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# taz.de -- Club Transmediale Berlin: Die Wiederkehr des Gespenstischen
> Die Hauntology-Musiker erinnern an die nicht realisierten Utopien der
> Vergangenheit. Einer von ihnen ist James Ferraro, der jetzt beim Club
> Transmediale auftritt.
Bild: Wühlt sich durch den Zeichendreck der Achtziger und ihren zynischen Futu…
Retro, wohin man sieht. Nicht nur die Popmusik, auch die Debatte darüber
orientiert sich an alten Formen. Wer Retro als Gegensatz zum "Jetzt" als
Essenz von Pop begreift, vergisst aber, wie der Rückgriff auf das
Pop-Archiv auch ein Weg sein kann, die Geschichtlichkeit der Gegenwart
sichtbar zu machen.
Vorgeführt bekommt man dies im Mutterland des Pop, wo Musiker wie The Focus
Group oder Moon Wiring Club mit elektronischen Mitteln das elektrische Eden
britischer Psychedelia aufleben lassen. Mordant Music vertonen alte
Bildungsvideos, die Cover des stilbildenden Ghost Box-Labels orientieren
sich am Design von Taschenbüchern des britischen Verlags Penguin aus den
Sechzigern. Der Theoretiker Mark Fisher versieht diese Musiker mit dem
Label Hauntology.
Im Mittelpunkt steht dabei die Ästhetik des britischen Wohlfahrtsstaats der
Nachkriegszeit, die Fisher als "Pulp Modernism", als
Groschenheft-Modernismus, bezeichnet. Sie ist das Versprechen der Teilhabe
an einer Moderne für alle.
Die Open University popularisierte damals Sozialtheorie in ihren Sendungen
zur Erwachsenenbildung, der Radiophonic Workshop des öffentlich-rechtlichen
Senders BBC arbeitete mit avanciertester Technik an Soundeffekten für ein
Massenpublikum.
## Der Begriff Hauntology
In den nuller Jahren, während der mit popkulturellem Make-up
zugekleisterten Realpolitik von New Labour, musste dies wie eine nie
eingelöste Utopie wirken. Der Begriff Hauntology beschreibt dabei die
unheimliche Wiederkehr der Zukunft. Er stammt von Jacques Derrida. In "Marx
Gespenster" beschreibt Derrida 1993, wie der Kommunismus die Welt als
Gespenst betreten hat.
Als Marx das "Kommunistische Manifest" mit "Ein Gespenst geht um in Europa"
beginnt, sei dieser Satz ein Versprechen auf die Zukunft gewesen. Eine
"kommunistische" Bewegung bildete sich erst danach im Glauben an die
Wahrheit dieses Satzes heraus. Und so sind es auch die nicht realisierten
Utopien der Vergangenheit, die Versprechen auf die kollektive
Gestaltungsmöglichkeit einer menschenwürdigeren Zukunft, die von den
Hauntology-Musikern erinnert werden.
Ihre Retro-Bezüge erschöpfen sich dabei nicht im Nachstellen der
Vergangenheit, sondern sie kommentieren diese aus der Rückschau. Die
Stimmsamples aus der Hochzeit des britischen Bildungsfernsehens werden von
den Ghost-Box-Künstlern zu Horrorgeschichten montiert.
Der Wohlfahrtsstaat hat immer auch das Schreckgespenst einer Bürokratie
produziert, die diejenigen ausschließt, die nicht in seine als Idylle
beschriebene Normativität passen: die Arbeitsunwilligen oder die
"Verrückten".
"As the Crow flies", das letzte Album der Ghost-Box-Band The Advisory
Circle, wird von Kritikern bereits als "Schwanengesang der Hauntology"
bezeichnet. Die sozialen Kämpfe um die letzten Reste des britischen
Wohlfahrtsstaates benötigen keinen didaktischen Soundtrack der Erinnerung.
## Derridas Medientheorie der "Spektralität"
Überlebt hat das Gespenst der Hauntology in der popkulturellen
Diskursproduktion und ihren Institutionen wie etwa dem diesjährigen Club
Transmediale. Sein Programm beschäftigt sich nicht nur mit der
gespenstischen Wiederkehr sozialer Bewegungen, sondern bezieht sich auch
auf Derridas Medientheorie der "Spektralität".
Das Gespenstische zeigt sich immer im Medium der Aufnahme selbst, wo es
gleichzeitig anwesend und abwesend ist. Elektronische Medien aller Art
liefern dabei permanent Räume, in denen sich das Gespenstische artikulieren
kann.
Auf "Archangel", einem Track des Londoner Dubstep-Produzenten Burial von
2007, ist es die Erinnerung einer kollektiven Euphorie, die den Dancefloor
als neuen Engel der Geschichte verklärt. Ein gedämpfter 2-Step-Rhythmus
hallt aus den Glanzzeiten der englischen Garage-Szene nach, ein
hochgepitchtes Vocalsample wiederholt "Couldnt be alone". Und über alldem
liegt das Kratzen und Rauschen abgenutzten Vinyls, das die zeitliche
Distanz zu seinen Erinnerungen hörbar macht.
