |
archaischen Hass eine vormoderne Form gegeben haben. HipHop ist eine | |
aktuelle Form von karikaturhafter und comichafter Übertreibung, in der | |
grobe Verzerrung, Schmähung und Beleidigung an der Tagesordnung sind. | |
Drastischer Ausdruck ist eine Grundfeste der freien Meinungsäußerung. | |
Die Freiheit der Presse wurde mit Frechheiten und boshaften Darstellungen | |
der politischen Karikatur im Frankreich des 19. Jahrhunderts überhaupt erst | |
möglich gemacht. Dafür gingen ihre Urheber ins Gefängnis, setzten ihre | |
Karrieren aufs Spiel und nahmen drakonische Strafen und Entbehrungen in | |
Kauf. In den Karikaturen aber fanden sie damals das geeignete Gefäß, um die | |
Grunderfahrungen im Frankreich jener Zeit – die rasch einsetzende | |
Industrialisierung und die rasante Verstädterung und damit verbundene | |
Ungerechtigkeiten – darzustellen. | |
## Beeinflussung von deutschen Intellektuellen | |
Kaum jemand hat das so raffiniert und eindrucksvoll darzustellen vermocht | |
wie der französische Karikaturist und Künstler Honoré Daumier (1808–1879), | |
auf den sich Baudelaires These direkt bezog. Daumier hat ein Werk von mehr | |
als 4.000 Lithografien, Holzschnitten, Zeichnungen und Gemälden | |
hinterlassen. Darunter eine Karikatur von 1857: Zwei Bürger von Paris mit | |
Angstfratzengesichtern unterhalten sich auf der Straße über religiös | |
motivierte Gewalt zwischen Katholiken und Protestanten. | |
Das Frankreich des 19. Jahrhunderts hat auf deutsche Intellektuelle immer | |
besonders abgestrahlt. Ganz bewusst ließen sich etwa Heinrich Heine und | |
später Walter Benjamin von den Darstellungswelten der bedeutendsten | |
französischen Karikaturisten des 19. Jahrhunderts, Grandville und Daumier, | |
anregen. | |
Wie Karikaturen gesellschaftliche Schieflagen grotesk oder paradox verzerrt | |
wiedergeben, die Missgeschicke Einzelner oder die bizarren Verwirrungen | |
vieler in wenigen Strichen und in bildhafter Form darstellen und mit einer | |
Textunterzeile versehen, das Unsagbare ins Absurde ziehen, wurde in Paris | |
vervollkommnet, begünstigt durch die Erfindung der Lithografie (1796) und | |
der wachsenden Bedeutung der Massenmedien. | |
## Zensur seitens der Machthaber | |
Inhalte und Bildwirkungen von Zeitungen wurden erst im 19. Jahrhundert | |
diskutiert. Debattierclubs entstanden, die sich mit der Wirkung | |
auseinandersetzten. Die Folge war Zensur seitens der Machthaber. „Freiheit, | |
Gleichheit, Brüderlichkeit“, die Grundsätze der Französischen Revolution | |
von 1789, wurden nun von wachsender Ungleichheit, eingeschränkten | |
Freiheiten und Konflikten verdrängt. | |
Honoré Daumier leitete etwa seine republikanische Haltung, die in | |
unzähligen bösartigen Karikaturen von Personen des französischen | |
Justizwesens zum Ausdruck kam, direkt von der Menschenrechtsforderung von | |
1789 ab. Im repressiven Klima nach 1830 gedieh die politische Karikatur, | |
auf die sich die mediale französische Gegenwart und Zeitungen wie Charlie | |
Hebdo oder Le Canard enchaîné noch heute berufen. Ihre Vorläufer sind | |
oppositionelle Zeitungen wie Charivari aus dem 19. Jahrhundert. | |
Wenn die Karikatur in Zeiten von Comedy, Internet und der Pegida-Bewegung | |
hierzulande ein Schattendasein fristet, dann ist spätestens jetzt der | |
Augenblick, an ihre große gesellschaftliche Bedeutung und ihre lange | |
Tradition in Frankreich zu erinnern. „Die Spitzfindigkeiten eines | |
Grandville bringen gut zum Ausdruck, was Marx die ,theologischen Mucken‘ | |
der Ware nennt.“ Hat Walter Benjamin an einer Stelle in seinem | |
„Passagenwerk“ notiert. | |
9 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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