| # taz.de -- Kurator über Kunst als Heilung: „Sie sollen in das Haus kommen“ | |
| > Bonaventure Soh Bejeng Ndikung leitet ab 2023 das Haus der Kulturen der | |
| > Welt. Ein Gespräch über Kunst und koloniale Kontinuitäten. | |
| Bild: Der Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung wird 2023 Intendant des Berlin… | |
| Als Autor, Kulturkritiker und Kurator mit postkolonialer Agenda hat sich | |
| Bonaventure Soh Bejeng Ndikung einen Namen gemacht. Jetzt wurde er zum | |
| Intendanten des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) berufen. | |
| taz: Herr Ndikung, Sie sind gerade im niederländischen Arnheim, wo am 2. | |
| Juli die von Ihnen geleitete 12. Ausgabe des Sonsbeek-Kunstfestivals | |
| eröffnet. Worum wird es gehen? | |
| Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: Der Titel lautet „Force Times Distance“, | |
| das ist in der Physik eine Formel für Arbeit. Ich bin ja von Haus aus | |
| Naturwissenschaftler. Es geht also um Arbeit, insbesondere um ihre Klänge, | |
| daher der Untertitel „On Labour and its Sonic Ecologies“. Thematisiert | |
| werden unter anderem illegalisierte Sexarbeit oder unbezahlte Care-Arbeit. | |
| In Arnheim haben sich viele Rückkehrer aus den Kolonien in Surinam oder | |
| Indonesien niedergelassen. Die Holländer waren unglaublich aktiv im | |
| transatlantischen Menschenhandel. Die Musik, Blues oder Jazz, die auf den | |
| Plantagen entstand, erzählt viel über die Umstände dort. Das Programm läuft | |
| über vier Jahre statt wie sonst nur für einige Monate, so können wir uns | |
| ganz anders vor Ort verankern. Wir wollen Menschen aus allen Schichten | |
| erreichen, auch jene, die sonst nicht ins Museum gehen, und machen zum | |
| Beispiel Radiosendungen in Friseurläden oder stellen in Kirchen aus. Das | |
| Festival wurde schon 1949 in der nach dem Krieg stark zerstörten Stadt | |
| gegründet, mit der Idee, Gesellschaft mit Kunst zu heilen. | |
| Kann sie das? | |
| Der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin beschrieb die | |
| Aufgabe von Künstlerinnen und Künstlern in seinem Essay „The Creative | |
| Process“ von 1962 so: Sie müssen die Fragen enthüllen, die sich hinter den | |
| Antworten verbergen. Wir glauben nämlich, schon Antworten zu haben, ohne | |
| die Fragen überhaupt zu kennen. In der Kunst können Dinge zum Ausdruck | |
| gebracht werden, die ich weder auf Deutsch, Englisch, Französisch noch in | |
| meiner Muttersprache Nguemba, einer von vielen, die in Kamerun gesprochen | |
| wird, wo ich herkomme, sagen kann. Gesellschaften lassen sich aber | |
| natürlich auch mit anderen Mitteln heilen. | |
| Als Biotechnologe denken Sie dabei wahrscheinlich an die | |
| Naturwissenschaften? | |
| In meiner Arbeit kommen natur- und kunstwissenschaftliche Diskurse immer | |
| zusammen. Vor allem interessiert mich, wie Menschen aus aller Welt Wissen | |
| schaffen. Und mich interessieren die Verknüpfungen zwischen Wissenschaft | |
| und Kolonialgeschichte. Kamerun heißt so, weil die Portugiesen es nach den | |
| Krabben („camarão“) benannt haben, die sie dort im Fluss gefunden haben. | |
| Vorher hatte die Region unterschiedliche Namen. Sie verlor ihre Identität | |
| und orientierte sich an einem kolonialen Begriff. So wie jene, die von dort | |
| verschleppt und versklavt wurden und Namen wie „Baldwin“ aufgezwungen | |
| bekommen haben. Wenn wir Namen verlieren, verlieren wir auch Wissen, zum | |
| Beispiel für heilende Pflanzen. | |
| Wie kam es zu Ihrem Karriereschritt von der Naturwissenschaft zur Kunst? | |
| Ich kam 1997 nach Berlin, um an der TU Lebensmitteltechnologie zu | |
| studieren. Später promovierte ich in Düsseldorf über Mutationsmechanismen, | |
| die zu Leukämie führen. Ich arbeitete dann weiter als Postdoc an | |
| Universitäten in Berlin und Montpellier und später in der Wirtschaft. | |
| Parallel habe ich von Anfang an Ausstellungen gemacht. Die Kunst und die | |
| Naturwissenschaft waren immer zwei Seiten einer Medaille, und in der | |
| Gesellschaft, aus der ich komme, hat man die Medizin und die Kunst schon | |
| immer zusammengedacht. | |
| 2023 treten Sie als Intendant des HKW an. Das Haus macht ein | |
| transdisziplinäres und internationales Programm, vor allem innerhalb seiner | |
| markanten Architektur. Können Sie sich wie in Arnheim vorstellen, mit Ihrem | |
| Programm aus dem Haus heraus und in die Stadt hineinzugehen? | |
| Vor über zehn Jahren habe ich im Berliner Bezirk Neukölln den Kunstraum | |
| SAVVY Contemporary gegründet, der sich heute im Wedding befindet. Es ist | |
