# taz.de -- Neues Album von DJ Lawrence: Das Leben der Boheme | |
> Flanieren zwischen Pop und Kunst. Der Hamburger House-Produzent Peter | |
> Kersten alias DJ Lawrence veröffentlicht ein neues Album: „Films and | |
> Windows“. | |
Bild: Tipp vom DJ: Mindestens vier Jahre des Lebens intensiv ausgehen. | |
Peaktime im Amsterdamer Club Trouw. Die Menschen umtanzen das DJ-Pult, | |
bunte Neonlichter flackern durch den Raum, es herrscht ausgelassene | |
Partystimmung. Nur der kleine Mann hinter den Turntables sticht aus der | |
Menge heraus. Es ist Peter Kersten alias Lawrence, der gerade sein Set | |
begonnen hat. Er trägt ein ordentliches Hemd mit grauer Strickjacke, sein | |
Blick ist konzentriert, ja angespannt. Fast möchte man sich Sorgen um ihn | |
machen – ist ihm vielleicht zu heiß? | |
Doch dann erhellt grelles Licht die Tanzfläche, das Feierpublikum wird | |
frontal angestrahlt. Lawrence schaut auf, lacht erfreut, macht einen | |
kleinen Tanzschritt. Das Eis ist gebrochen. „Ideale Stimmung ist für mich, | |
wenn die Leute mit geschlossenen Augen tanzen und schweigen“, wird Kersten | |
später erklären. „Suspekt sind mir eher die Profiraver, die mit Schreien | |
den DJ anheizen, wenn die Bassdrum ausbleibt.“ | |
Das Dunkel des Clubs ist trübem, herbstlichem Tageslicht gewichen. Kersten, | |
von allen nur Pete genannt, sitzt in seiner Wohnung auf St. Pauli und ist | |
müde von den vielen DJ-Engagements des zu Ende gegangenen Sommers. Sagt er | |
zumindest. Anzumerken ist ihm das nicht. Denn es gibt viel zu viel zu | |
erzählen. | |
Dial Records, sein Label, das er zusammen mit David Lieske alias Carsten | |
Jost führt, wird dieses Jahr 13 Jahre alt. Bei Dial hat kein Musiker jemals | |
einen Vertrag unterschrieben. Schon allein das Wort „Vertrag“ finden | |
Kersten und sein langjähriger Freund Lieske eklig, ebenso wie „Profit“ oder | |
„investieren“. Dafür, dass sie das tatsächlich so meinen, spricht die | |
Geburtsstunde von Dial: Das Label wurde 2000 gegründet, zu der Zeit, als | |
andere House-Labels kapitulierten und dichtmachten. | |
Lieske, Kersten und ihr Freund Paul Kominek alias Turner waren von Anfang | |
an dabei, bald kamen Hendrik Weber und Stefan Kozalla, besser bekannt als | |
Pantha du Prince und DJ Koze, hinzu. Kennengelernt hat man sich – natürlich | |
– im Hamburger Golden Pudel Club: „Der beste Club der Welt“, findet | |
Kersten. | |
## Label in St. Pauli | |
„Smallville“, ein weiteres mit Dial assoziiertes Label, gründete Kersten | |
2005 mit Stella Plazonja und Julius Steinhoff. Das Label und der | |
gleichnamige Hamburger Plattenladen sind inzwischen eine Institution und | |
aus St. Pauli nicht mehr wegzudenken. | |
Und Lawrence, Kerstens DJ-Pseudonym, legt schon seit über 15 Jahren auf. | |
Diese Karriere trägt Früchte. Gerade ist mit „Films and Windows“ sein neu… | |
Album erschienen. Sein sechstes. Seit 2011 haben Kersten und Lieske zudem | |
mit der Mathew Gallery auch ein Standbein in Berlin. Auch diese führen die | |
beiden gemeinsam. Ach ja, ein japanisches Yakitori-Restaurant fände Kersten | |
auch ganz schick. Dafür ist er dann und wann bereits auf der Suche nach | |
Räumlichkeiten. | |
Da kann man schon mal den Überblick verlieren. Doch wer hinter Kersten nun | |
den typischen Kreativ-Workaholic – immer knapp am Burn-out vorbei arbeitend | |
– vermutet, liegt falsch. | |
Seine verschiedenen Tätigkeiten vereinigt der Gedanke von Genuss. In | |
diesem, findet Kersten, sind sich Tanzen, Kunst und gutes Essen | |
grundähnlich: „Jeder Mensch sollte mindestens vier Jahre seines Lebens | |
intensiv und regelmäßig ausgehen.“ Kersten versteht es, über die Clubszene, | |
die Musikbranche und ihre Gestalten zu sprechen, ohne in exaltiertes | |
Geschwafel zu verfallen. Auch düstere Prognosen, Jammern über vermeintlich | |
bessere Zeiten oder gar böse Worte über andere wird man von ihm nicht | |