Mit Burial hat das Gespenstische eine feste Form gefunden: ein wenig Hall,
ein paar gepitchte Kinderstimmen und der immergleiche, schleppende Beat. So
wird es auf den Veröffentlichungen des New Yorker Labels Triangle Records
durchexerziert. Nur dass diese Erinnerungen die Kinderzimmer ihrer
Produzenten selten verlassen, keine Erfahrung von Kollektivität vermitteln.
Dafür verändern sie, wie ein musikalisches Genre auf seine eigene
Geschichte zurückschaut.
Der kalifornische Rapper LilB verbreitet seine genuschelten Erneuerungen
alter Bürgerrechtsversprechen auf ein Leben jenseits der Zuschreibungen von
Hautfarbe und Sexualität nicht über handverlesene Samples ihres
Soul-Soundtracks, sondern über den Collagen des Elektronik-Produzenten
Clams Casino.
Der schichtet verhallte HipHop-Beats über Stimmsamples von
Indie-Songwriterinnen oder Gitarrenloops aus dem introspektiven
Shoegazer-Pop der frühen Neunziger. So verleiht er den Reimen von LilB
gerade dadurch Nachdruck, dass er ihnen ihre offensichtliche Assoziation
von Wut und zum Himmel gereckter Black-Power-Faust nimmt.
Aber diese Inszenierung funktioniert nur, weil sie ihre Vorbedingungen
nicht offenlegt. Um den über seine Gitarreneffekte gebeugten Shoegazer als
neuen Mann wiederzuentdecken, muss der historische Ausnahmezustand der
permanenten Verfügbarkeit des Poparchivs schon gegeben sein. Der
Unterschied zum Digging anderer HipHop-Produzenten liegt dann lediglich in
der Wahl der Plattenkiste, aus der man seine Quellen nimmt.
## Pop ist auch immer ein Zumüllen mit Zeichen
Aber was passiert, wenn das Archiv dazu genutzt wird, die Unfreiwilligkeit
dieser Wahl zu zeigen, ohne dabei an Leichtigkeit zu verlieren? Pop ist ja
auch immer ein Zumüllen mit Zeichen, deren kulturindustrielle Klebrigkeit
viel verführerischer als ihr aufklärerischer Gegenpart ist.
Genau hieran arbeitet sich der US-Produzent James Ferraro ab. Auf
unzähligen Alben und CD-Rs, die er solo und im Duo mit Spencer Clark als
The Skaters unter die downloadenden Massen brachte, wühlt er sich durch den
Zeichendreck der Achtziger und ihres zynischen Futurismus: die koksigen
Synthesizer des Münchner Disco-Stenzes Harold Faltermeyer, die weißen
Anzüge, der stotternde Computer-Avatar Max Headroom – die privat
finanzierte Form einer Utopie, deren unvermeidliche Obsoleszenz wir gerade
durchleben.
Bei Ferraro taucht diese Zukunft wie auf einem Videotape, das man zu häufig
abgespielt hat, unter einer Schicht aus Dreck und Rauschen wieder auf. Aber
hinter der ironischen Distanz zu dem, was dann doch irgendwie einfach
veraltet wirkt, liegt eine psychedelische Spielwiese. Der Dauerloop aus
Neon befeuert die Sucht nach alten Oberflächen, deren einziger Zweck der
Genuss der Gegenwart ist.
Auf seiner letzten Veröffentlichung "Far Side Virtual" hat Ferraro diesen
Loop angehalten und sein Klangspektrum in Einzelteile zerlegt. Im
Gedächtnis abgelagerte Werbe-Jingles, die Sound-Effekte der
Betriebssystem-Oberfläche und Momente der unfreiwilligen Stille, wenn die
YouTube-Server gerade mal wieder überlastet sind, werden zu einer Form von
Geräuschmusik, einem aus den digitalen Artefakten unserer Umgebung
zusammengesetztes Stillleben.
Als "Klingelton-Musik", die er am liebsten auf jedem Smartphone
installieren würde, hat Ferraro sein Album einmal bezeichnet. Das wäre dann
vielleicht eine wirklich utopische Vorstellung: eine Kultur, in der uns die
Geschichtlichkeit des Alltags jedes Mal bewusst wird, wenn das Telefon
klingelt.
James Ferraro spricht am 2. Februar beim Club Transmediale zusammen mit dem
Musiker Daniel Lopatin (Oneohtrix Point Never) auf dem Panel "Post
Traumatic Euphoria" im HAU 3 in Berlin. Am Freitag, 3. Februar, tritt
Ferraro in der Berghain Kantine auf.
31 Jan 2012
## AUTOREN
Christian Werthschulte
## TAGS
elektronische Musik
Club Transmediale
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