# taz.de -- Spekulation mit Wohnraum: Zu Schrott vermietet | |
> Unser Autor lebte drei Jahre in einem Haus in Stuttgart, das der Besitzer | |
> verwahrlosen ließ. Die Stadt will es abreißen. Über Gier und | |
> fehlgeleitete Stadtplanung. | |
STUTTGART taz | Die Tür des Hauses, das einmal sehr schön war, steht immer | |
offen. Irgendjemand hat sie aufgebrochen, im Rahmen kann man noch die Delle | |
sehen. Die Briefkästen hängen lose herunter, kaum noch ein Name steht in | |
den kleinen Fenstern. Die Post liegt auf dem Boden. Es riecht nach Urin und | |
Rattenkot. | |
Hier habe ich drei Jahre gewohnt. Jetzt soll das Haus im Stuttgarter Norden | |
abgerissen werden. Ab Herbst eröffnet ein neuer Autotunnel. Dessen Ausgang | |
liegt direkt vor dem Haus. Jeden Tag wird er Tausende Wagen ausspucken. | |
Deshalb wird die Luft vor dem Haus dann so dreckig sein, dass dort niemand | |
mehr wohnen kann. | |
So sagt es zumindest die Stadtverwaltung Stuttgart. [1][Sie will das Haus | |
kaufen und anschließend abreißen.] Die Menschen, die hier wohnen, hat | |
niemand gefragt. | |
Aber noch gehört der Stadt das Haus nicht. Sie kann es erst abreißen, wenn | |
der Besitzer es verkauft. Der will aber nicht verkaufen. Nicht weil er die | |
Menschen, die in dem Haus wohnen, schützen will. Sondern weil er mit jedem | |
Monat, in dem das Haus noch steht, weiter Miete einnimmt. Und weil er | |
darauf spekuliert, noch einen höheren Preis für das Haus rausschlagen zu | |
können. | |
Die Geschichte des Hauses, in dem ich gewohnt habe, ist eine Geschichte | |
über Gier. Es geht um ein System, in dem Vermieter aus einer | |
heruntergekommenen Immobilie so lang wie möglich so viel Geld wie möglich | |
herauspressen. Es geht um Menschen, die sich nicht dagegen wehren können. | |
Und es geht auch um eine Stadt, die irgendwie die 455.000 Autos in den | |
Griff bekommen muss, die Tag für Tag durch sie hindurchrauschen. | |
Ich zog vor fünf Jahren für mein Studium nach Stuttgart. Das Zimmer im Haus | |
mit der Adresse Bei der Meierei 1 fand ich auf wg-gesucht.de: Fünfer-WG, 24 | |
Quadratmeter großes Zimmer, 430 Euro. Stuttgart ist die drittteuerste Stadt | |
Deutschlands. 430 Euro für ein Zimmer waren ein guter Preis. | |
Das Haus ist ungefähr 80 Jahre alt. Viele der Verzierungen in der Fassade | |
werden von Satellitenschüsseln verdeckt. Die Erker, die sich aus der Mauer | |
winden, sind vom Feinstaub ganz grau. | |
Die Meierei 1 ist das einzige Wohnhaus in der Gegend. Um das Haus herum | |
sind Bürogebäude, eine Tankstelle und ein Autohaus von BMW. Oft parken | |
Menschen in großen Limousinen und mit Polohemden die Parkplätze der | |
Anwohner zu, weil sie sich den neuen 7er-BMW anschauen wollen. | |
Es sieht so aus, als hätte irgendjemand alles um dieses Haus herum | |
aufgefressen. Früher stand hier mal ein Wohnviertel, jetzt gibt es nur noch | |
Industrie und die Straße. Die Meierei 1 ist das letzte Wohnhaus in einer | |
Gegend, in der eigentlich niemand mehr wohnt. | |
## Plötzlich steht ein Mann im Flur | |
Das Haus ist in die Jahre gekommen. Die Jugendstilfliesen im | |
