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# taz.de -- Konferenz zum Anthropozän: Das Zeitalter des Menschen
> Nicht mehr die Natur verändert die Erde, sondern der Mensch. Beim Auftakt
> des zweijährigen Anthopozän-Projekts gab es viel Kunst – und wenig
> Politik.
Bild: Die Erde und was der Mensch aus ihr macht.
Vor der Kongresshalle im Berliner Tiergarten brutzelt ein riesiger Ochse am
Spieß. Den ganzen Tag dreht er sich über offener Flamme zu appetitlicher
Bräune, um am Abend von den Teilnehmern einer Konferenz über das
„Anthropozän“ verspeist zu werden. Das „Anthropozän“ ist die
„Menschenzeit“, die in der Erdgeschichte auf den geologisch letzten
Abschnitt des Holozän folgt.
Der Grund für den Begriffswechsel: Inzwischen ist der Mensch, und nicht
mehr die Natur, zum wichtigsten Einflussfaktor auf den Planeten geworden.
Der Mensch formt die Erde, absichtlich – und vor allem unabsichtlich, eine
Deformation.
Zeitgleich zur Anthropozän-Konferenz im Haus der Kulturen der Welt (HKW)
haben verschiedene Organisationen wie zum Beleg in Berlin den
[1][Fleischatlas] vorgestellt: eine schwer verdaubare Bestandsaufnahme, wie
der exzessive Fleischkonsum der Industrie- und Schwellenländer die Natur
und regionale Ökonomie in weiten Teilen der Welt ruiniert. Im Tiergarten
kommen die Rinderstücke ästhetisiert in Form einer Kunstaktion namens
„Metabolic Kitchen“ auf den Teller. Bon appétit.
Ein Wochenende lang versuchten Wissenschaftler und Künstler gemeinsam, sich
dem neuen Begriff des Anthropozän zu nähern und ihn für ihre
Handlungswelten nutzbar zu machen. „Es geht uns mit diesem Projekt um eine
Neuordnung segmentierter Wissensformen und die Exploration neuer Formen der
Wissensproduktion im Zusammenspiel zwischen Kunst und Wissenschaft“,
erklärt HKW-Intendant Bernd Scherer.
Gemeinsam mit zwei Forschungseinrichtungen, dem Max-Planck Institut für
Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Berlin und dem Deutschen Museum in
München, ist es Scherer gelungen, für das auf zwei Jahre angelegte
[2][Anthropozän-Projekt] aus dem Etat von Bundeskultur-Staatsminister
Neumann den imposanten Betrag von 3 Millionen Euro zu ergattern.
## Das Ozonloch als Mahnung
„Wir wollen eine neue Forschungsagenda formulieren und fundamentale
Begriffe der Wissenschaft aus Sicht des Anthropozäns neu überdenken“,
erklärt Jürgen Renn, Leiter des MPIWG. Sein Mainzer Kollege, der
Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen war es, der vor zehn Jahren den
Begriff des Anthropozäns erstmals in die Diskussion einbrachte. Crutzen
hatte mit seinen Forschungen zum Ozonloch über der Antarktis ein
schlagendes Beispiel vor Augen, wie menschen-gemachte Chemikalien, die
FCKW, einen planetarischen Schutzschild in der Atmosphäre durchlöchern
können.
Für Renn müssen sich die disziplinären Wissenschaften im neuen Erdzeitalter
anders aufstellen, um die globalen Probleme zuerst wahrnehmbar und dann
auch lösbar zu machen. „Dazu zählen etwa Fragen wie die rechtliche Probleme
des Climate Engineering oder zur Nutzung der internationalen
Wasserressourcen bis hin zur Globalisierung des Wissens“, führt der
MPI-Historiker als Beispiele an.
Für den Geologen Reinhold Leinfelder von der FU Berlin bedeutet das
Anthropozän auch „ein neues Verständnis des Verhältnisses von Natur und
Kultur“. Mensch und Natur stünden sich nicht mehr isoliert gegenüber. „Als
bio- und geologische Akteure sind die Menschen prägender Teil eines
’Sozio-Ökosystems‘ – eine Wahrnehmung, die eine große Verantwortung mit
sich bringt“, erklärt der Wissenschaftler. Zusammen mit dem Rachel Carson
Center for Environment and Society an der Ludwig-Maximilians-Universität
München bereitet er eine große Anthropozän-Ausstellung vor, die 2014 am
Deutschen Museum in München gezeigt wird.
Der Wissenschaftsjournalist Christian Schwägerl, der mit seinem Buch
„Menschenzeit“ den Anstoß für die Veranstaltung gab und auch in ihrem
Kuratorium sitzt, verweist auf frühe Wurzeln. Schon Alexander von Humboldt
habe die Vorstellung von einem „Weltorganismus“ gehabt und erste
Überlegungen zu einer „botanischen Geisteswissenschaft“ angestellt.
Schwägerl: „Wir treten mit unserm Projekt also in große Fußstapfen.“
## Wissenschaft nur als Beiwerk
Der erste Gehversuch hinterließ dann aber doch Druckstellen. Vielfach wurde
in der Eröffnungsveranstaltung die Wissenschaft mehr als Beiwerk zu
künstlerischen Darbietungen hinzugefügt. Fünf Themen-„Inseln“ – wie
„Zeiten“ und „Gärten“ – wollten in „transdisziplinären Landschaft…
Wechselwirkung von Mensch und Natur erfahrbar machen. Atemübungen
verknüpften Philosophie, Medizin und morgendliche Wellness.
Abgehobene Diskurse über die Kulturgeschichte der Apokalypse und
politikfreie Foto-Exkursionen nach Fukushima wurden ebenso geboten wie
verirrte Ansichten New Yorker Künstlerinnen über die Eignungen von
finnischen Gesteinsformationen für einen „nuklearen Garten“ zur Lagerung
von Atomabfällen. An der mehrwertigen Kombination von Kultur und
Wissenschaft muss im Anthropozän noch heftig gearbeitet werden.
Was besonders auffiel, war die fehlende Schnittstelle zur Umweltpolitik.
Eva Quistorp, frühere Grünen-Abgeordnete im Europaparlament, wo sie sich
schon in den 80er Jahren erfolgreich für die Steigerung der
Forschungsgelder für erneuerbare Energien um 40 Prozent einsetzte, nahm die
Berliner Tagung als ein Kreisen um ein „neues Modewort“ wahr.
„Anthropozän ist jetzt das neue Spielzeug für Forschungsprojekte und
allerlei Kunstdialoge“, ist ihre Einschätzung. Bei wirklichem Interesse an
Veränderung hätten die Umweltgruppen, die sich seit Jahrzehnten gegen die
ökologische Ruinierung der Erde stemmen, zur HKW-Veranstaltung prominent
eingeladen werden müssen.
„Meine Hauptkritik“, so Quistorp, „ist die dreiste, vollkommen
intellektuell und historisch unredliche Behauptung, die Umweltbewegung sei
die letzten 40 Jahren nur apokalyptisch an Desaster und Untergang
orientiert gewesen.“ Dies stelle eine „ungeheuerliche Denunziation“ dar.
18 Jan 2013
## LINKS
[1] http://www.monde-diplomatique.de/pm/.fleischatlas
[2] http://hkw.de/de/programm/2013/anthropozaen/anthropozaen_76723.php
## AUTOREN
Manfred Ronzheimer
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