| # taz.de -- Spekulation mit Wohnraum: Zu Schrott vermietet | |
| > Unser Autor lebte drei Jahre in einem Haus in Stuttgart, das der Besitzer | |
| > verwahrlosen ließ. Die Stadt will es abreißen. Über Gier und | |
| > fehlgeleitete Stadtplanung. | |
| Stuttgart taz | Die Tür des Hauses, das einmal sehr schön war, steht immer | |
| offen. Irgendjemand hat sie aufgebrochen, im Rahmen kann man noch die Delle | |
| sehen. Die Briefkästen hängen lose herunter, kaum noch ein Name steht in | |
| den kleinen Fenstern. Die Post liegt auf dem Boden. Es riecht nach Urin und | |
| Rattenkot. | |
| Hier habe ich drei Jahre gewohnt. Jetzt soll das Haus im Stuttgarter Norden | |
| abgerissen werden. Ab Herbst eröffnet ein neuer Autotunnel. Dessen Ausgang | |
| liegt direkt vor dem Haus. Jeden Tag wird er Tausende Wagen ausspucken. | |
| Deshalb wird die Luft vor dem Haus dann so dreckig sein, dass dort niemand | |
| mehr wohnen kann. | |
| So sagt es zumindest die Stadtverwaltung Stuttgart. [1][Sie will das Haus | |
| kaufen und anschließend abreißen.] Die Menschen, die hier wohnen, hat | |
| niemand gefragt. | |
| Aber noch gehört der Stadt das Haus nicht. Sie kann es erst abreißen, wenn | |
| der Besitzer es verkauft. Der will aber nicht verkaufen. Nicht weil er die | |
| Menschen, die in dem Haus wohnen, schützen will. Sondern weil er mit jedem | |
| Monat, in dem das Haus noch steht, weiter Miete einnimmt. Und weil er | |
| darauf spekuliert, noch einen höheren Preis für das Haus rausschlagen zu | |
| können. | |
| Die Geschichte des Hauses, in dem ich gewohnt habe, ist eine Geschichte | |
| über Gier. Es geht um ein System, in dem Vermieter aus einer | |
| heruntergekommenen Immobilie so lang wie möglich so viel Geld wie möglich | |
| herauspressen. Es geht um Menschen, die sich nicht dagegen wehren können. | |
| Und es geht auch um eine Stadt, die irgendwie die 455.000 Autos in den | |
| Griff bekommen muss, die Tag für Tag durch sie hindurchrauschen. | |
| Ich zog vor fünf Jahren für mein Studium nach Stuttgart. Das Zimmer im Haus | |
| mit der Adresse Bei der Meierei 1 fand ich auf wg-gesucht.de: Fünfer-WG, 24 | |
| Quadratmeter großes Zimmer, 430 Euro. Stuttgart ist die drittteuerste Stadt | |
| Deutschlands. 430 Euro für ein Zimmer waren ein guter Preis. | |
| Das Haus ist ungefähr 80 Jahre alt. Viele der Verzierungen in der Fassade | |
| werden von Satellitenschüsseln verdeckt. Die Erker, die sich aus der Mauer | |
| winden, sind vom Feinstaub ganz grau. | |
| Die Meierei 1 ist das einzige Wohnhaus in der Gegend. Um das Haus herum | |
| sind Bürogebäude, eine Tankstelle und ein Autohaus von BMW. Oft parken | |
| Menschen in großen Limousinen und mit Polohemden die Parkplätze der | |
| Anwohner zu, weil sie sich den neuen 7er-BMW anschauen wollen. | |
| Es sieht so aus, als hätte irgendjemand alles um dieses Haus herum | |
| aufgefressen. Früher stand hier mal ein Wohnviertel, jetzt gibt es nur noch | |
| Industrie und die Straße. Die Meierei 1 ist das letzte Wohnhaus in einer | |
| Gegend, in der eigentlich niemand mehr wohnt. | |
| ## Plötzlich steht ein Mann im Flur | |
| Das Haus ist in die Jahre gekommen. Die Jugendstilfliesen im | |
| Eingangsbereich sind kaputtgeschlagen. Nur in wenigen Zimmern ist noch | |
| Stuck, in den meisten hat man ihn beim Renovieren abgeschlagen. Die alten | |