Eingangsbereich sind kaputtgeschlagen. Nur in wenigen Zimmern ist noch | |
Stuck, in den meisten hat man ihn beim Renovieren abgeschlagen. Die alten | |
Dielen hat man rausgerissen und Klicklaminat darübergelegt. | |
In den ersten Nächten verfluchte ich das Haus und die Straße davor. | |
Manchmal knarzte das Gebäude so, als breche es bald zusammen, und wenn man | |
die Fenster offen ließ, fühlte es sich an, als würde man auf einer | |
Verkehrsinsel schlafen. | |
Direkt vor meinem Fenster war ein Gullydeckel. Immer wenn die Lkws über ihn | |
hinwegdonnerten, knallte es wie ein Böller an Silvester. Am schlimmsten | |
waren die großen 30-Tonner-Lkws mit ihren drei Achsen. Pro Rad ein Schlag, | |
bum, bum, bum. | |
Ein paar Monate später – ich kochte gerade Nudeln in der Küche – stand auf | |
einmal ein Mann im Flur. Seine Zähne waren sehr weiß, er trug eine Mütze | |
von Prada. Es war Winter, aber seine Haut war gebräunt, als käme er gerade | |
aus dem Urlaub. „Was soll die Scheiße?“, rief er. Die Heizung im Flur stand | |
auf 5. Er drehte sie auf 0. | |
„Ich hab doch gesagt, ihr sollt nicht immer so viel heizen, das ist teuer.“ | |
Ich war so verwirrt, dass ich nichts sagte. An diesem Tag habe ich also | |
meinen Vermieter kennengelernt. | |
Herr L. kam immer wieder einfach so in unsere Wohnung. Er hatte einen | |
Schlüssel, oft kam er, wenn wir nicht da waren. Er drehte die Heizungen | |
runter und kontrollierte, ob die Fenster zu waren. Einmal zahlte mein | |
Mitbewohner die Miete nicht pünktlich. Herr L. schloss sein Zimmer mit | |
einem Zentralschlüssel ab. Er machte es erst wieder auf, als mein | |
Mitbewohner die Miete überwiesen hatte. | |
Wir sagten ihm, dass er nicht einfach in unsere Wohnung kommen könne, wann | |
es ihm passte. Und dass wir ihn anzeigen würden, wenn er noch mal einfach | |
so die Zimmer abschließe. Er sagte: „Dann zieht doch aus!“ | |
Die anderen Jungs zogen tatsächlich bald aus. Sie wohnten schon eine ganze | |
Weile in der Meierei 1 und hatten irgendwann genug von Herr L. Ich blieb. | |
Ein Freund aus meiner alten Fußballmannschaft zog in die Wohnung ein. Dann | |
eine Kommilitonin, mit der ich mich gut verstand. Dann ein Junge, der | |
damals auch neu in Stuttgart war. Wir wurden Freunde. So gute Freunde, dass | |
er die Fassade der Meierei 1 mit ihren Erkern heute auf seinem Oberschenkel | |
tätowiert hat. | |
Wir mochten das Haus, auch wenn es manchmal eklig zu uns war. Es war uns | |
egal, dass im Hinterhof bestimmt 30 Ratten wohnten, die so groß waren wie | |
Meerschweinchen. Sie fraßen sich durch die Mülltonnen durch, als wäre der | |
Inhalt aus Zucker. | |
Aber wir fühlten uns wohl in der Wohnung mit den großen Fenstern und den | |
hohen Decken. Trotz des Verkehrs da draußen. Mein Zimmer war eines mit | |
Erker, dort stand ein Tisch, an dem wir oft lange saßen und redeten. Wir | |
schauten der U13 hinterher, wie sie hinunter nach Bad Cannstatt fuhr, und | |
blickten auf den Zoo im Rosensteinpark gegenüber. Im Winter, wenn die Bäume | |
