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# taz.de -- Sommerserie „Wie riecht Berlin“ (1): Die stinkende Metropole
> Die wechselvolle Geschichte der Stadt lässt sich nicht ohne die Gerüche
> erzählen, die sie geprägt haben. Eine olfaktorische Zeitreise.
Bild: Auch die Einführung von Pissoirs sollten Gerüche aus der Stadt verbannen
Für empfindliche Nasen muss ein Spaziergangs auf Berlins Straßen Mitte des
19. Jahrhunderts eine Zumutung gewesen sein. „Entlang jeder Straße und
folglich auch vor jedem Haus, selbst in den feinsten Teilen der Stadt und
in der Nachbarschaft des Königsschlosses, gibt es eine stehende Rinne,
welche die gesamte Luft mit ihrem üblem Gestank füllt“, berichtet der
britische Schriftsteller William Howitt 1842 über seinen Besuch in der
damalig noch preußischen Hauptstadt.
Wie in den meisten anderen europäischen Städten verfügte Berlin zu dem
Zeitpunkt noch über [1][keine unterirdische Kanalisation]. Wie noch im
Mittelalter wurden die Inhalte der Nachtbottiche häufig einfach aus den
Fenstern gekippt, um dann an offenen Abflussrinnen am Straßenrand in die
Kanäle geschwemmt zu werden. Doch da Berlin weitestgehend flach ist, floss
der Inhalt kaum ab, berichtet Howitt.
Der allgegenwärtige fäkale Gestank war nicht der einzige Geruch, der Berlin
im Laufe seiner Geschichte prägte. Ob der rußige Qualm der Fabrikschlote,
verwesende Tierkadaver in den Innenhöfen, die kutschenziehenden Pferde auf
den Straßen oder die ungewaschenen Körper auf engstem Raum lebender
Arbeiter:innen – aus dem kollektiven Gedächtnis sind diese Düfte der
Vergangenheit weitestgehend verschwunden. Wie hat sich der Geruch Berlins
über die Jahrhunderte gewandelt?
Gerüche sind subjektiv und flüchtig, man kann sie nicht einfach
fotografieren. Selbst sie zu beschreiben, fällt schwer. „Gerüche entziehen
sich weitgehend der Objektivierung, aber auch der Terminologie“, erklärt
der Historiker Bodo Mrozek, der am Berliner Kolleg Kalter Krieg zur
Geruchsgeschichte forscht. Um nachvollziehen zu können, wie Berlin in der
Vergangenheit roch, sind Historiker:innen vor allem auf
Sinnesprotokolle wie die von William Howitt angewiesen. Wie die
Vergangenheit genau gerochen hat, lässt sich in den meisten Fällen nur
erahnen.
## Tiere und Mist
“Damals gab es noch viel mehr Tiere in der Stadt“, erklärt die Historikerin
Dorothee Brantz vom Center for Metropolitan Studies der TU Berlin. Neben
den allgegenwärtigen Pferden, die mit Menschen und Gütern beladene Kutschen
durch die Stadt zogen, war im 19. Jahrhundert Tierhaltung in der Stadt weit
verbreitet. „Sogar Milchkühe wurden an diversen Orten in der Stadt
gehalten“ sagt Brantz. Kühe, Schweine und Hühner galten als praktische
Abfallverwerter. Selbst nachdem die Hinterhöfe der Mietskasernen zugebaut
wurden, waren Gemüseanbau und Tierhaltung weiterhin üblich.
Die innerstädtische Tierhaltung war eine geruchsintensive Angelegenheit.
Nicht nur bringen Tiere ihre eigenen Gerüche mit, sie produzieren auch
Mist. Dazu kommt der Geruch von toten Tieren – geschlachtet wurde meist vor
Ort, nicht selten in den Hinterhöfen. Und verendete mal ein Pferd, konnte
es schon ein wenig dauern, bis es beseitigt wurde. Gerade im Sommer waren
stinkende Tierkadaver keine Seltenheit.
Das Zusammenleben von so vielen Menschen und Tieren auf engstem Raum, noch
dazu ohne funktionierende Kanalisation, war nicht nur Quelle strenger
Gerüche, sondern bot auch zahlreichen Krankheitserregern den perfekten
Nährboden. So wurde Berlin im 19. Jahrhundert immer wieder von schweren
Cholera-Pandemien heimgesucht.
