# taz.de -- Stadtsoziologie von Henri Lefebvre: Die beschädigte urbane Gesells… | |
> Der Soziologe Henri Lefebvre kritisierte die autogerechte Stadt und den | |
> Verlust öffentlicher Räume. Neue Konzepte schließen an seine Ideen an. | |
Bild: Der Soziologe Henri Lefebrve im August 1964 | |
Henri Lefebvre, dessen Todestag sich am 29. Juni zum 30sten Mal jährt, ist | |
ein spät Berufener, und doch hat der französische Soziologe zur rechten | |
Zeit [1][die gesellschaftlichen Umbrüche in den 1960er Jahren] beeinflusst. | |
Lefebvre war bereits 65 Jahre, als er eine Professur an der Universität | |
Nanterre, im äußersten Westen von Paris, antrat. Der Aufbau der Universität | |
war gerade abgeschlossen, da wunderte sich Lefebvre nicht schlecht, als er | |
miterleben musste, wie zwischen den neuen Großwohnanlagen die | |
Barackensiedlungen geräumt wurden. In Nanterre erfuhr er hautnah, was | |
Urbanisierung ohne Urbanität bedeutet, die er in seinem Buch „Le droit à la | |
ville“ beklagte. Vor seinen Augen wuchs die Vorstadt der Eigenheime, die | |
banlieue pavillonnaire, allmählich heran. | |
„Le droit à la ville“ kam im März 1968 heraus, rechtzeitig, um auf die | |
studentischen Unruhen einwirken zu können, die im Mai eskalierten. Zu | |
Beginn des Buches platzierte Lefebvre eine „Vorwarnung“: „Jedes System | |
neigt dazu, das Denken zu beenden, Perspektiven zu verschließen. Diese | |
Schrift möchte die Systeme aufbrechen, um das Denken und Handeln für | |
Möglichkeiten zu öffnen, indem Perspektiven aufgezeigt werden. Gegen eine | |
Reflexion, die zu Formalismus neigt, stelle ich ein Denken, das auf Öffnung | |
zielt.“ | |
Die Formulierung verweist auf Nietzsche, den Philosophen der Fröhlichen | |
Wissenschaft, der seinerzeit in französischen Strukturalistenkreisen hohes | |
Ansehen genoss. Die kommunistischen PCF-Zirkel, aus denen Lefebvre selbst | |
stammte, dürften sofort verstanden haben, dass sie die Adressaten waren. | |
Tatsächlich haderte der Marxist Henri Lefebvre schon seit Langem mit den | |
Parteigenossen. | |
Früh verstand er sich als antistalinistischer Erneuerer des Kommunismus, | |
und bereits 1940 publizierte er „Le matérialisme dialectique“, 1972 vom | |
Frankfurter Philosophen und Marxisten Alfred Schmidt übersetzt. Doch der | |
PCF, dessen Mitglied Lefebvre lange war, blieb der dogmatischen Linie treu, | |
setzte auf Arbeiterstreiks und lehnte vehement die Revolte der | |
Geistesarbeiter ab. Entgegen den ideologischen Rezepten aus der Sowjetunion | |
lenkte Henri Lefebvre bereits nach dem Krieg sein Interesse auf die | |
Verhaltensweisen des Alltagslebens. Die Alltagspraxis der Individuen wurde | |
zur Folie, um eine unorthodoxe Kritik der bürgerlichen Gesellschaft leisten | |
zu können. | |
Lefebvre verstand den Urbanisierungsschub als Folge der Industrialisierung. | |
Und das bedeutete, dass die traditionelle Vorstellung von europäischer | |
Stadt und Zentrum zusehends erodierte und dem Leben in der périphérie wich. | |
Deswegen seine langjährige Untersuchung der Wandlungen, die der städtische | |
Raum erfuhr, und der daraus resultierenden Änderungen individueller | |
Lebenspraxis. | |
## Stadtflucht ins suburbane Eigenheim | |
Zwar beschäftigte sich Lefebvre erst spät mit der wachsenden Bedeutung der | |
Städte, aber Bücher wie „Das Recht auf die Stadt“, „Die Revolution der | |