keine Blätter mehr hatten, sahen wir da manchmal die Kamele. | |
Irgendwann legte Herr L. Rattengift aus. Bald lagen die Ratten tot auf dem | |
Gang. Wir räumten sie mit einer Schaufel von den zerbrochenen | |
Jugendstilfliesen. Im Gegensatz zu uns war Herr L. das Haus egal. Wann | |
immer wir uns über die Ratten beschwerten, sagte er: „Dann zieht doch aus!“ | |
Einmal kam Herr L. wieder in die Wohnung, er hatte einen Handwerker dabei. | |
Die alten Milchglasscheiben in unserer Tür entsprächen nicht der neuen | |
Brandverordnung der Stadt, sagte Herr L. Der Handwerker schraubte die | |
Milchglasscheiben einfach mit Holzbrettern zu, sodass sie keiner mehr sehen | |
konnte. Dass das auch nicht ganz brandschutzgerecht war, war ihm egal. Es | |
war Herr L.s Art, als Vermieter Probleme zu lösen: schnell und billig. | |
Irgendwann baute mein Freund aus der Fußballmannschaft eine | |
Siebdruckmaschine und machte uns allen T-Shirts mit dem Schriftzug | |
„Meierei“. Das Haus war uns so wichtig, weil wir dort tun konnten, was wir | |
wollten. Es gab uns Freiheit. Es nahm sich nicht so ernst – und wir es | |
deshalb auch nicht. Wir fingen an, die Wände zu bemalen, wir luden fremde | |
Menschen ein und hörten so laut Musik, wie wir wollten. | |
Dann kam im Sommer 2019 ein Brief von Herr L: Mieterhöhung um 20 Prozent. | |
Gerade noch so viel, dass das legal war, aber doch mehr, als wir uns | |
leisten konnten. Wir zogen aus. | |
Ich packte gerade meine Sachen in Kartons, als Herr L. hereinkam. Er hatte | |
wieder nicht geklingelt. Hinter ihm standen drei Männer, sie trugen Kartons | |
von Ikea. Herr L. dirigierte sie in die Mitte des Zimmers, dort stellten | |
sie die Kartons ab. Sofort begannen die Männer, die Kartons aufzureißen und | |
Hochbetten aufzubauen. | |
Herr L. machte unsere Wohnung zu Monteurzimmern. Er vermietete unsere | |
5-Zimmer-Wohnung nun an 30 Menschen, die sich eine Dusche teilen mussten. | |
Er wollte mehr Geld verdienen. Von 30 Menschen kann man mehr Geld verlangen | |
als von fünf. In dem Zimmer mit dem Erker würde am nächsten Tag nicht mehr | |
ich wohnen, sondern sechs Arbeiter auf Montage in Stockbetten aus Stahl | |
schlafen. | |
Im Sommer 2021, zwei Jahre nach dem Auszug, stehe ich jetzt wieder vor der | |
Meierei 1 und schaue auf den Gullydeckel, der sich direkt unter meinem | |
alten Fenster befindet. Ein Lkw fährt darüber. Drei Achsen, der vertraute | |
Rhythmus, bum, bum, bum. | |
Vom Eingang des Hauses kann ich den Eingang des Tunnels sehen. Der | |
Rosensteintunnel soll den Verkehr durch Stuttgart wieder bündeln, so steht | |
es auf der Webseite des Projekts. Er soll Hunderttausende Autos, die | |
täglich durch Stuttgart fahren, vor den BewohnerInnen verstecken. Nur die | |
BewohnerInnen der Meierei 1 haben Pech, dass der Tunnel genau vor ihrem | |
Haus wieder aus der Erde herauskommt. | |
## Jemand hat den Eingang vernagelt | |
Ich schaue auf die andere Straßenseite. Hier war früher der Eingang zum | |
Rosensteinpark und zum Zoo mit den Kamelen. Man musste nur ein paar Meter | |