| Dielen hat man rausgerissen und Klicklaminat darübergelegt. | |
| In den ersten Nächten verfluchte ich das Haus und die Straße davor. | |
| Manchmal knarzte das Gebäude so, als breche es bald zusammen, und wenn man | |
| die Fenster offen ließ, fühlte es sich an, als würde man auf einer | |
| Verkehrsinsel schlafen. | |
| Direkt vor meinem Fenster war ein Gullydeckel. Immer wenn die Lkws über ihn | |
| hinwegdonnerten, knallte es wie ein Böller an Silvester. Am schlimmsten | |
| waren die großen 30-Tonner-Lkws mit ihren drei Achsen. Pro Rad ein Schlag, | |
| bum, bum, bum. | |
| Ein paar Monate später – ich kochte gerade Nudeln in der Küche – stand auf | |
| einmal ein Mann im Flur. Seine Zähne waren sehr weiß, er trug eine Mütze | |
| von Prada. Es war Winter, aber seine Haut war gebräunt, als käme er gerade | |
| aus dem Urlaub. „Was soll die Scheiße?“, rief er. Die Heizung im Flur stand | |
| auf 5. Er drehte sie auf 0. | |
| „Ich hab doch gesagt, ihr sollt nicht immer so viel heizen, das ist teuer.“ | |
| Ich war so verwirrt, dass ich nichts sagte. An diesem Tag habe ich also | |
| meinen Vermieter kennengelernt. | |
| Herr L. kam immer wieder einfach so in unsere Wohnung. Er hatte einen | |
| Schlüssel, oft kam er, wenn wir nicht da waren. Er drehte die Heizungen | |
| runter und kontrollierte, ob die Fenster zu waren. Einmal zahlte mein | |
| Mitbewohner die Miete nicht pünktlich. Herr L. schloss sein Zimmer mit | |
| einem Zentralschlüssel ab. Er machte es erst wieder auf, als mein | |
| Mitbewohner die Miete überwiesen hatte. | |
| Wir sagten ihm, dass er nicht einfach in unsere Wohnung kommen könne, wann | |
| es ihm passte. Und dass wir ihn anzeigen würden, wenn er noch mal einfach | |
| so die Zimmer abschließe. Er sagte: „Dann zieht doch aus!“ | |
| Die anderen Jungs zogen tatsächlich bald aus. Sie wohnten schon eine ganze | |
| Weile in der Meierei 1 und hatten irgendwann genug von Herr L. Ich blieb. | |
| Ein Freund aus meiner alten Fußballmannschaft zog in die Wohnung ein. Dann | |
| eine Kommilitonin, mit der ich mich gut verstand. Dann ein Junge, der | |
| damals auch neu in Stuttgart war. Wir wurden Freunde. So gute Freunde, dass | |
| er die Fassade der Meierei 1 mit ihren Erkern heute auf seinem Oberschenkel | |
| tätowiert hat. | |
| Wir mochten das Haus, auch wenn es manchmal eklig zu uns war. Es war uns | |
| egal, dass im Hinterhof bestimmt 30 Ratten wohnten, die so groß waren wie | |
| Meerschweinchen. Sie fraßen sich durch die Mülltonnen durch, als wäre der | |
| Inhalt aus Zucker. | |
| Aber wir fühlten uns wohl in der Wohnung mit den großen Fenstern und den | |
| hohen Decken. Trotz des Verkehrs da draußen. Mein Zimmer war eines mit | |
| Erker, dort stand ein Tisch, an dem wir oft lange saßen und redeten. Wir | |
| schauten der U13 hinterher, wie sie hinunter nach Bad Cannstatt fuhr, und | |
| blickten auf den Zoo im Rosensteinpark gegenüber. Im Winter, wenn die Bäume | |
| keine Blätter mehr hatten, sahen wir da manchmal die Kamele. | |
| Irgendwann legte Herr L. Rattengift aus. Bald lagen die Ratten tot auf dem | |
| Gang. Wir räumten sie mit einer Schaufel von den zerbrochenen | |
| Jugendstilfliesen. Im Gegensatz zu uns war Herr L. das Haus egal. Wann | |
| immer wir uns über die Ratten beschwerten, sagte er: „Dann zieht doch aus!“ | |
