# taz.de -- Stadtforscher über Theorien der Stadtentwicklung: „Zeichen städ… | |
> In der Stadt zeigt sich, wie sich der Kapitalismus in den letzten Jahren | |
> verändert hat, sagt der Stadtforscher Jürgen Oßenbrügge. Ein neues Buch | |
> zeigt, welche Theorien diesen Wandel erklären können. | |
Bild: Als buntes Treiben vermarktet: In Straßencafés des Hamburger Schanzenvi… | |
taz: Frau Vogelpohl, Herr Oßenbrügge, was bringen Theorien, um etwa der | |
viel zitierten Gentrifizierung etwas entgegenzusetzen? | |
Anne Vogelpohl: Sie lassen uns über Machtfragen und mögliche | |
Machtverschiebungen verständigen. Häufig findet sich die Forderung nach | |
mehr Demokratie von unten und weniger Einfluss profitorientierter Akteure. | |
Jürgen Oßenbrügge: Früher war es aber klarer, da bezog man Macht auch immer | |
auf bestimmte Akteure und Personen. Man hatte also in Hinblick auf das | |
Machtungleichgewicht auch eine klarere Ansprache. | |
Nehmen wir mal das Beispiel des Hamburger Szeneviertels Schanze – wie | |
könnte man die Wandlung des alten Arbeiterviertels theoretisch erklären? | |
Oßenbrügge: Wir haben in einem Projekt die Hafencity mit der Schanze | |
verglichen. Das eine könnte man als eine Art geplante, das andere als eine | |
ungeplante Urbanität bezeichnen. In der Schanze kann man das koppeln mit | |
Jane Jacobs oder der modernen Variante davon: Richard Floridas „Creative | |
City“. | |
... in der Schanze ließen sich Ende der 90er-Jahre Designer, Werbe-Leute | |
und Software-Entwickler in alten Fabrikgebäuden nieder. Genau das Klientel, | |
das der US-Ökonom mit dem Begriff der kreativen Klasse bezeichnete, die die | |
Städte umwerben müssten. | |
Oßenbrügge: Damit kann man grundlegende gesellschaftliche Wandlungsprozesse | |
erklären, die darauf abzielen, dass eine andere Art von Lebensführung, | |
Arbeitsverhältnissen, andere Formen des Zusammenlebens eine größere Rolle | |
spielen, die zu einer Transformation des Städtischen beitragen. Man kann | |
auch im Schanzenviertel eine moderne Steuerungsperspektive aufmachen, die | |
man unter einem Gouvernementalitätsbegriff fassen kann. Da könnte man auch | |
die Arbeit der Stadt oder der Sanierungsträger mit einbinden, also | |
inwieweit das eine ganz bewusste zielgerichtete Veränderung des Städtischen | |
ist. So wird deutlich, dass auch dieses vermeintlich Ungeplante wiederum | |
eingebettet ist in Planungen. | |
Vogelpohl: Konkret haben wir über Zeitlichkeiten in der Stadt gesprochen | |
und das Schanzenviertel als ein Beispiel dafür genommen, dass zeitliche | |
Rhythmen nicht mehr wie im Fordismus funktionieren, sondern viel | |
entgrenzter, nicht mehr so greifbar sind. Das zeigt sich zum Beispiel an | |
den Schichtzeiten im Schanzenviertel. Wenn im Schlachthof Schichtwechsel | |
war, hat sich das im ganzen Viertel bemerkbar gemacht. Heute gibt es andere | |
Zeitlichkeiten, die der neoliberalisierten Welt entsprechen. | |
Welche? | |
Vogelpohl: Das Neoliberale der Stadt ist ja immer im Zusammenhang mit der | |
Ökonomisierung von vorher kaum kommerzialisierten Bereichen zu sehen. Statt | |
eindeutiger Stoßzeiten und relativ klaren Aktivitäts- und Ruhezeiten, ist | |
heute in der Schanze permanent was los. Das ist nicht nur ein schlichter | |
Wandel der lokalen Ökonomie, also der entgrenzten Zeiten der | |
Kreativwirtschaft und der Gastronomie. Es ist auch ein Zeichen dafür, dass | |