hineinlaufen, und schon verschluckten die Bäume die Geräusche der Autos. | |
Ich will in den Park, aber jemand hat den Eingang vernagelt. Es scheint so, | |
als wollte wirklich niemand mehr, dass Menschen sich hier zu Hause fühlen. | |
Während ich vor der Meierei 1 stehe, rollt der Feierabendverkehr mit 60 | |
Kilometern pro Stunde. Stuttgart ist eine Autostadt. Auf dem Turm des | |
Hauptbahnhofs dreht sich seit 1952 der Stern von Mercedes-Benz. Täglich | |
wird die Stadtgrenze 912.000-mal von Autos überquert. Im Schnitt hat jeder | |
zweite Mensch, der hier wohnt, einen Pkw. Viele arbeiten bei Porsche, | |
Daimler oder Autozulieferern wie Mahle und Bosch. Die Innenstadt ist | |
zerschnitten von großen Straßen. | |
Im Hauseingang der Meierei 1 riecht es immer noch nach Rattenkot. Auch die | |
Tür hängt immer noch in den Angeln. Der Tunnel eröffnet in drei Monaten. | |
Ich frage mich, wie es den Menschen, die noch hier wohnen, damit geht, dass | |
sie bald hier rausmüssen. | |
Im Erdgeschoss sind die Rollläden unten. Ich klingle. Noch mal. Hier wohnt | |
niemand mehr. | |
Dann stehe ich vor meiner alten Wohnung. Die dunkelgrüne Fußmatte, die | |
immer vor der Tür lag, ist weg. Ob in meinem alten Zimmer immer noch Männer | |
in Stockbetten übernachten? Ich klingle. Niemand öffnet. Wegen der Bretter | |
kann ich nicht mehr durch die Milchglasscheiben schauen. Ich klingle noch | |
mal und klopfe. Niemand macht auf. Unsere alte Wohnung steht offenbar leer. | |
Vor der Tür im zweiten Stock steht ein Einkaufstrolli mit Blumenmuster. | |
„Bitte nicht nimmen!!!“ steht darauf. | |
Ich drücke auf die Klingel. Eine junge Frau öffnet. Ich frage sie, ob sie | |
etwas von dem Abriss weiß. Sie schiebt die Tür wieder zu. | |
Auch im dritten Stockwerk öffnet eine Frau. Sie trägt rosafarbene Crocs. | |
Der Flur der Wohnung steht leer, es riecht nach Maggi. Die Frau sagt, dass | |
sie seit zwei Monaten hier wohnt. Dann kommt ein Mann mit Gesichtstattoos | |
und Zahnlücke. „Sie weiß nichts“, sagt er und schließt die Tür. | |
Das vierte Stockwerk sieht sauberer aus. Auf einem Sims neben der | |
Wohnungstür steht ein weißer Schwan aus Porzellan. Darin ein Blumengesteck, | |
das gerade anfängt zu welken. | |
Hier wohnt Frank Stadelmann. Er trägt eine dreiviertellange Hose mit | |
Camouflage-Muster, ein graues T-Shirt und einen goldenen Ohrring. Seine | |
Schultern hängen. Auf dem rechten Arm hat er den Kopf einer Katze | |
eintätowiert. Sie hat gelbe Augen und starrt mich an, während ich mit ihm | |
spreche. | |
Frank Stadelmann ist 54 und kriegt Sozialhilfe. Er sagt, dass er hier seit | |
1999 wohnt. „Früher haben unten Studenten gewohnt, die haben oft laute | |
Techno-Partys gefeiert“, sagt er. „Das hat genervt.“ | |
Mir ist das ein bisschen peinlich, ich entschuldige mich drei Jahre zu spät | |
dafür. | |
Über Herrn L. weiß Stadelmann wenig. Einmal, vor Jahren, da habe die | |
Polizei bei ihm geklingelt und Herrn L. gesucht. | |
Die Arbeiter aus unserer alten Wohnung seien vor drei Monaten ausgezogen, | |