| Einmal kam Herr L. wieder in die Wohnung, er hatte einen Handwerker dabei. | |
| Die alten Milchglasscheiben in unserer Tür entsprächen nicht der neuen | |
| Brandverordnung der Stadt, sagte Herr L. Der Handwerker schraubte die | |
| Milchglasscheiben einfach mit Holzbrettern zu, sodass sie keiner mehr sehen | |
| konnte. Dass das auch nicht ganz brandschutzgerecht war, war ihm egal. Es | |
| war Herr L.s Art, als Vermieter Probleme zu lösen: schnell und billig. | |
| Irgendwann baute mein Freund aus der Fußballmannschaft eine | |
| Siebdruckmaschine und machte uns allen T-Shirts mit dem Schriftzug | |
| „Meierei“. Das Haus war uns so wichtig, weil wir dort tun konnten, was wir | |
| wollten. Es gab uns Freiheit. Es nahm sich nicht so ernst – und wir es | |
| deshalb auch nicht. Wir fingen an, die Wände zu bemalen, wir luden fremde | |
| Menschen ein und hörten so laut Musik, wie wir wollten. | |
| Dann kam im Sommer 2019 ein Brief von Herr L: Mieterhöhung um 20 Prozent. | |
| Gerade noch so viel, dass das legal war, aber doch mehr, als wir uns | |
| leisten konnten. Wir zogen aus. | |
| Ich packte gerade meine Sachen in Kartons, als Herr L. hereinkam. Er hatte | |
| wieder nicht geklingelt. Hinter ihm standen drei Männer, sie trugen Kartons | |
| von Ikea. Herr L. dirigierte sie in die Mitte des Zimmers, dort stellten | |
| sie die Kartons ab. Sofort begannen die Männer, die Kartons aufzureißen und | |
| Hochbetten aufzubauen. | |
| Herr L. machte unsere Wohnung zu Monteurzimmern. Er vermietete unsere | |
| 5-Zimmer-Wohnung nun an 30 Menschen, die sich eine Dusche teilen mussten. | |
| Er wollte mehr Geld verdienen. Von 30 Menschen kann man mehr Geld verlangen | |
| als von fünf. In dem Zimmer mit dem Erker würde am nächsten Tag nicht mehr | |
| ich wohnen, sondern sechs Arbeiter auf Montage in Stockbetten aus Stahl | |
| schlafen. | |
| Im Sommer 2021, zwei Jahre nach dem Auszug, stehe ich jetzt wieder vor der | |
| Meierei 1 und schaue auf den Gullydeckel, der sich direkt unter meinem | |
| alten Fenster befindet. Ein Lkw fährt darüber. Drei Achsen, der vertraute | |
| Rhythmus, bum, bum, bum. | |
| Vom Eingang des Hauses kann ich den Eingang des Tunnels sehen. Der | |
| Rosensteintunnel soll den Verkehr durch Stuttgart wieder bündeln, so steht | |
| es auf der Webseite des Projekts. Er soll Hunderttausende Autos, die | |
| täglich durch Stuttgart fahren, vor den BewohnerInnen verstecken. Nur die | |
| BewohnerInnen der Meierei 1 haben Pech, dass der Tunnel genau vor ihrem | |
| Haus wieder aus der Erde herauskommt. | |
| ## Jemand hat den Eingang vernagelt | |
| Ich schaue auf die andere Straßenseite. Hier war früher der Eingang zum | |
| Rosensteinpark und zum Zoo mit den Kamelen. Man musste nur ein paar Meter | |
| hineinlaufen, und schon verschluckten die Bäume die Geräusche der Autos. | |
| Ich will in den Park, aber jemand hat den Eingang vernagelt. Es scheint so, | |
| als wollte wirklich niemand mehr, dass Menschen sich hier zu Hause fühlen. | |
| Während ich vor der Meierei 1 stehe, rollt der Feierabendverkehr mit 60 | |
| Kilometern pro Stunde. Stuttgart ist eine Autostadt. Auf dem Turm des | |
| Hauptbahnhofs dreht sich seit 1952 der Stern von Mercedes-Benz. Täglich | |
| wird die Stadtgrenze 912.000-mal von Autos überquert. Im Schnitt hat jeder | |
| zweite Mensch, der hier wohnt, einen Pkw. Viele arbeiten bei Porsche, | |