diese Form des Stadtlebens zur Grundlage städtischer Wachstumsvisionen | |
geworden ist. Das zeigt sich etwa darin, dass das intensive Straßenleben | |
kaum für Anwohner problematisiert und stattdessen als „urbanes Treiben“ | |
vermarktet wird. | |
Was genau vermissen Sie? | |
Oßenbrügge: Die Stadtplanung ist stark von praktischen Fragen geprägt. Es | |
ist ja so: Je näher ich an den Gegenstand komme, desto mehr muss ich mich | |
legitimieren, warum ich mit ihm abstrakt umgehe. Das hängt in der Geografie | |
auch damit zusammen, dass wir eigentlich eine sehr beschreibende | |
Fachtradition haben. Und in der Politikwissenschaft spielt die lokale Ebene | |
keine so große Rolle, da ist das Denken in Nationalstaaten und größeren | |
Raumzusammenhängen viel stärker ausgeprägt. So haben wir in allen wichtigen | |
Disziplinen, die sich mit Raumfragen beschäftigen, kein besonderes | |
Interesse für Theoriefragen. Das ist erstaunlich, weil die Stadt ja ein | |
sehr vielschichtiger Gegenstand ist. | |
Eine Bewegung hat mit „Recht auf Stadt“ den marxistischen Soziologen Henri | |
Lefebvre für sich entdeckt. Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet sein | |
Slogan aus den späten 60er-Jahren heute wieder aktuell geworden ist? | |
Oßenbrügge: Weil das ein schöner Ausdruck ist. Aber da haben wir, Frau | |
Vogelpohl und ich, wahrscheinlich unterschiedliche Auffassungen …. | |
Vogelpohl: In der Stadtforschung ist Lefebvre schon seit Jahren wieder | |
„in“, aber vor allem mit seiner Reproduktion des Raumes, mit der man die | |
Komplexität fassen kann. Die Frage nach dem Recht auf Stadt war in der | |
Stadtforschung erst mal gar nicht so wichtig. Sie ist sozusagen von der | |
Straße gekommen – nicht umgekehrt. | |
In Hamburg zum Beispiel – mit der Entstehung des Netzwerks „Recht auf | |
Stadt“ vor fünf Jahren. | |
Vogelpohl: Das war eine internationale Bewegung, die auch hier in Hamburg | |
angekommen ist. Dieser Begriff ist einfach wahnsinnig griffig. Ich glaube | |
für die Bewegung selbst war Lefebvre überhaupt nicht so wichtig. Dass in | |
Hamburg überhaupt über ihn geredet wird, liegt an bestimmten | |
Einzelpersonen, die ein Interesse hatten, sich mit seiner Theorie | |
auseinanderzusetzen. | |
Und inwiefern kommen Sie zu einer anderen Einschätzung, Herr Oßenbrügge? | |
Oßenbrügge: Leute wie ich sind sehr stark in den 70er-Jahren sozialisiert | |
worden. Lefebvre ist für mich eigentlich in erster Linie ein | |
Fordismus-Kritiker. Und „Recht auf Stadt“ steht für eine Ablehnung der | |
seriellen Produktionswelt der 50er/60er-Jahre, die auf Massenkonsum aufbaut | |
und die gewissermaßen alles in gewisse Standards bringt. Für mich | |
charakterisiert das den Ausbruch aus bestimmten formal festgelegten | |
Arbeits- und Lebensverhältnissen. | |
Welche transformatorische Kraft hat denn eine Bewegung wie Recht auf Stadt? | |
Oßenbrügge: Da gibt es andere Ansätze, die sehr viel inspirierender sind. | |
Foucaults Gouvernementalität oder auch im Marxismus verankerte Ansätze wie | |
von Neil Smith, der sich mit Gentrification schon sehr viel dezidierter | |
auseinandergesetzt hat und sagt, dass Gentrification im Grunde aus der | |
kapitalistischen Logik der Stadtentwicklung abzuleiten ist. | |
Mit welchem Ergebnis? | |
Oßenbrügge: Mit seiner „Rent-Gap Theory“ macht er deutlich, dass Stadt als | |
Ressource zu betrachten ist. Demnach muss man Gentrification als ein | |