sagt Frank Stadelmann. Im Haus würden nur noch ein paar Frauen aus | |
Bulgarien wohnen. „Die werden oft von aggressiven Männern begleitet“, | |
erzählt er. | |
Ich muss daran denken, dass Herr L. mal erzählte, er wolle aus dem Haus ein | |
Bordell machen. „Hier, direkt an der Straße, kann man sicher viel Geld mit | |
einem Puff machen“, sagte er. Das Gewerbeamt gab ihm damals keine Lizenz | |
dafür. | |
Frank Stadelmann erzählt, dass erst heute Morgen jemand von der Stadt da | |
war. „Der hat meine Wohnung ausgemessen und Fotos gemacht.“ Die Stadt muss | |
erst den Preis der Wohnungen ermitteln, bevor sie Herrn L. ein Angebot für | |
das Haus macht. Nur wenn die Stadt alle Wohnungen von Herr L. abgekauft | |
hat, kann sie das Haus abreißen. | |
In meinem Handy habe ich noch die Nummer von Herr L. gespeichert. Ich will | |
ihn fragen, warum er die Arbeiter rausgeschmissen hat und warum er Frank | |
Stadelmann und die bulgarischen Frauen in einem dreckigen Haus leben lässt. | |
Herr L. erinnert sich nicht an mich. Er erzählt mir, dass die Stadt seit | |
2012 versucht, das Haus zu kaufen. Aber Herr L. sagt, dass er das Haus | |
nicht verkaufen will. Zumindest noch nicht jetzt. „Ich will 5 bis 6 | |
Millionen Euro für das Haus. Und das zahlen die nicht.“ | |
Er habe über die Jahre verschiedene „Geschäftsmodelle“ bei diesem Haus | |
angewendet, sagt Herr L. Geschäftsmodelle sind für ihn die Arbeiter in den | |
Stockbetten, die Frauen aus Bulgarien und Frank Stadelmeier. Und ein | |
Geschäftsmodell waren auch meine Freunde und ich, die Studi-WG. | |
„Ich könnte renovieren“, sagt Herr L. „Aber das kostet Geld.“ Und Geld | |
könne er mit dem Haus auch anders verdienen. „Wenn ein Haus in so | |
schlechtem Zustand ist, dann nimmst du Leute, die keinen Anspruch haben. | |
Dann verändert sich das Geschäft. Das ist ganz normal“, sagt Herr L. | |
„Auf dem Immobilienmarkt muss man sein wie ein Hai“, meint er. „Das habe | |
ich begriffen, und deshalb verdiene ich mit diesem Haus viel Geld.“ | |
[2][Das, was Herr L. mit der Meierei 1 macht, hat in Deutschland System.] | |
Das sagt Christina Simon-Philipp, sie ist Professorin für Stadtplanung an | |
der Stuttgarter Hochschule für Technik. | |
Christina Simon-Philipp wohnt auch in Stuttgart. Sie sitzt im Homeoffice. | |
Immer mal wieder muss sie das Gespräch unterbrechen, weil der Verkehr vor | |
ihrem Fenster zu laut ist. In ihrem Zoom-Fenster schaut sie dann nach | |
rechts, wo ihr Fenster ist, und atmet genervt aus. | |
„In Altbauten an großen Straßen wohnen meistens Menschen, die es sich nicht | |
woanders leisten können“, sagt Simon-Philipp. Herr L. sei nicht der einzige | |
Vermieter, der das verstanden habe. „Diese Häuser werden heruntergewohnt, | |
nicht renoviert, und dann holen sich die Vermieter dort Menschen rein, die | |
sich nicht wehren können.“ | |
Simon-Philipp sagt, dass das Vermieten von Schrottimmobilien an | |
einkommensschwache Menschen die Umweltungerechtigkeit in Deutschland | |
steigere. „Diese Menschen sind Umweltbelastungen mehr ausgesetzt als | |
zahlungskräftige Leute“, sagt sie. | |