Städte“, und „Die Produktion des Raumes“, die zwischen 1967 und 1974 | |
erschienen, bezeugen seine intensive Beschäftigung mit Urbanisierung und | |
Urbanität, die er immer wieder im Rahmen kollektiver Mobilisierungsprozesse | |
diskutierte. | |
In „Le droit à la ville“ und „La revolution urbaine“ untersuchte Lefeb… | |
wie es zur „Krise der Stadt“ kommen konnte. Als Ursachen diagnostizierte er | |
den autogerechten Umbau der Städte, die Stadtflucht zahlungskräftiger | |
Bevölkerungsgruppen ins suburbane Eigenheim, die Trostlosigkeit der neuen | |
Trabantensiedlungen und die Verödung der Zentren. Die rénovation urbaine | |
beschleunigte den Abriss städtischer Altbausubstanz und ließ im leeren | |
Zentrum politische und wirtschaftliche „Entscheidungszentren“ neben | |
„Zentren des Konsums“ entstehen. | |
Lefebvres Diagnose: Dort, wo lediglich Wohngebiete und Wohnkomplexe, wo | |
Zentren für Kommerz, Institutionen für wirtschaftliche und politische Macht | |
entstanden, konnte sich keine Urbanität ausbreiten. | |
Henri Lefebvre erkannte, dass das Auseinanderdriften von leerem Zentrum, | |
einer Neustadt aus Eigentumssiedlungen und den abgehängten, verarmten | |
Banlieues zwangsläufig zum Hass auf die Stadt führte. Während | |
Stadtsoziologen seinerzeit Planungs- und Verwaltungsfragen lediglich als | |
statistisch-empirisches Material behandelten, interessierten sich Marxisten | |
allenfalls für die „Wohnungsfrage“. Man verstand sich zwar [2][in der | |
Tradition von Friedrich Engels, der die miserable Wohnungssituation] in den | |
Arbeitersiedlungen von Manchester beschrieb, doch eine Reflexion von Stadt | |
wurde vom Marxismus niemals geleistet. | |
## Chancen der Partizipation | |
In diese Bresche sprang Henri Lefebvre. Einerseits wollte er herausfinden, | |
was die „beschädigte urbane Gesellschaft“ im Bewusstsein der Menschen | |
anrichtete. Andererseits drängte er darauf, angesichts der Krise der Stadt | |
das Bewusstsein von den Potenzialen des Urbanen wachzuhalten. Wie könnte | |
Urbanität also wieder gedeihen? | |
Es müsste wieder der Boden bereitet werden für „Begegnungen, Konfrontation | |
mit Unterschieden, gegenseitiges Kennen und Anerkennen von Lebensweisen“. | |
Für Lefebvre war der soziale und politische Bezug auf den öffentlichen Raum | |
als Ermöglichungsgrund urbanen Lebens wesentlich. Denn nur durch ihn | |
ergeben sich Chancen sozialer Partizipation. | |
Lefebvres urbanistische Vorlieben standen allerdings quer zu den hitzigen | |
Debatten und Kämpfen, die entbrannten, als Altstadtviertel zum Opfer | |
gerissener Spekulanten und Städte zum Experimentierfeld von Propheten eines | |
globalen autogerechten Modernisierungsschubs wurden. In den Schriften | |
Lefebvres hinterließen sie keine fassbaren Spuren. Im Nachklang der | |
Studentenunruhen blieben die Schlagwörter „Le droit à la ville“ und „La | |
revolution urbaine“. Sein Programm einer urbanen Reform, seine Skizze neuer | |
urbaner Projekte und einer neuen Wissenschaft von Stadt blieben im Vagen. | |
Sein Versuch, die urbanistischen Diskurse zu erneuern, erreichte kaum die | |
alltägliche Arbeitspraxis der Stadtplaner. | |
Wenngleich Henri Lefebvre der große Abwesende in den heutigen Debatten um | |
Urbanität und Partizipation ist, so ist es offenkundig, dass seine Gedanken | |
untergründig weiterwirken. Seine Ideen von der „neuen Stadt“ der | |
