# taz.de -- Hilfe für Jugendliche: „Es gibt null Untersuchungen“ | |
> Der Kriminologe und Sozialpädagoge Olaf Emig über die geschlossene | |
> Unterbringung minderjähriger Flüchtlinge und Defizite der Bremer | |
> Jugendhilfeträger. | |
Bild: Olaf Emig fürchtet, dass sich durch das geplante Jugendheim wieder "eine… | |
taz: Herr Emig, Sie haben eine Petition verfasst gegen die geschlossene | |
Unterbringung (GU) junger Menschen im Rahmen der Jugendhilfe. Warum? | |
Olaf Emig: Ich habe selber jahrelang in der Heimerziehung mit geschlossenen | |
Teilsystemen wie der GU gearbeitet und weiß, dass hier dem Missbrauch Tür | |
und Tor geöffnet werden. Seit Jahrzenten beschäftige ich mit der Wirkung | |
von Freiheitsentzug auf das Verhalten junger Menschen. Auch die jüngsten | |
Beispiele aus der Haasenburg GmbH, zeigen,dass sich hier bis heute nichts | |
geändert hat. Ich bin entsetzt darüber, dass Bremen eine GU für eine Gruppe | |
unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge plant – und das auch noch auf dem | |
Gelände eines Gefängnisses. Und das ist ja nur die Spitze des Eisbergs. | |
Inwiefern? | |
Bereits die Unterbringung eines Teils der unbegleiteten minderjährigen | |
Flüchtlinge in zweifelhaften Hotels oder in der Zast verletzt | |
vorgeschriebene Jugendhilfestandards und verstößt gegen die | |
UN-Kinderrechtskonvention. Es kann bis zu drei Monate dauern, bis die | |
Jugendlichen Amtsvormünder bekommen – das geht nicht, das muss unmittelbar | |
nach deren Ankunft geschehen. | |
Unter anderem heißt es in Ihrer Petition, dass bei den Jugendlichen, die | |
geschlossen untergebracht werden sollen, das Subsidiaritätsprinzip des | |
Vorrangs der milderen Intervention nicht eingehalten worden ist. Was | |
bedeutet das? | |
Das heißt in diesem Fall, dass vor staatlicher Zwangsintervention wie einem | |
gerichtlichem Unterbringungsbeschluß weniger eingriffsintensive Maßnahmen | |
wie Betreutes Wohnen oder ähnliches im ausreichendem Maße ausprobiert | |
worden sein müssen. Einsperren ist immer ultima ratio, also wenn | |
vermeintlich nichts anderes mehr geht. Es gibt immer Jugendliche, die | |
fallen auf, sowohl sozial als auch strafrechtlich. Da denkt sonst niemand | |
an eine geschlossene Unterbringung. Aber nun gab es in einer Bremer | |
Jugendnotaufnahmestelle in der Tat massive Schwierigkeiten mit | |
Jugendlichen, Sicherheitsdienste wurden eingesetzt und es entstand die Idee | |
einer intensiven und robusten Betreuung in einer Geschlossenen | |
Unterbringung der Jugendhilfe. Allerdings sind ja nur unzureichend und | |
lückenhaft zuvor andere pädagogische Maßnahme ausprobiert worden – und das | |
muss normalerweise immer getan werden. | |
Laut Sozialsenatorin Anja Stahmann handelt es sich bei den Jugendlichen um | |
„sehr schwierige Jugendlichen, die mit den Instrumenten des | |
Jugendhilfesystems nicht zu erreichen sind.“ Was macht diese Jugendlichen | |
denn so schwierig? | |
Das weiß keiner: Es gibt null Untersuchungen über diese Jugendlichen, keine | |
Dokumentation, einfach nichts. Wir wissen nicht, was man ihnen in ihrer | |
Heimat und während ihrer Flucht angetan hat, weil immer nur darüber | |
gesprochen wird, was sie getan haben sollen – und das ist nicht viel: Der | |
allerkleinste Teil dieser ungefähr dreißig Jugendlichen, die wiederholt in | |
Bremen in Erscheinung getreten sind, ist strafrechtlich verurteilt worden. | |
Dennoch werden alle als kriminell oder sogar als „Intensivtäter“ betitelt. | |
Die Jugendlichen sind häufig mangels Betreuung in Cliquen unterwegs, aus | |
denen heraus es auch zu Straftaten und Ordnungswidrigkeiten kommt. Oftmals | |
werden dann alle Cliquenmitglieder als Tatverdächtige registriert, und | |
schon nach wenigen Wochen avanciert man zum Mehrfach- oder Intensivtäter in | |
der Polizeistatistik, obwohl noch nicht einmal eine Anklage vorliegt. Wir | |
wissen nur, dass es sich wohl um Jugendliche aus den Maghreb-Staaten, also | |
vorwiegend aus Tunesien, Marokko und Algerien, handeln soll. | |
Sie haben an einer Evaluation sogenannter Sozialer Trainingskurse in Bremen | |
mitgewirkt, in der unter anderem rassistische Unterscheidungspraxen im | |
Kontext von Jugendkriminalität kritisch beleuchtet werden. Lothar | |
Kannenbergs Einrichtung in Rekum und auch das geplante Heim sind explizit | |
für Flüchtlinge... | |