| Daimler oder Autozulieferern wie Mahle und Bosch. Die Innenstadt ist | |
| zerschnitten von großen Straßen. | |
| Im Hauseingang der Meierei 1 riecht es immer noch nach Rattenkot. Auch die | |
| Tür hängt immer noch in den Angeln. Der Tunnel eröffnet in drei Monaten. | |
| Ich frage mich, wie es den Menschen, die noch hier wohnen, damit geht, dass | |
| sie bald hier rausmüssen. | |
| Im Erdgeschoss sind die Rollläden unten. Ich klingle. Noch mal. Hier wohnt | |
| niemand mehr. | |
| Dann stehe ich vor meiner alten Wohnung. Die dunkelgrüne Fußmatte, die | |
| immer vor der Tür lag, ist weg. Ob in meinem alten Zimmer immer noch Männer | |
| in Stockbetten übernachten? Ich klingle. Niemand öffnet. Wegen der Bretter | |
| kann ich nicht mehr durch die Milchglasscheiben schauen. Ich klingle noch | |
| mal und klopfe. Niemand macht auf. Unsere alte Wohnung steht offenbar leer. | |
| Vor der Tür im zweiten Stock steht ein Einkaufstrolli mit Blumenmuster. | |
| „Bitte nicht nimmen!!!“ steht darauf. | |
| Ich drücke auf die Klingel. Eine junge Frau öffnet. Ich frage sie, ob sie | |
| etwas von dem Abriss weiß. Sie schiebt die Tür wieder zu. | |
| Auch im dritten Stockwerk öffnet eine Frau. Sie trägt rosafarbene Crocs. | |
| Der Flur der Wohnung steht leer, es riecht nach Maggi. Die Frau sagt, dass | |
| sie seit zwei Monaten hier wohnt. Dann kommt ein Mann mit Gesichtstattoos | |
| und Zahnlücke. „Sie weiß nichts“, sagt er und schließt die Tür. | |
| Das vierte Stockwerk sieht sauberer aus. Auf einem Sims neben der | |
| Wohnungstür steht ein weißer Schwan aus Porzellan. Darin ein Blumengesteck, | |
| das gerade anfängt zu welken. | |
| Hier wohnt Frank Stadelmann. Er trägt eine dreiviertellange Hose mit | |
| Camouflage-Muster, ein graues T-Shirt und einen goldenen Ohrring. Seine | |
| Schultern hängen. Auf dem rechten Arm hat er den Kopf einer Katze | |
| eintätowiert. Sie hat gelbe Augen und starrt mich an, während ich mit ihm | |
| spreche. | |
| Frank Stadelmann ist 54 und kriegt Sozialhilfe. Er sagt, dass er hier seit | |
| 1999 wohnt. „Früher haben unten Studenten gewohnt, die haben oft laute | |
| Techno-Partys gefeiert“, sagt er. „Das hat genervt.“ | |
| Mir ist das ein bisschen peinlich, ich entschuldige mich drei Jahre zu spät | |
| dafür. | |
| Über Herrn L. weiß Stadelmann wenig. Einmal, vor Jahren, da habe die | |
| Polizei bei ihm geklingelt und Herrn L. gesucht. | |
| Die Arbeiter aus unserer alten Wohnung seien vor drei Monaten ausgezogen, | |
| sagt Frank Stadelmann. Im Haus würden nur noch ein paar Frauen aus | |
| Bulgarien wohnen. „Die werden oft von aggressiven Männern begleitet“, | |
| erzählt er. | |
| Ich muss daran denken, dass Herr L. mal erzählte, er wolle aus dem Haus ein | |
| Bordell machen. „Hier, direkt an der Straße, kann man sicher viel Geld mit | |
| einem Puff machen“, sagte er. Das Gewerbeamt gab ihm damals keine Lizenz | |
| dafür. | |
| Frank Stadelmann erzählt, dass erst heute Morgen jemand von der Stadt da | |
| war. „Der hat meine Wohnung ausgemessen und Fotos gemacht.“ Die Stadt muss | |
| erst den Preis der Wohnungen ermitteln, bevor sie Herrn L. ein Angebot für | |
| das Haus macht. Nur wenn die Stadt alle Wohnungen von Herr L. abgekauft | |
| hat, kann sie das Haus abreißen. | |
| In meinem Handy habe ich noch die Nummer von Herr L. gespeichert. Ich will | |