hören. | |
## Kosmos der Freundschaft | |
Heute ist Dial ein regelrechter Kosmos der Freundschaft und der Musik. Das | |
Spektrum des Labels reicht inzwischen über Club- und Housemusik hinaus. | |
Thies Mynther und Dirk von Lowtzow leben bei Dial als Phantom/Ghost ihre | |
Leidenschaft fürs Kunstlied aus, und auch abseitigere, verschrobene Sachen | |
wie die suizidale Gitarrenmusik des New Yorker Künstlers The Queens finden | |
auf dem Label Platz. „Was wir gut finden, veröffentlichen wir“, sagt | |
Kersten, „da sind die Absatzzahlen erst mal zweitrangig.“ In guter alter | |
D.-i.-Y.-Manier machen die Künstler alles selbst, kümmern sich um die | |
Produktion, gestalten Cover und schreiben Promo für ihre Platten. | |
Auch in der Mathew Gallery in Berlin ist Kunsthandel-Knowhow dem Schwärmen | |
über die Nachbarschaft nachrangig: „Nebenan ist eine tolle alte | |
Charlottenburger Schwulenkneipe, ’Harlekins gute Stube‘, und ein paar Meter | |
weiter betreibt Ursula Block mit ’Gelbe Musik‘ einen wunderbaren | |
Plattenladen“, sagt Lieske. „Wir fühlen uns hier pudelwohl.“ Den | |
Galerieraum hat – natürlich – ein Freund entdeckt, der japanische Künstler | |
Ken Okiishi. | |
All das klingt so wild romantisch, dass man die Nachteile und | |
Schattenseiten, die bei diesem freigeistigen Umgang mit den Gepflogenheiten | |
von Geschäftssinn einhergehen, erst aus Kersten herauskitzeln muss. „Klar, | |
manchmal läuft es finanziell schlecht“, gibt er zu. „Man darf eben keine | |
Furcht vor der Existenzangst haben.“ Kaum einem würde so ein Satz wohl so | |
gelassen über die Lippen gehen wie ihm. | |
## Abwechslungsreiche Klangmuster | |
Die überzeugte, aber nicht krampfhafte Resistenz gegen alles Trendige hört | |
man auch „Films and Windows“ an, Lawrence’ neuem Album. Hier setzt er auf | |
Bewährtes: Geradlinige Beats mit deutlichen Deep-House und Ambient-Anleihen | |
gehen Hand in Hand mit verspielten Melodien und abwechslungsreichen | |
Klangmustern. Mal schleicht sich der sanfte, metallische Klang einer | |
Triangel ein, während perkussive Elemente gerade dabei sind, den Track nach | |
vorne zu treiben. Mal gesellt sich ein sattes, arhythmisches Ploppen zu | |
einer hüpfenden Bassline. | |
Die verschiedenen Klangelemente schichten sich dabei nicht einfach | |
aufeinander, sondern kommen und gehen, wirken leiser und lauter, | |
unterstützend und gegenläufig. So verschnörkelt sich das Hörerlebnis | |
zugunsten unerwarteter Entdeckungen, die zum Zuhören einladen. | |
In den Titeln der Tracks eröffnet sich das Lawrence-Universum aus | |
Reisenotizen, Nachtgedanken und melancholischen Anwandlungen: „In | |
Patagonia“, „Har Sinai“, „Angels at Night“, „Kurama“. „Films an… | |
den Titel des Albums, hat Kersten vom gleichnamigen Titel einer Ausstellung | |
in der Mathew Gallery übernommen. Er umschreibt das Gefühl der Bewegung, | |
den Blick aus dem Zugfenster auf vorbeirasende Landschaften. Damit passt er | |
zur Entstehungssituation vieler Tracks, fast alle „irgendwo zwischen | |
Hamburg und Berlin gebastelt“. | |
## Immer unterwegs | |
In einem Büro zu sitzen wäre für Kersten „doch wirklich das Furchtbarste�… | |
Er spricht aus eigener Erfahrung, während seines Studiums hat er ein | |
Praktikum bei Universal absolviert. Seitdem ist er unterwegs: in Hamburg, | |
in Berlin, in Clubs auf der ganzen Welt. Wachsen ihm seine verschiedenen | |
Tätigkeiten und Arbeitsorte manchmal über den Kopf? | |
„Manchmal denke ich schon, es wäre schön, jemand anderem einen meiner Jobs | |
zu übergeben“, sagt Kersten und schließt direkt an: „Aber es würde doch | |
niemand so gut machen.“ Er klingt dabei wie eine Mutter, der es das Herz | |
brechen würde, ihre Kinder für längere Zeit in fremde Obhut zu geben. | |
18 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Carla Baum | |
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