# taz.de -- Updates elektronischer Musik: Wie ein Schwamm | |
> Die Produzenten Laurel Halo, Lucrecia Dalt und Oneohtrix Point Never | |
> legen tolle neue Alben vor. Sie etablieren ihren Sound auf der Bühne ohne | |
> Reibungsverluste. | |
Bild: In Barcelona ansässig: Lucrecia Dalt. | |
Musik wie in einem Zukunftsroman von J. G. Ballard: Die große Sonne | |
trommelt immer greller und füllt den ganzen Himmel aus. Nagende Hitze und | |
opaleszierender Glanz erschweren die menschliche Existenz. Im Angesicht des | |
Zerfalls mag himmelsgerichteter Optimismus nicht unbedingt das Naheliegende | |
sein. | |
Doch genauso willensstark mutet der pochende Sound von Laurel Halo auch an. | |
„Chance of Rain“ heißt das neue Album der New Yorker Produzentin. Es zeigt | |
sie auf der Höhe ihres Schaffens. Eigentlich bekundet Laurel Halo mit ihrer | |
elektronisch generierten Musik gerade die Negation von | |
Schulter-klopfender-Euphorie und Dauer-Affirmation, wie sie ansonsten mit | |
Clubsound gleichgesetzt wird. So beiläufig, aber auch unterschwellig | |
aggressiv wie der Albumtitel „Chance of Rain“ klingt, so energisch, | |
pulsierend und unheilvoll sind die neun Tracks geraten. Ambient ist hier | |
nur noch eine Schutzbehauptung für Darkwave. | |
In Wahrheit hat Laurel Halo die dystopischen Potenziale ihrer Hardware | |
angesteuert und einen funkelnden und fiependen Gesteinsbrocken aus | |
riffartigen Tönen, mesmerisierendem Tuckern und Zischeln erschaffen. Gerade | |
noch kontemplativ, aber schon weit draußen. Die Musik kommt dem nahe, was | |
der US-Soziologe Alvin Toffler einmal „Future Shock“ genannt hat, ein | |
Zivilisationskrankheitsherd, verursacht durch Stress und | |
Umstellungsschwierigkeiten, den ständige Updates mit sich bringen. | |
Laurel Halo ist Virtuosin genug, um ihre Musik live aufzuführen, sie | |
kreiert mit Keyboard und Sequenzer auf einer Bühne beeindruckende | |
Klangwelten. Aber sie vergisst dabei nie, die Anstrengung zu erwähnen, die | |
dieses Alertsein mit sich bringt. | |
Die Musik sei inspiriert von einem Aufenthalt im Berliner Winter und der | |
intensiven Erfahrung von Techno und Dubstep im Kontext mächtiger | |
Soundsysteme, hat sie kürzlich erzählt. Arrangiert wurde das Material | |
wiederum Zuhause in New York, in einem klaustrophobisch kleinen Zimmer | |
mitten im spannungsgeladenen und angsterfüllten Alltag von Manhattan. | |
## Die Skyline als Friedhof | |
„Mir kommt die Skyline inzwischen wie ein Friedhof vor. Meine Musik ist | |
dazu da, dass ich mit ihr einen flüchtigen Blick raus in die Zukunft wagen | |
kann.“ Wenn sie vor ihren Maschinen sitzt, versucht sie der unendlichen | |
Gegenwart durch eine „Out-of-Body-Experience“ zu entfliehen. Laurel Halos | |
torkelnden und taumelnden Beats, ihre zuckenden Hooks und schlierigen | |
Hallfahnen reichen über bloße Funktionalität hinaus. Eine deutliche Absage | |
an digitale Realitäten und korporative Klangwelten. | |
„Haben Sie es eilig? Sehen Sie, je dichter Verknüpfungen und Oppositionen, | |
desto mächtiger das Syzygy.“ Eine kryptische Anmerkung auf der Rückseite | |
des Plattencovers. Die Songtitel sind in spiegelverkehrter Schrift | |
angebracht. Auf der Frontseite das Foto zweier Hände, die an einer Wand | |
