Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kultur in Deutschland nach der Pandemie: Kein Land für Dichter
> Erst eingeengt, dann lahmgelegt und für überflüssig erklärt. Der
> Aktionismus nach Corona rettet die Kultur nicht. Nötig sind langfristige
> Strategien.
Bild: Über ein Jahr blieben Künstler und Künstlerinnen still
Das kulturelle Leben wurde über ein Jahr lang abgesagt. Zugegeben, es
hagelte Milliardenhilfen, vor allem für die feinen Kulturhäuser in
ehrwürdigen Bauten. Doch die Deutschen haben in den letzten Monaten
gemerkt: [1][Es geht auch ohne Kunst!] Was heißt es, wenn Kunst als
überflüssig erklärt wird, wenn es jenseits von Streamingdiensten immer
weniger Angebote gibt, um Geschichten über das menschliche Dasein zu
erkunden?
Das kulturelle Leben stand in Deutschland selbst dann noch still, als in
Städten wie etwa [2][Barcelona] Konzerte unter hohen Auflagen wieder
stattfanden, begleitet von Studien, die auch anderen Ländern zeigten:
Kulturevents sind möglich, wenn man sie gut organisiert. Warum sorgten
spanische Behörden trotz vergleichbarer Infektionszahlen für
Veranstaltungen, während hier alle in die brave Warteschleife mussten?
In politischen Reden wird gerne der ominöse „Zusammenhalt“ beschworen, die
Notwendigkeit, Gräben zu überwinden – doch warum ermöglicht man dann nicht
so schnell wie möglich wieder gemeinsame ästhetische Begegnungen? Das
Lahmlegen des Kulturbetriebs war als Maßnahme eine Zeit lang sinnvoll, doch
hätte man – angesichts der Milliarden, die ausgeschüttet wurden – zugleich
sicherstellen müssen, dass die Kultur trotz der Schließungen Teil des
Alltagslebens bleibt.
Man stelle sich vor, Millionen Deutsche hätten statt der Hundertsten Rate-
und Nostalgiesendung mit B- und C-Promis eine Theaterpremiere, ein Konzert
oder eine Buchvorstellung gesehen! In Frankreich wurde ein neuer TV-Sender
ins Leben gerufen: [3][„Culturebox“]. Sieben Tage die Woche werden
Konzerte, Schauspiel- und Fernsehaufnahmen ausgestrahlt. In Frankreich gab
und gibt es Büchersendungen, in denen Autoren mit ihren Büchern zu Gast
sind und über ihre Bücher sprechen dürfen statt mit Politikern und über
Debattenblabla.
## In Paris geht es schließlich auch
Ich habe wirklich keine Lust mehr auf dieses „In Frankreich geht das, weil
…“, wenn es sich um kulturelles und intellektuelles Leben dreht. Der
Aachener Vertrag, den Merkel und Macron unterzeichnet haben, hat nun zur
Errichtung des „Kultur Ensemble“ in Palermo geführt, aber der Austausch
müsste viel breiter und weniger elitär angelegt werden: Wie kann
Deutschland von Frankreich lernen, wenn es um den Stellenwert von Kultur
und kultureller Bildung geht?
In Frankreich schlossen die Schulen nur in den schlimmsten Phasen der
Pandemie, Kindern Bildung vorzuenthalten galt als letzte Maßnahme; in
Deutschland hingegen richtete man sich darin ein, [4][die Kinder zu Hause
zu lassen], von den familienpolitischen Klischees dahinter ganz zu
schweigen. Für Kinder aus bildungsfernen Schichten bedeutete das 15 Monate
ohne Kulturvermittlung.
Wenn die Regierung Milliarden ausgibt für die Kunst, warum hat sie nicht
Plattformen gefördert, die Zugänge zur Kunst auch in Zeiten der
Ausgangsbeschränkungen ermöglichen? Kultur, Wissenschaft oder
Zivilgesellschaft wurden schon vor Corona in Deutschland durch
bürokratische Vorgaben und Strukturen gefördert und behindert zugleich.
Bereiche der Gesellschaft, die für Eigeninitiative und den freien
Wissensaustausch stehen, werden so domestiziert und gesteuert. Seit Anfang
2020 stand die Kultur still, die Zivilgesellschaft und die Universitäten
arbeiteten nur online, Letztere bis heute.
Die gesellschaftlichen Folgen dieser Maßnahmen werden zwar immer häufiger
thematisiert – doch was heißt das konkret für die Zukunft der
Kulturpolitik? Schon 2009 gab es eine Enquetekommission, die forderte,
Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Nach Corona, im Jahr
2021, kommt so eine Forderung natürlich per Petition. „Kultur ins
Grundgesetz.“ Die Petition könnte genauso erfolglos bleiben wie damals die
Kommission.
## Kultur ins Grundgesetz
Die Öffnungen allein werden die Probleme nicht beheben. Der Aktionismus der
Kulturbranche wird eine pandemiemüde Bevölkerung jetzt eher überfordern.