## Der Vermieter lacht mich aus | |
Ich rufe Herr L. noch mal an. Ich frage ihn, ob er Menschen, die sich nicht | |
wehren können, absichtlich ausnutzt. Er lacht mich aus. Er sagt, das sei | |
eine dumme Frage. „Ich bin doch nur eine kleine Maus. Was wollen Sie von | |
mir? Es gibt so viele Firmen auf dieser Welt, die Milliarden mit krummen | |
Dingern machen. Lassen Sie mich und mein Haus in Ruhe!“ | |
Als ich ihn nach seinem moralischen Gewissen frage, lacht Herr L. wieder. | |
„Hier auf dem Immobilienmarkt gibt es keine Idealisten“, sagt er. „Hier | |
denkt niemand an Wohnraum oder Mietsenkungen. Diese Welt ist wild. | |
Immobilienmarkt ist Kampf. Und die Schwachen verlieren immer.“ | |
Es scheint, als würde sich nur noch ein Mensch in Stuttgart für das Haus an | |
der Meierei 1 interessieren. Er sitzt auf dem Geländer der | |
U-Bahn-Haltestelle Rosensteinpark, direkt vor der Tür. Tobias Döring raucht | |
eine Zigarette. Er streicht seinen Ziegenbart glatt, die Maske hatte ihn in | |
der Bahn zerdrückt. Auf seinem Shirt steht „NASA“, darüber trägt er ein | |
Sakko und auf dem Kopf einen Hut. | |
Döring sitzt für die Grünen im Bezirksrat von Bad Cannstatt. Er will das | |
Haus retten. Er sagt, dass eine Stadt solche Häuser wie die Meierei 1 | |
brauche. „Solche Häuser bieten ein Dach für Menschen, die sich | |
Stuttgart-Mitte nicht leisten können“, sagt Döring. „Günstiger Wohnraum … | |
in Stuttgart so rar, dass man Bestandsbauten nicht unreflektiert abreißen | |
sollte.“ | |
Döring zeigt auf die Autos, die an ihm vorbeifahren, „Häuser in solchen | |
Gegenden sind Einstiegswohnungen. Wohnungen für Menschen, die neu nach | |
Stuttgart kommen und auf dem normalen Immobilienmarkt keine Chance haben. | |
Gastarbeiter, SozialhilfeempfängerInnen, Geflüchtete und Studierende.“ | |
Wir laufen zu dem Haus. Döring steht vor der aufgebrochenen Tür und | |
streicht mit seiner Hand über die Mauer des Hauses. „Sandstein“ sagt er und | |
fährt mit den Fingern die Linien der Ornamente nach. „Das hier sollte | |
eigentlich unter Denkmalschutz stehen.“ | |
Döring würde gern erreichen, dass die Stadt das Haus kauft, saniert und | |
dann günstigen Wohnraum schafft. Das kostet Geld. Und zwar Geld, das die | |
Stadt Stuttgart lieber für den Abriss ausgeben will. | |
„Es ist natürlich einfacher, wenn man das hier abreißt“, sagt Döring. �… | |
wollen wir eine Stadt sein, die einfach so sagt: Mach kaputt und bau neu? | |
Mit ein wenig mehr Geld könnte man sanieren und günstigen Wohnraum | |
schaffen.“ | |
Warum will die Stadt das Haus dann trotzdem abreißen? Döring ist Architekt. | |
Er erzählt, dass er deshalb oft aus Interesse die Abrissgenehmigungen der | |
Stadt Stuttgart durchgucke. Irgendwann stieß er dabei auf ein Haus, das der | |
Stadt eigentlich gar nicht gehört – und für das diese trotzdem eine | |
Abrissgenehmigung erteilte. Das Haus Meierei 1. „Dieses Haus wird wohl von | |
einigen in der Stadtverwaltung als Schandfleck gesehen“, sagt er. | |
Die Stadtverwaltung will den Bereich vor der Meierei 1 boulevardartig | |