| ihn fragen, warum er die Arbeiter rausgeschmissen hat und warum er Frank | |
| Stadelmann und die bulgarischen Frauen in einem dreckigen Haus leben lässt. | |
| Herr L. erinnert sich nicht an mich. Er erzählt mir, dass die Stadt seit | |
| 2012 versucht, das Haus zu kaufen. Aber Herr L. sagt, dass er das Haus | |
| nicht verkaufen will. Zumindest noch nicht jetzt. „Ich will 5 bis 6 | |
| Millionen Euro für das Haus. Und das zahlen die nicht.“ | |
| Er habe über die Jahre verschiedene „Geschäftsmodelle“ bei diesem Haus | |
| angewendet, sagt Herr L. Geschäftsmodelle sind für ihn die Arbeiter in den | |
| Stockbetten, die Frauen aus Bulgarien und Frank Stadelmeier. Und ein | |
| Geschäftsmodell waren auch meine Freunde und ich, die Studi-WG. | |
| „Ich könnte renovieren“, sagt Herr L. „Aber das kostet Geld.“ Und Geld | |
| könne er mit dem Haus auch anders verdienen. „Wenn ein Haus in so | |
| schlechtem Zustand ist, dann nimmst du Leute, die keinen Anspruch haben. | |
| Dann verändert sich das Geschäft. Das ist ganz normal“, sagt Herr L. | |
| „Auf dem Immobilienmarkt muss man sein wie ein Hai“, meint er. „Das habe | |
| ich begriffen, und deshalb verdiene ich mit diesem Haus viel Geld.“ | |
| [2][Das, was Herr L. mit der Meierei 1 macht, hat in Deutschland System.] | |
| Das sagt Christina Simon-Philipp, sie ist Professorin für Stadtplanung an | |
| der Stuttgarter Hochschule für Technik. | |
| Christina Simon-Philipp wohnt auch in Stuttgart. Sie sitzt im Homeoffice. | |
| Immer mal wieder muss sie das Gespräch unterbrechen, weil der Verkehr vor | |
| ihrem Fenster zu laut ist. In ihrem Zoom-Fenster schaut sie dann nach | |
| rechts, wo ihr Fenster ist, und atmet genervt aus. | |
| „In Altbauten an großen Straßen wohnen meistens Menschen, die es sich nicht | |
| woanders leisten können“, sagt Simon-Philipp. Herr L. sei nicht der einzige | |
| Vermieter, der das verstanden habe. „Diese Häuser werden heruntergewohnt, | |
| nicht renoviert, und dann holen sich die Vermieter dort Menschen rein, die | |
| sich nicht wehren können.“ | |
| Simon-Philipp sagt, dass das Vermieten von Schrottimmobilien an | |
| einkommensschwache Menschen die Umweltungerechtigkeit in Deutschland | |
| steigere. „Diese Menschen sind Umweltbelastungen mehr ausgesetzt als | |
| zahlungskräftige Leute“, sagt sie. | |
| ## Der Vermieter lacht mich aus | |
| Ich rufe Herr L. noch mal an. Ich frage ihn, ob er Menschen, die sich nicht | |
| wehren können, absichtlich ausnutzt. Er lacht mich aus. Er sagt, das sei | |
| eine dumme Frage. „Ich bin doch nur eine kleine Maus. Was wollen Sie von | |
| mir? Es gibt so viele Firmen auf dieser Welt, die Milliarden mit krummen | |
| Dingern machen. Lassen Sie mich und mein Haus in Ruhe!“ | |
| Als ich ihn nach seinem moralischen Gewissen frage, lacht Herr L. wieder. | |
| „Hier auf dem Immobilienmarkt gibt es keine Idealisten“, sagt er. „Hier | |
| denkt niemand an Wohnraum oder Mietsenkungen. Diese Welt ist wild. | |
| Immobilienmarkt ist Kampf. Und die Schwachen verlieren immer.“ | |
| Es scheint, als würde sich nur noch ein Mensch in Stuttgart für das Haus an | |
| der Meierei 1 interessieren. Er sitzt auf dem Geländer der | |
| U-Bahn-Haltestelle Rosensteinpark, direkt vor der Tür. Tobias Döring raucht | |
| eine Zigarette. Er streicht seinen Ziegenbart glatt, die Maske hatte ihn in | |