Schatten werfen. „Syzygy“ ist ein Begriff aus der Typologie des Schweizer | |
Psychiaters C.G. Jung. Was hat dessen Theorie seelischer Archetypen mit den | |
entgegengesetzten musikalischen Elementen von Lucrecia Dalt zu tun? | |
## Gerade noch Pop | |
Jedenfalls wirkt das Rätselhafte und Traumschöne der in Barcelona lebenden | |
kolumbianischen Künstlerin auf ihrem zweiten Album „Syzygy“ beflügelnd. | |
Fiebrig und jenseitig, aber auch bedächtig und vorsichtig tastend geht sie | |
zur Sache. Es ist so gerade noch Popmusik, die in den Boxen ankommt, durch | |
Filter gedämpft, mit Feedback verstärkt und in Loops beschleunigt. | |
Ab und an erinnern Störgeräusche daran, dass es noch eine Außenwelt gibt. | |
Ansonsten regiert das konzentrische Wummern von Dalts Bass (ihr | |
Signalinstrument) und ihre zarte, in ferne Echos getunkte Flüsterstimme. | |
Sie bilden die Basis für allerlei altruistische Gedanken. Im Booklet wird | |
etwa Walter Benjamin und Ingmar Bergman dafür gedankt, „dass sie während | |
der Aufnahmen Geist und Raum mit delikatem Inhalt gefüllt haben“. Lucrecia | |
Dalt ist angekommen in der alten Welt und zeigt sich mit „Syzygy“ befreit | |
von den Entbehrungen der Diaspora. | |
## In Kobe-Rind-Fassung | |
„Sie bekommen jetzt die Kobe-Rind-Fassung meiner Gedanken.“ Wenn Daniel | |
Lopatin ins Reden gerät, kann es abendfüllend werden. Aber eben auch | |
spannend. Dann erklärt der New Yorker, wie eine marxistische Kritik an | |
seinem Projekt Oneohtrix Point Never lauten könnte. „Er pfropft sein Image | |
und seine Persönlichkeit (Kapitalismus) auf seinen Synthesizer (Produkt).“ | |
Wer sich das gefallen lässt, und das sollte man unbedingt, erlebt mit | |
seinem neuen Album „R plus 7“ Oneohtrix Point Never in seiner | |
Kobe-Rind-Phase. | |
## Musikalische Entsprechung von TV-Zapping | |
Es ist eine elektronische Musikcollage in perversester Veredelung. Wie ein | |
Schwamm saugt Lopatin aus dem Netz Soundfiles, Werbeclips auf YouTube, | |
Firmenvideos und mehr. Dann seziert er den Soundmüll, zerkleinert ihn, | |
formt Samples und spuckt daraus Harmoniecluster aus. So entstehen zerrupfte | |
Melodien, die dem Klangfetzen-Rhythmus von TV-Zapping ähneln. „R Plus 7“ | |
schüttet die Lücken zwischen Aufmerksamkeitsdefiziten und | |
Stimmungstrigger-Overkill im Netz mit feuerfesten Materialien zu. | |
„R Plus 7“ sei die musikalische Entsprechung des Romans „Das Leben | |
Gebrauchsanweisung“ des experimentellen französischen Schriftstellers | |
Georges Perec. Dafür sammelte Lopatin im Netz technische Daten aus | |
interaktiven Literaturseiten, Gebrauchsanweisungen und Katalogtexten, ließ | |
sie von Roboterstimmen einsprechen und speiste diese als Samples wieder in | |
die Musik ein. | |
Irre, dass die synthetischen Einzelspuren hernach von dem isländischen | |
Kammerpop-Spezialisten Valgeir Sigurdsson auf einem analogen Mischpult | |
produziert wurden. Oneohtrix Point Nevers Musik wirkt kaputt und | |
kompliziert zugleich, nie naturbelassen. „So entsteht eine Art | |
Surrealismus, er ist sehr statisch und sehr klar.“ | |
4 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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