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# taz.de -- Neues Album von Oneohtrix Point Never: Eine fette Überdosis Klangl…
> Der US-Musiker Daniel Lopatin verformt auf seinem neuen Album "Replica"
> analogen Synthieschrott. Und erzeugt damit ein über die Maßen seltsames
> Hörgefühl.
Bild: Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never verarbeitet Klangschrott zu Kl…
Es gab schon schlimmes, verschwiemeltes Zeug im Kraut- und Kosmikrock der
1970er. Die gegenwärtig wieder einmal gewaltig aufflammende Begeisterung
für einfach alles zwischen Limbus 4 und Gila, Annexus Quam und Popul Vuh
kann man sich nur damit erklären, dass die heutigen Fans das Vokabular nur
noch als funkelnde, glitzernde, aber leere Zeichenpracht wahrnehmen, mit
der man machen kann, was man will.
Warum auch nicht? Die oft präzise gesetzten kommunikativen Akte und
Sprechakte der Popmusik vergangener Tage, die, wenn sie auslaufen, ihre
Kontexte hinter sich lassen und ungültig werden, gewinnen gern die
eigentümliche Schönheit der Zeichenruine.
Doch zum Genuss auch dieser Schönheit gehört, dass man mal verstanden hat,
welcher Eso-Mist von welchen Analog-Synthi-Einstellungen codiert war und in
Live-Situationen abgerufen wurde. Mit einer gewissen Ahnung des
historischen Schmutzes lässt sich dessen ungefährlich gewordene Gestalt
oder Hülle genießen. Eine Menge Popmusik und Kunst wird heute so rezipiert.
## Flüge über die Anden
Am schlimmsten waren (und sind) Synthesizer und andere elektronische
Klangerzeugung und Verwaltung immer dann, wenn sie menschliche, zumal
weibliche Stimmen emulieren, also im semantischen Zielgebiet des Elfen- und
Feengesangs rummachen, oder wenn sie sich an Holzbläser aller Art trauen:
von der Pan- bis zur Blockflöte. Diese magenschonend ausgepegelten
Klangflächen hat man in den letzten 40 Jahren millionenfach als
Begleitmusik zu billigem Erhabenheitskitsch gehört: Flüge über die Anden,
spielende Delfine, aber gerne auch bei den Soundtracks von David Lynchs
Freund Angelo Badalamenti.
Es gibt kaum etwas Quälenderes als ein musikalisches Zeichen, das so total
abgezirkelt genau codiert ist und dann ausgerechnet "große, unbegrenzte
Weite" bedeuten soll. Tja, diese große Weite ist halt ein besonders
klaustrophobes Konzept oder muss sich mit den Klaustro-Fernsehzimmern
vertragen, in denen es empfunden werden soll.
Daniel Lopatin, der Mann, der sich als Künstler zuweilen Oneohtrix Point
Never nennt, beginnt sein neues Album "Replica" mit fetten Überdosen genau
solcher Sounds. Er lässt es später auch wieder mit dem gleichen
Klanglametta ausklingen. Planetare Luftmassen gleiten über Gebirgszacken,
darunter weite Täler. Heilige Hammerhaie tummeln sich unter zellophangleich
zitternden Wasseroberflächen im sonnendurchfluteten Ozean. Doch weder an
den ernst gemeinten Eso-Müll vergangener Jahrzehnte noch an dessen Revival
als von geschichtlichen Spuren gesäuberten Beeindruckungssound knüpft
Lopatin direkt an, sondern an den tiefsten Tiefstand, den das von Krautern
und Kosmikern geschaffene Material je erreicht hat.
Alle Klänge stammen angeblich aus Werbefilmen, Kommunikationsstreifen,
Lehrfilmen und anderem Material, das seinerseits schon auf dem kompletten
semantischen Ruin des Krautkitsches aufbaute. Lopatin zieht das Zeug aus
dem Müll und versucht das, was heutige Hörer dank ihrer Jugend oder
Geschichtslosigkeit beim Rezipieren machen können - die semantischen
Schmutzspuren vergessen oder ignorieren -, konstruktiv hinzukriegen.
## Leere mit Potential
Lopatin hat sich bei "Replica" ganz offensichtlich gefragt, wie man, ohne
zu vergessen, den semantisch verschmutzten Sandstrand von den kleinen
hässlichen Bedeutungsklumpen reinigt, oder noch kühner: Wie man mitsamt dem
ganzen Bedeutungsteer in manchmal auch vollem Bewusstsein seiner
Schleißigkeit dann sogar wieder eine sakral-psychedelische Stimmung
hinkriegt. Das geht am besten, wenn man zwar ganz unten anfängt, aber ohne
fiese Überlegenheitsironie den Klangschrott als nicht nur ruiniert, sondern
auch als entleert zu betrachten: In der Leere liegt bekanntlich Potenzial.
Ein über die Maßen seltsames Hörgefühl, diesmal ganz unabhängig von der
eigenen Hörbiografie, ist das Ergebnis.