Es gibt Etikettierungen, die sind einfach unzulässig. Es ist einfach nicht | |
richtig zu sagen, dass ein „Migrationshintergrund“ ein Kriterium dafür ist, | |
dass jemand eher straffällig oder auffällig wird oder eingesperrt gehört. | |
Das Problem ist, dass Jugendhilfeträger oft nur dann Geld für ihre Arbeit | |
bekommen, wenn sie explizit Konzepte für Jugendliche „mit | |
Migrationshintergrund“ oder mit anderen Etikettierungen anbieten. Was die | |
Jugendlichen angeht, die nun geschlossen untergebracht werden sollen, | |
könnte sich aufgrund ihrer Herkunft allerdings eine ganz andere Chance | |
ergeben. | |
Wie das? | |
Neulich hat ein Jugendhilfevertreter des St. Theresienhauses in Bremen-Nord | |
gesagt, dass man das Wissen um deren gemeinsamen kulturellen und | |
sprachlichen Hintergrund doch wunderbar nutzen kann, um ihnen effektiv zu | |
helfen. Das wäre doch viel einfacher als bei Jugendlichen, die aus vielen | |
völlig völlig unterschiedlichen Ländern kommen. Das finde ich einen guten | |
und sinnvollen Ansatz, der noch zusätzlich gegen die angebliche | |
Notwendigkeit spricht, diese Jugendlichen geschlossen unterzubringen. | |
Wie lässt sich der geplante Rückschritt in die „Fürsorgeerziehung“ | |
überhaupt erklären? | |
Im Moment natürlich mit Überforderung angesichts der steigenden Zahlen | |
unbegleiteter Minderjähriger, andererseits aber auch mit einer | |
gesellschaftlichen Entwicklung, die von Verunsicherung, Zukunftsängste und | |
Vertrauensverlust geprägt ist – und man glaubt im Bereich von sozialen und | |
störenden Auffälligkeiten von Jugendlichen durch normative Anforderungen | |
einen Ordnungsrahmen setzen zu können. Das allgemeine Straf- und | |
Sanktionsbedürfnis ist trotz sinkender Kriminalität gestiegen. Deswegen | |
erfreuen sich Erziehungscamps, Anti-Agressivitäts-Trainings oder | |
fragwürdige isolierende Auslandaufenthalte in Kirgisien oder Sibirien | |
großer Beliebtheit. Jemand wie Lothar Kannenberg ist da ein gutes Beispiel: | |
Der setzt auf Sport, Regelwerk und Gruppensanktion und meint, eine | |
professionelle pädagogische Ausbildung sei für diese Arbeit nicht | |
notwendig. Übersehen wird dabei, dass beispielsweise Boxcamps oftmals | |
einfacher zu bewältigen sind als Maßnahmen einer pädagogisch-orientierten | |
Jugendhilfe. Wobei ich eine sportliche Ausrichtung in pädagogischen | |
Projekte sehr begrüße, aber sie ist eben nicht ausreichend. | |
Demütigung soll für die Jugendlichen einfacher sein? | |
Ja. Es ist für einen Jugendlichen viel leichter, einfach das zu sagen und | |
zu tun, was ihm oktroyiert wird als selbst Verantwortung übernehmen zu | |
müssen und das eigene Verhalten zu reflektieren. Denn diese Prozesse dauern | |
natürlich ein bisschen länger – und da stößt die gesellschaftliche | |
Akzeptanz manchmal an ihre Grenzen. | |
Anders als Bremen möchte der potentielle Hamburger Träger das Heim generell | |
für Minderjährige nutzen. Glauben Sie, dass es von Bremer Seite aus dabei | |
bleibt, nur die Flüchtlingsjugendlichen einzusperren? | |
Nein, ich sehe ganz klar die Gefahr, dass sich damit in Zukunft wieder eine | |
unkontrollierte Form der Erziehung etablieren wird. Neue Zielgruppen findet | |
man immer. | |
Die Sozialbehörde behauptet, kein Bremer Jugendhilfeträger habe sich bereit | |
erklärt, die Verantwortung für die Jugendlichen zu übernehmen und deswegen | |
Kannenberg hergeholt. Auch einen Träger für das geplante Heim hat man nicht | |
gefunden und deswegen nun Hamburg ins Boot geholt. Lässt das Bremer | |
Jugendhilfesystem mit ihrer Verweigerung die jungen Flüchtlinge ins offene | |
Messer laufen? | |
Nein, das sehe ich nicht so. Die Jugendhilfe in Bremen ist in der Lage, | |
diesen Jugendlichen zu helfen, sie macht das seit Jahren und hat immer | |
wieder mit Jugendlichen in ähnlichen Problemlagen, die in Bremen zyklisch | |
auftauchen, zu tun. Die Träger gehen aber meiner Meinung nach momentan zu | |
wenig offensiv mit dem um, was sie können. Sie reagieren auf die Behörden | |
und zeigen da auch eine klare Haltung, aber sie sollten vielmehr mit | |
Konzepten und Forderungen nach vorne gehen. Sie sollten Flagge zeigen und | |
wieder das Zepter des Handelns in die Hand nehmen. | |
13 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Simone Schnase | |
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