Die Mittel, die jetzt in Schnellprogramme fließen, wären besser in einer
10-Jahres-Strategie aufgehoben und in jenen Kulturprogrammen im Radio und
TV, die man im letzten Jahr absurderweise fleißig gestrichen hat.
Warum war gerade das kulturelle Angebot so verzichtbar? Warum ist diese Art
der Geistesaktivität nicht wichtig genug, um sie auf alternativen Wegen zu
sichern? Das grundlegende Gespräch über die Kulturpolitik in diesem Land
sollte jetzt beginnen. Wann und in welchen Foren soll darüber geredet
werden, was Kunst bedeutet und welchen Raum sie braucht, um eine Rolle für
diese Gesellschaft zu spielen, eine Rolle, die über ein bürgerliches
Theater-Abo und einen Museumsbesuch bei Städtereisen hinausgeht?
Das einzige Mal, dass Künstlerinnen in diesem pandemischen Jahr öffentlich
hörbar wurden, war [5][die verunglückte Aktion #allesdichtmachen.]
Innerhalb von wenigen Tagen war jedoch auch aus dieser Aktion eine der
tausend Diskussion über Meinungs(un)freiheit, rechtsextreme Strippenzieher
und die öde Leier von der Spaltung der Gesellschaft geworden.
Ein langes Jahr lang wollten sich die meisten Künstler eben nicht
öffentlich beschweren, auch weil es in den sozialen Medien schnell zu
Selbstmitleid verzerrt wurde: Ach, diese Künstler! Ihre Kunst und
Selbstbezogenheit ist ihnen wichtiger als der Schutz des Lebens. Darin
zeigte sich auch das vorherrschende Künstlerbild in diesem Land: Die
egoistischen Selbstverwirklicher!
Während [6][Mitarbeitende in Großraumbüros] für ihre Arbeit lange nicht
einmal zu Tests verpflichtet werden durften, während in zahlreichen
Branchen „aus beruflichen Gründen“ weltweit gereist und zurückgekehrt
werden durfte, blieben die Künstler still und zu Haus. Die Künstler sind
keine guten Anwälte für die eigene Sache. Einige Kulturfunktionäre fordern
daher ein Ministerium für Kunst und Kultur. Klingt zwar wieder nach
Bürokratie, doch ein Anfang wäre es.
30 Jun 2021
## LINKS
[1] /Kunst-und-Corona/!5752674
[2] /Prioritaeten-in-der-Coronapandemie/!5762860
[3] https://www.youtube.com/channel/UCMYfuiXSrlDcceHl_Yc-mMA
[4] /Berliner-Coronaschuljahr-macht-Ferien/!5777896
[5] /Ulrike-Folkerts-zu-allesdichtmachen/!5767247
[6] /Gesetzliche-Testpflicht-fuer-Unternehmen/!5758950
## AUTOREN
Jagoda Marinić
## TAGS
taz.gazete
Bildende Kunst
Schwerpunkt Coronavirus
Theater
Schwerpunkt Frankreich
Barcelona
Schlagloch
psychische Gesundheit
Schwerpunkt Coronavirus
Recht auf Stadt
Intendant
Kultur in Berlin
Protokoll Arbeit und Corona
## ARTIKEL ZUM THEMA
Auswirkungen der Coronapandemie: Literatur und Systemrelevanz
Wie hart trifft die Pandemie die Kulturschaffenden? Einige von ihnen
sprechen darüber am Donnerstag im Berliner Brecht-Haus. Vier Protokolle
vorab.
Aus für Feel-Festival in Brandenburg: Re-Start erneut verschoben
Das Feel-Festival und das Artlake Festival in Brandenburg werden auch in
diesem Jahr wegen Corona abgesagt. Die Veranstalter sind frustriert.
Stadtsoziologie von Henri Lefebvre: Die beschädigte urbane Gesellschaft
Der Soziologe Henri Lefebvre kritisierte die autogerechte Stadt und den
Verlust öffentlicher Räume. Neue Konzepte schließen an seine Ideen an.
Kurator über Kunst als Heilung: „Sie sollen in das Haus kommen“
Bonaventure Soh Bejeng Ndikung leitet ab 2023 das Haus der Kulturen der
Welt. Ein Gespräch über Kunst und koloniale Kontinuitäten.
Berlins Kultur in der Coronakrise: Wann hebt sich der Vorhang?
Angesichts sinkender Inzidenzzahlen möchten Berlins Kulturschaffende
endlich wieder loslegen. Am Montag könnten erste Entscheidungen fallen.
Kultur soll ins Grundgesetz: „Es geht um den Schutz von Kunst“
Die Schauspielerin Katharina Kwaschik findet, dass die Kultur ins
Grundgesetz gehört. Darum hat sie eine Petition ins Leben gerufen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.