Lopatin spielt mit der Bereitschaft, sich in etwas hineinzusteigern,
mitzufühlen, ja sich ranzuschmusen - immer nahe bei dem klassischen Topos
kleinbürgerlichen Schuldgefühls bei verbotenen Ausschweifungen, dass sich
die überwirkliche Schönheit gleich in eine widerliche alte Vettel
verwandelt (zum Beispiel in "The Shining"). Die elektronischen Collagen
sperren sich eben durchaus weder gegen erotische Lektüren, noch entkommt
man ihren Paradoxien mithilfe eines sogenannten guten Geschmacks. Aber wie
läuft so ein einfühlendes, immersives Hören, wenn man die ganze Zeit weiß,
es handelt sich um frisch gereinigten Pan-Flöten-Emulationsmüll?
Schon in früheren Projekten war es Daniel Lopatin darum gegangen, wie er
sagt, "den Prog-Vibe aufzugreifen und ihn von dem Gewichse und den
Klischees zu reinigen", was rauskomme sei "Krautrock im Nebel". Nur ist das
mit der Reinigung so eine Sache: Wie setzt man etwas an die Stelle des
falschen Vorgefundenen, das ja hauptsächlich in der Rezeption stabil,
klumpig und elend geworden ist, und vielleicht noch in den Personalstilen
der Künstler.
## Primärvision kosmischen Krauts
Eigentlich passt das nicht in das Selbstverständnis cooler
Gegenwartsmusiker, krass und korrigierend ein anderes Ego dahin zu zimmern,
wo eben noch ein altes, esoterisches nervte. Daher war die
Weiterentwicklung sinnvoll und folgerichtig, sich eben gar nicht mehr auf
die Primärversion kosmischen Krauts zu beziehen, sondern auf die
degenerierten, sehr viel weiter in Richtung Leere vorangeschrittenen
Vereindeutigungen, die man etwa zu den Tierdokus des "Discovery Channel"
hören kann.
Aber das kann natürlich nicht alles sein: das Zeug ergreifen und irgendwie
schlau zusammenzuflicken. Tatsächlich tritt jetzt der "Synth-Dude" in
Erscheinung, der Musiker Lopatin, der nun weiß und nachvollziehen kann,
warum Keyboard- und Synth-orientierter Prog-Kram aus den Siebzigern
überhaupt die Formen annahm, die er annahm. Er pirscht sich von den
Eckpunkten psychedelischer Minimalismus (der Terry-Riley-Einfluss) und
romantische Klaviermusik (mit irgendwas muss ja der Geschmack der
Prog-Rock-Keyboarder in der Kindheit imprägniert worden sein: Rock n Roll
war es jedenfalls nicht) heran.
Das sind sehr musikimmanente Zugänge: etwas wiederholen, bis es hypnotisch
wird, dann gewaltsam abbrechen; menschliche Stimmen, Melodiebögen und
andere konventionelle Orientierungsmerkmale denaturieren - aber reichlich
davon liefern. Dazu nutzt Lopatin technisches Gerät, das aktiv in den
Degenerationsprozess eingreift - leierige alte Videorekorder -, dessen
Ergebnisse dann allerdings krisp digital aus den Boxen heraussausen.
## Restschmierige Klangidylle
Lopatin, der seine Arbeiten in letzter Instanz in Club- und Tanzkontexten
sieht, also schon auf die körperliche Identifikation mit seinen
semantischen Monstern zusteuert, gehört zu einer Gruppe von Künstlern, die
der britische Autor David Keenan mit dem nicht ganz blöden Etikett
"Hypnagogic Pop" versehen hat.
Für Keenan hat die Abarbeitung an besonders grusligen
Achtziger-Mainstream-Synthesizer-Klängen, Fernsehserien-Themen und
New-Age-Musik etwas mit der Kindheit dieser Musiker in den Achtzigern zu
tun, die den Schritt gemacht hätten, die lange unter Hipstern akzeptierten
Siebziger-Genres Krautrock und Ambient in ihre amerikanischen
Verfallsformen der Achtziger zu folgen.
Auf "Replica" bewältigt Lopatin aber nicht so sehr unfrei die eigene
Kindheit in den Achtzigern mit heutigen Hipstermitteln, als dass er
musikalisch und historisch den Verbindungen schon der anerkannten
Siebziger-Prog-Kultur mit ihren ewigen Hippie-Höllen und den Anlagen der
Immersions-Ästhetiken späterer Kulturindustrien nachspürt, bis in die
Gegenwart. Am besten genießen kann man das Zeug, glaube ich, nur, wenn man
sich der ganzen Bandbreite des hier ökologisch wiederaufbereiteten Elends
bewusst ist und sich dennoch nicht gegen die Verführungskraft dieser
hochgradig restschmierigen Klangidyllen sperrt. Küss die Vettel!
10 Nov 2011
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
## TAGS
elektronische Musik
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