| der Bahn zerdrückt. Auf seinem Shirt steht „NASA“, darüber trägt er ein | |
| Sakko und auf dem Kopf einen Hut. | |
| Döring sitzt für die Grünen im Bezirksrat von Bad Cannstatt. Er will das | |
| Haus retten. Er sagt, dass eine Stadt solche Häuser wie die Meierei 1 | |
| brauche. „Solche Häuser bieten ein Dach für Menschen, die sich | |
| Stuttgart-Mitte nicht leisten können“, sagt Döring. „Günstiger Wohnraum … | |
| in Stuttgart so rar, dass man Bestandsbauten nicht unreflektiert abreißen | |
| sollte.“ | |
| Döring zeigt auf die Autos, die an ihm vorbeifahren, „Häuser in solchen | |
| Gegenden sind Einstiegswohnungen. Wohnungen für Menschen, die neu nach | |
| Stuttgart kommen und auf dem normalen Immobilienmarkt keine Chance haben. | |
| Gastarbeiter, SozialhilfeempfängerInnen, Geflüchtete und Studierende.“ | |
| Wir laufen zu dem Haus. Döring steht vor der aufgebrochenen Tür und | |
| streicht mit seiner Hand über die Mauer des Hauses. „Sandstein“ sagt er und | |
| fährt mit den Fingern die Linien der Ornamente nach. „Das hier sollte | |
| eigentlich unter Denkmalschutz stehen.“ | |
| Döring würde gern erreichen, dass die Stadt das Haus kauft, saniert und | |
| dann günstigen Wohnraum schafft. Das kostet Geld. Und zwar Geld, das die | |
| Stadt Stuttgart lieber für den Abriss ausgeben will. | |
| „Es ist natürlich einfacher, wenn man das hier abreißt“, sagt Döring. �… | |
| wollen wir eine Stadt sein, die einfach so sagt: Mach kaputt und bau neu? | |
| Mit ein wenig mehr Geld könnte man sanieren und günstigen Wohnraum | |
| schaffen.“ | |
| Warum will die Stadt das Haus dann trotzdem abreißen? Döring ist Architekt. | |
| Er erzählt, dass er deshalb oft aus Interesse die Abrissgenehmigungen der | |
| Stadt Stuttgart durchgucke. Irgendwann stieß er dabei auf ein Haus, das der | |
| Stadt eigentlich gar nicht gehört – und für das diese trotzdem eine | |
| Abrissgenehmigung erteilte. Das Haus Meierei 1. „Dieses Haus wird wohl von | |
| einigen in der Stadtverwaltung als Schandfleck gesehen“, sagt er. | |
| Die Stadtverwaltung will den Bereich vor der Meierei 1 boulevardartig | |
| ausbauen. Breite Radwege sollen dort dann entstehen, vier Spuren für die | |
| Autos, in der Mitte die Straßenbahn und links und rechts lange Baumreihen. | |
| Für Döring ist das der Grund, warum das Haus abgerissen werden soll. „Es | |
| gibt Leute in der Verwaltung, die es weghaben wollen, weil ein Haus wie | |
| dieses nicht mehr ins Bild der modernen Stadt passt“, sagt er. | |
| Und was sagt die Stadt dazu? Sie schreibt in einem Statement, dass | |
| „aufgrund der zu erwartenden Lärm- und Luftschadstoffentwicklung nach | |
| Inbetriebnahme des Tunnels Anfang November 2021 eine Wohnnutzung in der | |
| bisherigen Art und Weise nicht mehr möglich“ wäre. | |
| ## Was ist wichtiger: Verkehr oder Wohnraum? | |
| Christina Simon-Philipp, die Stadtplanerin, sagt, dass das Quatsch sei. | |
| „Man reißt kein Haus ab, nur weil dort die Luft so schlecht ist.“ | |
| Ich frage mich, was in Stuttgart wichtiger ist: [3][Verkehr] oder Wohnraum? | |
| „Nur wenn das öffentliche Interesse am Verkehrsprojekt deutlich gegenüber | |
| dem Erhalt des Wohnhauses überwiegt, ist dies überhaupt eine Option“, | |
| schreibt die Stadtverwaltung. „Dies ist beim Rosensteintunnel der Fall.“ | |