ausbauen. Breite Radwege sollen dort dann entstehen, vier Spuren für die | |
Autos, in der Mitte die Straßenbahn und links und rechts lange Baumreihen. | |
Für Döring ist das der Grund, warum das Haus abgerissen werden soll. „Es | |
gibt Leute in der Verwaltung, die es weghaben wollen, weil ein Haus wie | |
dieses nicht mehr ins Bild der modernen Stadt passt“, sagt er. | |
Und was sagt die Stadt dazu? Sie schreibt in einem Statement, dass | |
„aufgrund der zu erwartenden Lärm- und Luftschadstoffentwicklung nach | |
Inbetriebnahme des Tunnels Anfang November 2021 eine Wohnnutzung in der | |
bisherigen Art und Weise nicht mehr möglich“ wäre. | |
## Was ist wichtiger: Verkehr oder Wohnraum? | |
Christina Simon-Philipp, die Stadtplanerin, sagt, dass das Quatsch sei. | |
„Man reißt kein Haus ab, nur weil dort die Luft so schlecht ist.“ | |
Ich frage mich, was in Stuttgart wichtiger ist: [3][Verkehr] oder Wohnraum? | |
„Nur wenn das öffentliche Interesse am Verkehrsprojekt deutlich gegenüber | |
dem Erhalt des Wohnhauses überwiegt, ist dies überhaupt eine Option“, | |
schreibt die Stadtverwaltung. „Dies ist beim Rosensteintunnel der Fall.“ | |
Der Rosensteintunnel würde viel Verkehrsentlastung bringen, sagt die Stadt. | |
Der Tunnel sorgt dafür, dass der Pendelverkehr in die Randbezirke | |
Zuffenhausen und Bad Cannstatt einfach so unter der Erde verschwindet. Das | |
ist der Stadt wichtiger als das Haus. Und es ist ihr wichtiger als die paar | |
Menschen, die dort noch wohnen. | |
„Verkehr“, sagt Tobias Döring, wenn man ihm die | |
Was-ist-hier-wichtiger-Frage stellt. „Ich habe es in sechs Jahren | |
Lokalpolitik in Stuttgart noch nie anders erlebt.“ | |
Christina Simon-Philipp lacht, als ich sie frage. „Verkehr!“, ruft sie, | |
dann erinnert sie sich daran, dass sie Professorin ist, und formuliert es | |
diplomatischer: „Wohnraum ist politisch ein sehr hoch angesiedeltes Thema“, | |
sagt sie. „Man merkt, dass sich die Stadt da Mühe gibt. Aber es gibt immer | |
noch viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum.“ | |
Weil sie sich um bezahlbaren Wohnraum bemühen will, hat die Stadtverwaltung | |
Herrn L. einen Kompromiss angeboten. Einen Kompromiss, der den Abriss noch | |
verhindern könnte. Den bietet die Stadt aber nur an, weil fünf Millionen | |
für ein Haus, das man nach dem Kauf direkt wegbaggert, doch sehr viel Geld | |
sind. | |
Die Stadtverwaltung will Lüftungsanlagen in das Haus einbauen. Sie sollen | |
saubere Luft hinter dem Haus ansaugen und in die Wohnungen pumpen. So | |
würden die Menschen nicht zu sehr unter dem neuen Tunnel leiden. | |
Herr L. hat dieses Angebot abgelehnt. Er sagt am Telefon: „Das ist | |
Verschwendung. Die sollen das Haus ruhig abreißen.“ Herr L. will keine | |
Lüftungsanlagen. „Dieses Haus ist kaputt, es muss weg. Ich will es nicht | |
mehr haben. Aber die dürfen es erst abreißen, wenn sie mir das bezahlen, | |
was ich verlange.“ | |
Wann das passiert, ist nicht klar. Aber eins ist sicher: Das Haus, in dem | |
ich mal gewohnt habe, wird abgerissen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. | |