Als Verursacher für Cholera und andere Infektionskrankheiten wurde Anfang
des 19. Jahrhunderts häufig der Gestank verantwortlich gemacht. Nach der
damals vorherrschenden, noch aus der Antike stammenden “Miasmenleere“ waren
üble Gerüche Verursacher und Überträger von Seuchen. Angesichts der
verschlechternden Bedingungen in den rasant wachsenden Großstädten, bildete
sich in ganz Europa Anfang des 19. Jahrhunderts eine “Hygienebewegung“, mit
dem Ziel, Epidemien zu verhindern.
## Auf dem Weg zur hygienischen Stadt
Naheliegendes Ziel für die Hygieniker damals war es also, die Gerüche
aus der Stadt zu verbannen. Mangels besserer Methoden seien sie häufig
einfach der Nase nachgegangen, sagt Brantz. „Der Geruch war nicht die
eigentliche Ursache, aber die Maßnahmen der Hygieniker waren trotzdem
richtig“.
Als Berlin 1873 mit dem Bau seines modernen Kanalisationssystems begann,
gingen Forscher:innen zwar schon davon aus, das Cholera durch
verunreinigtes Trinkwasser übertragen wird. Die Assoziation von Geruch und
Krankheit blieb in der öffentlichen Wahrnehmung trotzdem erhalten.
Als weitere Maßnahme im Kampf gegen den Gestank versuchten die
Hygieniker, Tierhaltung und -schlachtung aus dem Stadtgebiet zu
verbannen. Die mangelnden hygienischen Bedingungen in den
Hinterhofschlachtereien galten als Verursacher für Krankheiten – und
sorgten regelmäßig für Geruchsbelästigungen. 1881 eröffnete nach
jahrelangem Widerstand der Schlachterinnung der Zentralvieh- und
Schlachthof an der Storkower Straße. Mit dem Bau der damals einer der
größten und modernsten Tierverarbeitungsanlagen sollte der Schlachtbetrieb
aus der Innenstadt verbannt werden.
Während tierische und fäkale Gerüche zunehmend aus der Stadt gedrängt
wurden, prägten Rauch und Qualm der Industrie weiter die Stadt. In der
frühen Industrialisierung waren die meisten Betriebe noch in Wohngegenden
angesiedelt, die Schlote reichten nicht allzu hoch. Während die einen
rauchende Schornsteine als Zeichen des Fortschritts begrüßten, löste der
Qualm bei anderen Abwehrreaktionen aus “Es gab auch schon damals sehr
expressive Berichte über den unerträglichen Gestank der feuerspeiende
Schornsteine“, sagt Mrozek.
## Armut stinkt, Bürgertum duftet
Die Frage, wer sich an welchen Gerüchen gestört hat, verrät viel über die
sozialen Lebenswirklichkeiten der Zeit. Geruch sei auch immer eine
Klassenfrage, erklärt Brantz. „Im Zuge der Verbürgerlichung fand eine
Sensibilisierung der Nase statt.“ Das aufstrebende Bürgertum versuchte
zunehmend, den Stadtgerüchen zu entfliehen. Weil der Wind meist von Westen
weht, entstanden die vernehmenden Wohnviertel in Grunewald, Zehlendorf und
Charlottenburg, damit die Bourgeoisie nicht von den Abgasen der Industrie
belästigt wurde. In den Sommermonaten entflohen gutbetuchte Familien der
stinkenden Stadt auf ihren Landwohnsitz.
„Die soziale Spaltung der Stadt wurde auch sensorisch abgebildet“, sagt
Bodo Mrozek. Dies zeigte sich nicht nur in der Lage der Wohnviertel,
sondern auch an den Körpern. Badezimmer waren in den extrem überlegten
Arbeiter:innenwohungen kaum vorhanden. Öffentliche Bäder etablierten
sich erst im späten 19. Jahrhundert. Geruch diente zunehmend der sozialen
Dinstiktion des Bürgertums. Erst mit der massenhaften Verbreitung von
Seife, Bädern und Parfüms begann sich der geruchliche Klassenunterschied zu
schließen.