Ausnutzen eines Aufwertungsprozesses des Immobilienkapitals begreifen, dass | |
immer eingebunden ist in weitere Kapitalkreisläufe. Seine Theorie versetzt | |
uns in die Lage, Gentrification als Prozess der Aneignung zu verstehen. Von | |
daher ist eigentlich die Frage im Raum: Lässt sich unter diesen | |
Verwertungsbedingungen überhaupt eine Stadtentwicklung denken, die frei von | |
Gentrification ist? | |
Was glauben Sie? | |
Oßenbrügge: Eigentlich ist das unmöglich. Wenn wir mit diesem Prozess | |
umgehen wollen, müssen wir ganz andere Regularien entwickeln. | |
Welche zum Beispiel? | |
Vogelpohl: Erste Regularien wie soziale Erhaltungsverordnungen und die | |
Mietpreisbremse werden ja bereits ausprobiert. Auch wenn diese Instrumente | |
wohl noch nicht ausreichen, ist die Richtung die richtige. Sie rücken | |
nämlich die Fragen ins Blickfeld: An welchen Stellen müssen dem freien | |
Markt stärkere Grenzen gesetzt werden? Muss es eine Obergrenze für Mieten | |
geben? Darf die Mietenentwicklung so stark von der allgemeinen | |
Lohnentwicklung entkoppelt sein? Völlig ausgeklammert bleiben dabei bisher | |
jedoch noch Eigentumsfragen. | |
Hat man mit der starken Konzentration auf die Stadt eine | |
gesamtgesellschaftliche Perspektive aufgegeben? | |
Oßenbrügge: Wir leben in einer Zeit wo sich Tendenzen wie Entgrenzung, | |
Flexibilisierung, Beschleunigung in der Stadt sehr stark verdichten und | |
spürbar werden. Von daher ist die Aufmerksamkeit auf die Stadt nicht so | |
überraschend. In der Stadt kann man sehr gut beobachten, wie sich der | |
Kapitalismus in den letzten Jahren verändert hat. | |
## Jürgen Oßenbrügge, Anne Vogelpohl (Hg.): „Theorien in der Raum- und | |
Stadtforschung. Einführungen“. Verlag Westfälisches Dampfboot, 2014, 350 | |
Seiten, 39,90 Euro | |
14 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Lena Kaiser | |
## TAGS | |
Stadtentwicklung | |
Gentrifizierung | |
Theorie | |
Recht auf Stadt | |
Recht auf Stadt | |
Hamburg | |
Mieten | |
Bremen | |
Mietpreisbremse | |
Hamburg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Stadtsoziologie von Henri Lefebvre: Die beschädigte urbane Gesellschaft | |
Der Soziologe Henri Lefebvre kritisierte die autogerechte Stadt und den | |
Verlust öffentlicher Räume. Neue Konzepte schließen an seine Ideen an. | |
Gentrifizierung im Schanzenviertel: „Diversität wird zerstört“ | |
Lange war der Schanzenhof ein soziokulturelles Zentrum in der Schanze. | |
Jetzt wurde den Mietern gekündigt, sie sollen einem weiteren Hostel weichen | |
Diskussion um Mietpreisbremse: Der Kampf geht weiter | |
Schwarz-Rot verteidigt die Mietpreisbremse. Zu lasch ist sie der | |
Opposition. Und der Immobilienverband sieht keine Notwendigkeit für | |
staatliche Eingriffe. | |
Mittel gegen Gentrifizierung: Länder bremsen Mieten | |
Schleswig-Holstein begrenzt Mieterhöhungen und tut es so den Stadtstaaten | |
gleich: Bremen will eine flächendeckende Mietpreisbremse einführen. | |
Mietpreisbremse kommt 2015: Ausnahmen inklusive | |
Die Begrenzung für Mieten in Gegenden mit angespanntem Wohnungsmarkt kommt. | |
Für Neubauten und umfassende Sanierungen soll sie jedoch nicht gelten. | |
Protest gegen Gentrifizierung: Abriss mit Hindernissen | |
Die Abrissarbeiten am Hochbunker in Winterhude bringen die Anwohner auf die | |
Barrikaden. Die Treffen der Gegner des Abrisses wurden vom Investor | |
überwacht. |