Wenn die Stadt die 5 bis 6 Millionen Euro zahlt, dann wird sie den | |
verbliebenen MieterInnen nach und nach kündigen. Sie werden ausziehen, und | |
dann werden die Bagger kommen. | |
Wenn die Stadt die 5 bis 6 Millionen Euro bezahlt, Herr L. verkauft und die | |
Meierei 1 abgerissen wird, dann will Frank Stadelmann, der Mann aus dem | |
vierten Stock, zu seiner Freundin ziehen. | |
„Ich komme mir hier seit Jahren verarscht vor“, sagt er. „Die Ratten, der | |
Lärm und Herr L., der sich um nichts kümmert.“ Auch Frank Stadelmann hat | |
keine Lust mehr auf das Haus. | |
Was mit den bulgarischen Frauen und ihren Beschützern aus dem dritten | |
Stockwerk passiert, weiß man nicht. Die Stadt sagt in ihrem Statement, dass | |
sie allen MieterInnen bei der Wohnungssuche helfen werde, wenn das Haus | |
abgerissen werde. | |
Wir Studierenden, eine der Stufen von Herrn L.s Geschäftsmodell, haben | |
schon lange andere Zimmer gefunden. Viele von uns zahlen in den neuen | |
Wohnungen mehr Miete als in der Meierei 1. Jedes Mal, wenn ich meinen | |
Freund mit dem Tattoo treffe, will ich, dass er es mir wieder zeigt. Auf | |
seinem Oberschenkel wird das Haus für immer stehen bleiben. | |
7 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Oekologie-des-Bauens/!5758484 | |
[2] /Immobilieninvestoren-in-Grossstaedten/!5540060 | |
[3] /Streitgespraech-Oezdemir-vs-Scheuer/!5782112 | |
## AUTOREN | |
Niko Kappel | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Stuttgart | |
Wohnraum | |
Stadtplanung | |
Immobilienspekulation | |
GNS | |
Linkspartei | |
Bremen-Gröpelingen | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Recht auf Stadt | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Steigende Mieten in Deutschland: Linke für Kündigungsmoratorium | |
Was tun gegen die steigenden Kosten fürs Wohnen? Die Linke fordert unter | |
anderem einen besseren Kündigungsschutz und einen bundesweiten | |
Mietendeckel. | |
Kampf gegen verwahrloste Häuser: 450 Euro Miete für ein Dreckloch | |
Wegen desolater Zustände räumt die Stadt Bremen ein „Haus des Grauens“. E… | |
Gesetz dafür gibt es schon seit 2015, doch lange wurde es nicht genutzt. | |
Stadtentwicklung in der Pandemie: Kreative Ideen gegen das Scheitern | |
Unter dem Motto „Stadt gemeinsam gestalten!“ versuchen Nürnberg, Hannover, | |
Münster und Altenburg bestimmte Stadtteile zu verschönern. Klappt das? | |
Streitgespräch Özdemir vs. Scheuer: Wer fährt? | |
CSU-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer und Grünen-Politiker Cem Özdemir | |
streiten über Tempolimit, Öffis und Fahrradstraßen. | |
Stadtsoziologie von Henri Lefebvre: Die beschädigte urbane Gesellschaft | |
Der Soziologe Henri Lefebvre kritisierte die autogerechte Stadt und den | |
Verlust öffentlicher Räume. Neue Konzepte schließen an seine Ideen an. | |
Bauen und Wohnen: Kampf um Grund und Boden | |
Die Ressource Land ist endlich. Das sorgt oft für Streit – auch in | |
Neuenhagen. Von Wildschweinen, Verkehrslärm und der Frage: Wie wollen wir | |
leben? |