| Der Rosensteintunnel würde viel Verkehrsentlastung bringen, sagt die Stadt. | |
| Der Tunnel sorgt dafür, dass der Pendelverkehr in die Randbezirke | |
| Zuffenhausen und Bad Cannstatt einfach so unter der Erde verschwindet. Das | |
| ist der Stadt wichtiger als das Haus. Und es ist ihr wichtiger als die paar | |
| Menschen, die dort noch wohnen. | |
| „Verkehr“, sagt Tobias Döring, wenn man ihm die | |
| Was-ist-hier-wichtiger-Frage stellt. „Ich habe es in sechs Jahren | |
| Lokalpolitik in Stuttgart noch nie anders erlebt.“ | |
| Christina Simon-Philipp lacht, als ich sie frage. „Verkehr!“, ruft sie, | |
| dann erinnert sie sich daran, dass sie Professorin ist, und formuliert es | |
| diplomatischer: „Wohnraum ist politisch ein sehr hoch angesiedeltes Thema“, | |
| sagt sie. „Man merkt, dass sich die Stadt da Mühe gibt. Aber es gibt immer | |
| noch viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum.“ | |
| Weil sie sich um bezahlbaren Wohnraum bemühen will, hat die Stadtverwaltung | |
| Herrn L. einen Kompromiss angeboten. Einen Kompromiss, der den Abriss noch | |
| verhindern könnte. Den bietet die Stadt aber nur an, weil fünf Millionen | |
| für ein Haus, das man nach dem Kauf direkt wegbaggert, doch sehr viel Geld | |
| sind. | |
| Die Stadtverwaltung will Lüftungsanlagen in das Haus einbauen. Sie sollen | |
| saubere Luft hinter dem Haus ansaugen und in die Wohnungen pumpen. So | |
| würden die Menschen nicht zu sehr unter dem neuen Tunnel leiden. | |
| Herr L. hat dieses Angebot abgelehnt. Er sagt am Telefon: „Das ist | |
| Verschwendung. Die sollen das Haus ruhig abreißen.“ Herr L. will keine | |
| Lüftungsanlagen. „Dieses Haus ist kaputt, es muss weg. Ich will es nicht | |
| mehr haben. Aber die dürfen es erst abreißen, wenn sie mir das bezahlen, | |
| was ich verlange.“ | |
| Wann das passiert, ist nicht klar. Aber eins ist sicher: Das Haus, in dem | |
| ich mal gewohnt habe, wird abgerissen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. | |
| Wenn die Stadt die 5 bis 6 Millionen Euro zahlt, dann wird sie den | |
| verbliebenen MieterInnen nach und nach kündigen. Sie werden ausziehen, und | |
| dann werden die Bagger kommen. | |
| Wenn die Stadt die 5 bis 6 Millionen Euro bezahlt, Herr L. verkauft und die | |
| Meierei 1 abgerissen wird, dann will Frank Stadelmann, der Mann aus dem | |
| vierten Stock, zu seiner Freundin ziehen. | |
| „Ich komme mir hier seit Jahren verarscht vor“, sagt er. „Die Ratten, der | |
| Lärm und Herr L., der sich um nichts kümmert.“ Auch Frank Stadelmann hat | |
| keine Lust mehr auf das Haus. | |
| Was mit den bulgarischen Frauen und ihren Beschützern aus dem dritten | |
| Stockwerk passiert, weiß man nicht. Die Stadt sagt in ihrem Statement, dass | |
| sie allen MieterInnen bei der Wohnungssuche helfen werde, wenn das Haus | |
| abgerissen werde. | |
| Wir Studierenden, eine der Stufen von Herrn L.s Geschäftsmodell, haben | |
| schon lange andere Zimmer gefunden. Viele von uns zahlen in den neuen | |
| Wohnungen mehr Miete als in der Meierei 1. Jedes Mal, wenn ich meinen | |
| Freund mit dem Tattoo treffe, will ich, dass er es mir wieder zeigt. Auf | |
| seinem Oberschenkel wird das Haus für immer stehen bleiben. | |
| 7 Aug 2021 | |
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| Niko Kappel | |
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