Partizipation bleiben virulent. Beispielsweise betrifft das die Entwicklung | |
von Open-Source-Plattformen und den Einsatz digitaler Daten im Rahmen einer | |
bürgerorientierten Stadtentwicklung. | |
Das [3][CityScience Lab der HafenCity] Universität Hamburg entwickelt | |
Instrumente, mit denen Daten hinsichtlich Mobilität, Wohnungsbau, | |
Grünflächen, Kultur und Migration besser kommunizierbar sind, in einer | |
Weise, die den allgemeinen Zugriff auf sie gestattet. Direktorin Gesa | |
Ziemer möchte mit diesem Instrumentarium „ein anderes Denken und Handeln in | |
der Stadtentwicklung“ befördern. Beispielsweise mit der „Stadtwerkstatt“, | |
an der sich seit einigen Jahren bis zu 6.000 Bürger beteiligen, was dazu | |
führt, dass „Stadtentwicklung zunehmend aus der Bürgerschaft heraus | |
initiiert und gestaltet“ wird. | |
Ein anderes Beispiel ist [4][Francesca Bria], die 2015 als Mitglied der | |
Stadtregierung Barcelona das weltweit größte Experiment in digitaler | |
Demokratie startete: Eine digitale Bürgerbeteiligungsplattform, die | |
Abstimmungen über Wohnungsbau und Verkehrspolitik initiierte. Konkret geht | |
es um Fahrradspuren, Räume fürs kulturelle Leben, Unterstützung kleiner | |
Läden und Werkstätten, Wassermanagement und Umweltverschmutzung. | |
In vielen Städten laufen diese Prozesse heute parallel: Während in Indien | |
City Scopes entwickelt werden, mit denen die Herausforderungen der rasanten | |
Urbanisierung besser angegangen werden können, generiert man in Barcelona | |
Daten, um die Auswirkung verkehrspolitischer Entscheidungen besser messen | |
und politische Weichenstellungen treffsicher durchsetzen zu können. | |
In diesem Kontext entstand der neue Superblock, wo man alles, was man | |
braucht – Arbeitsplatz, Geschäfte, Kindergärten, Parks –, in fünfzehn | |
Minuten zu Fuß erreicht. Das Resultat der digitalen Bürgerpartizipation: | |
Sechzehn Viertel sind heute autofrei, wodurch man sechzig Prozent des | |
öffentlichen Raums, der vorher von fahrenden oder parkenden Autos belegt | |
war, anders nutzen kann. „Diese Form digitaler Stadtdemokratie hat die | |
Stadt verwandelt“, resümiert Francesca Bria, die heute Chefberaterin der | |
Vereinten Nationen für digitale Städte ist. | |
Und wie hat sich Barcelona in den Zeiten von Pandemie und | |
Digitalisierungsschub verändert? Lockdown und Homeoffice hatten zur Folge, | |
dass plötzlich begrünte Co-Living-Spaces und Gärten entstanden, die als | |
Erholungs- und Rückzugsräume dienen. Andernorts wurden leere Bauten besetzt | |
und von kleinen Gruppen in Werkstätten umgewandelt. | |
Die Krise der Stadt, die Henri Lefebvre bereits vor sechzig Jahren | |
ausmachte, ist geblieben. Das kann auch als Chance begriffen werden. Denn | |
immerhin tun sich – trotz des Rückzugs des öffentlichen Raums, trotz | |
Privatisierungsdrucks – unverhofft immer auch Lücken im Stadtraum auf, die | |
kreativ genutzt werden können. Anders lässt sich die Krise nicht produktiv | |
bewältigen. | |
29 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /1968-in-der-franzoesischen-Provinz/!5501470 | |
[2] /Kolumne-Wirtschaftsweisen/!5044912 | |
[3] https://www.hcu-hamburg.de/research/csl/ | |
[4] /Projekt-2038-fuer-Architekturbiennale/!5699710 | |
## AUTOREN | |
Klaus Englert | |
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