| einer von vielen in Berlin, die von Menschen gemacht werden, die zum | |
| Beispiel aus Asien, Afrika oder Lateinamerika kommen. Sie haben das Gefühl, | |
| wenn sie warten, bis etwas für sie gemacht wird, passiert nie etwas. Also | |
| werden sie selbst aktiv. Auch Initiativen, wie Berlin Postkolonial und | |
| EOTO, sind enorm wichtig – vielleicht würden wir ohne ihre Vorarbeit heute | |
| noch gar nicht über Restitution sprechen und Straßennamen ändern. Ich komme | |
| aus diesem Graswurzelumfeld und möchte auch künftig mit kleinen Gruppen in | |
| Berlin zusammenarbeiten. In Berlin leben Menschen aus über 190 Nationen. | |
| Ihr migrantisch situiertes Wissen macht die Stadt aus. Sie sollen in das | |
| Haus kommen, und das Haus muss auch aus sich heraus und auf sie zu kommen. | |
| Das HKW widmet sich seit 2016 der Korrektur am Kanon der westlichen | |
| Moderne, ein Thema, das auch Ihre Arbeit prägt. Was ist noch zu tun? | |
| Ich habe viel über das, was ich „Dekanonisierung“ nenne, geschrieben. Dabei | |
| geht es darum, wie wir poröse Kanonstrukturen erstellen und | |
| Ausschlussmechanismen aufgrund von Hautfarbe, Klasse oder Gender | |
| thematisieren – kurz: wie wir „dekanonisierend“ denken können. Zentral i… | |
| die Frage, ob wir überhaupt einen Kanon brauchen. Ich lasse das offen. | |
| Notwendig ist, gemeinsam über diese Fragen und alternative Strukturen zum | |
| Kanon nachzudenken. Im gleichen Atemzug habe ich viel mit dem Begriff | |
| „De-Erasure“ gearbeitet, zum Beispiel von Figuren, wie [1][Anton Wilhelm | |
| Amo], nach dem in Berlin gerade eine Straße benannt wurde und zu dem ich | |
| ein Ausstellungsprojekt im Kunstverein Braunschweig und bei SAVVY gemacht | |
| habe. Amo wurde als Kind aus dem heutigen Ghana verschleppt und wirkte als | |
| Philosoph im 18. Jahrhundert in Deutschland, wo er unter anderem über die | |
| Rechte Schwarzer Menschen in Europa schrieb. Aus der Philosophiegeschichte | |
| wurde er förmlich „wegradiert“. | |
| Einige Stimmen sprechen von „dekolonial“ statt von „postkolonial“, um | |
| koloniale Kontinuitäten in der Gegenwart genauer zu beschreiben. Wie | |
| verorten Sie Ihre Arbeit? | |
| Es ist wichtig, dass wir uns nicht zu sehr in Begrifflichkeiten verlieren. | |
| Kamerun und andere ehemalige französische Kolonien nutzen noch immer die | |
| koloniale Währung CFA. 70 Prozent der Ressourcen aus Kamerun gehen noch | |
| immer nach Frankreich. Und Übersubventionierungen europäischer | |
| Landwirtschaftsbetriebe führen dazu, dass ein importiertes Hühnchen | |
| preiswerter ist als ein kamerunisches. Im Grunde meinen beide Begriffe das | |
| gleiche: nämlich solche wirtschaftlichen, politischen und | |
| gesellschaftlichen Asymmetrien, Zerstörungen von Strukturen, die auch in | |
| der Gegenwart noch angerichtet werden. Homi Bhabha und andere haben klar | |
| gemacht, dass „post“ nicht schlicht als „danach“ zu verstehen ist, sond… | |
| als Kontinuität. Aníbal Quijano, Walter Mignolo und anderen dekolonialen | |
| Denkern war der Begriff dennoch zu limitierend. Er verortet den Beginn der | |
| Kolonialzeit im 19. Jahrhundert, tatsächlich aber muss man deutlich weiter | |
| zurückgehen und die Kolonialisierung mit der gesamten Moderne | |
| zusammendenken. Da sind wir im 15. Jahrhundert bei der so genannten | |
| „Entdeckung der Welt“, bei der es von Anfang an um Profit ging. Mit Quijano | |
| müssen wir über die „Kolonialität der Macht“ nachdenken, also über ein | |
| Kontinuum von Machtstrukturen, die einfach nur immer wieder neue Formen | |
| annehmen. | |
| Diese Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Kolonialismus haben auch zu | |
| Kritik am Begriff des [2][„Anthropozäns“ geführt, der die Umgestaltung des | |
| Erdsystems durch menschliche Eingriffe meint und dem das HKW seit 2013 ein | |
| Projekt widmet]. Viele sprechen mittlerweile vom „Kapitalozän“. | |
| Der jetzige [3][Intendant Prof. Bernd Scherer], der Kurator Anselm Franke | |
| und die vielen Beteiligten haben im Rahmen des Projekts eine sehr wichtige | |
| Arbeit gemacht. Kritik gehört eben dazu: Vielleicht würde jetzt niemand | |
| über das Kapitalozän schreiben, wenn der Diskurs über das Anthropozän | |
| nicht vorangegangen wäre. Insgesamt bin ich der Meinung, dass wir den | |
| Menschen nicht zu sehr in den Vordergrund stellen sollten. Wir sind nur ein | |
| Teil dieser Erde und sollten mehr von anderen Wesen lernen, um besser zu | |
| koexistieren zu können. | |
| 27 Jun 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine Weier | |
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