Der [2][Siegeszug des Automobils] Anfang des 20. Jahrhunderts verdrängte
schließlich eine der letzten tierischen Geruchsquellen Berlins – das Pferd.
Anstelle des allgegenwärtigen Dufts von Pferdeäpfeln traten allmählich die
Abgase der immer mehr und immer schneller werdenden Automobile. Eine
folgenreiche Entwicklung, die von einigen Zeitgenoss:innen auch positiv
gesehen wurde: „Von der Avantgarde wird der chemische Geruch der Abgase
begrüßt als Vorbote des neuen Zeitalters“, sagt Mrozek.
Doch statt den Verheißungen der Moderne brachten die 1930er und 40er Jahre
Faschismus, Krieg und industriellen Massenmord. Der Zweite Weltkrieg
hinterließ auch seinen Geruch in der zerstörten Stadt. „Der Gestank des
Todes wird in vielen Quellen beschrieben“, sagt Brantz. Zu Kriegsende hätte
man Schwierigkeiten gehabt, alle Leichen rechtzeitig zu beerdigen, Menschen
und Tierkadaver verwesten auf den Straßen.
## Die zweite Teilung
In der Nachkriegszeit vollzog sich die Teilung der Stadt allmählich auch
auf der olfaktorischen Ebene: Ost- und Westberlin begannen, unterschiedlich
zu riechen. Als besonders prägnant beschreiben Zeitzeug:innen den
Geruch von Braunkohle, mit der überwiegend in Ostberlin geheizt wurde. Auch
die Abgase des in Ostberlin das Straßenbild bestimmenden Trabants – der mit
einem Zweitaktgemisch aus Öl und Benzin angetrieben wurde – unterschieden
das Geruchsbild deutlich. Aufgrund geringer Abgasnormen in der Industrie
war die Luftqualität im Osten zumeist deutlich schlechter.
Für Ostberliner:innen spielte hingegen der Duft des Westens eine
wichtige Rolle. Die Intershops und Exquisit-Läden, in denen westliche
Produkte gegen Devisen verkauft wurden, waren auch aufgrund ihres Geruchs
beliebt. Parfüms, Schokolade, Zitrusfrüchte – viele dieser
geruchsintensiven Produkte waren im Osten Mangelware. „Es gibt viele
Berichte von Ostdeutschen, die nur in Intershops gegangen sind um eine,Nase
vom Westen’ zu nehmen“, sagt Mrozek.
Doch die steigende Luftverschmutzung war nicht nur ein Problem, das
Ostberlin betraf. In den 70er und 80er Jahren gerät der Geruch von
Kohleöfen, Auto- und Industrieabgasen zunehmend in das Problembewusstsein
der Öffentlichkeit. Bei besonderen Wetterlagen kommt es nun regelmäßig zu
undurchdringlichem und beißend riechenden Industrienebel – Smog. Allein im
Jahr 1982 rief Berlin dreimal „Smog-Alarm“ aus. Der damals noch jungen
Umweltbewegung gab die Debatte um Luftverschmutzung enormen Auftrieb. Mit
der flächendeckenden Einführung von Katalysatoren und Filtern für
Industrieanlagen gelingt es in den 90er Jahren, den Smog einzudämmen.
Mit intensiven Gerüchen durch Abwasser, Fäkalien, Industriequalm und Smog
müssen sich Berliner:innen von heute kaum noch herumschlagen. Die
Geschichte des Berliner Geruchs ist damit aber keineswegs zu Ende. Der Weg
zur klimaneutralen Stadt ist eine Transformation, die auch geruchliche
Spuren hinterlassen wird. Wer weiß schon, wie Berlin riechen wird, wenn
Verbrennungsmotoren erst aus der Innenstadt verbannt sind und [3][auf
Parkplätzen Gemüsebeete blühen]?
25 Jul 2023
## LINKS
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[2] /Stadtsoziologie-von-Henri-Lefebvre/!5783043
[3] /Lebensmittelanbau-in-Berlin/!5911732
## AUTOREN
Jonas Wahmkow
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