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# taz.de -- Das Berliner Zimmer: Der Raum dazwischen
> Hier wohnte preußischer Standesdünkel und es galt als „Herberge der
> Finsternis“: Eine Ausstellung beleuchtet das „Berliner Zimmer“.
Bild: Ein Bild aus der Serie „Berliner Zimmer“ von Marek Noniewicz, derzeit…
Berlin taz | Einmal ist es ziemlich unordentlich. Ein alter Fernseher auf
dem Fußboden, daneben ein Stapel Videokassetten. Auf dem Sofa liegen
Klamotten, gegenüber, auf dem einzigen Regal, stirbt eine Yuccapalme. Als
„zwanghaften Wunsch, den Raum eines kleinen Zimmers zu bezähmen“,
beschreibt der Fotograf Marek Noniewicz seine Arbeiten. In diesem Fall ist
das mit der Zähmung offenbar gescheitert.
Das Zimmer, das Noniewicz in den Blickpunkt rückt, gehört zu einem Altbau
im Stadtteil Jeżyce im westpolnischen Poznań. Einst Teil der im späten 19.
Jahrhundert im preußischen Posen hochgezogenen Mietskasernenstadt, ist
Jeżyce heute ziemlich angesagt. Bedrängte Wohnverhältnisse,
Gentrifizierung, Lifestyle, Protest, alles liegt hier eng beieinander. Und
auch die architektonische Verbindung zum 300 Kilometer entfernten Berlin.
„Berliński Pokój“ nennt Marek Noniewicz seine kleine Fotoserie. Ein
Berliner Zimmer gibt es nämlich auch im polnischen Posen.
Ein Projekt, das Künstlerinnen und Künstlern aus zwei nahe beieinander
liegenden Städten die Möglichkeit gibt, gemeinsam zu arbeiten, nennt die
Kuratorin Marianna Michałowska die Ausstellung „Berliner Zimmer“, die im
[1][Polnischen Institut in Berlin] zu sehen ist. Natürlich ist der
Ausstellungstitel eine Metapher. Neben den Arbeiten von Noniewicz sind zum
Beispiel auch Videointerviews von Sonya Schönberger zu sehen. In ihnen
erzählen Berlinerinnen vom Ankommen in der Stadt und den Geschichten, die
ihnen dabei begegnen. Es sind Geschichten des Übergangs, so wie auch das
Berliner Zimmer ein Ort des Übergangs ist.
Doch was ist das eigentlich, ein Berliner Zimmer, und warum gibt es dieses
Zimmer auch in Posen?
## Die Geschichte einer „Aneignung“
Dass es durchaus eine Besonderheit ist, weiß Jan Herres. Der junge
Architekt hat zahlreiche Berliner Zimmer in Augenschein genommen und ein
Buch über ihre Geschichte und ihrer „Bezähmung“ geschrieben, nur dass
Herres das lieber „Aneignung“ nennt. Ein Hamburger oder ein Kölner Zimmer,
sagt Herres, gibt es nicht. Wohl aber gebe es „Berliner Zimmer“ neben Posen
auch in Magdeburg oder Stettin.
Es hat also mit Preußen zu tun und den Mietskasernenstädten, die die
Behörden dort zugelassen haben. Denn im Grunde ist das Berliner Zimmer
nichts anderes als ein Gelenkraum zwischen dem herrschaftlichen Vorderhaus
und den weniger noblen Seitenflügeln. Noch um 1800 standen die Vorderhäuser
meist als Solitär auf den Grundstücken. Dort, wo sich heute Seitenflügel
oder Hinterhäuser befinden, wurde Gemüse angepflanzt, in einigen Ställen
Geflügel gehalten, in Remisen schufteten Handwerker.
Als Berlins Regierungsbaumeister James Hobrecht 1862 den [2][nach ihm
benannten Hobrecht-Plan] vorlegte, wurde Berlin jedoch bald zur größten
Mietskasernenstadt der Welt. Mit seinem Plan wollte Hobrecht Platz für
Neubauten schaffen, die bisherige Bauordnung erlaubte es, die schmalen und
tiefen Grundstücke eng zu bebauen. Wo zuvor Gemüse angebaut, Tiere gehalten
wurden oder Handwerker arbeiteten, wurden Seitenflügel und Hinterhäuser um
die engen, oft lichtlosen Hinterhöfe gebaut. „Als sich der Bedarf für
größere Wohnungen entwickelte“, sagt Jan Herres, „lag die Idee nah, in den
Seitenflügel durchzubrechen“.
Im Grunde ist das Berliner Zimmer also, wie es Herres schreibt, in einem
„morphologischen Prozess“ entstanden. Und es ist ein Werk ohne Autor. Im
gleichen Jahr, in dem James Hobrecht seinen Bebauungsplan vorlegte, wurde
das „Assmannsche Musterbuch“ veröffentlicht, eine Art Baukatalog für die
Terraingesellschaften und den Bau der Mietskasernen. „An diesen Grundrissen
haben sich alle orientiert“, sagt Herres, der von einer „industriellen
Vervielfältigung“ spricht.
## Baurecht und Standesdünkel
Zur preußischen Entstehungsgeschichte des Berliner Zimmers gehört aber
nicht nur das Baurecht, sondern auch der Standesdünkel. Bald nämlich war
der herrschaftliche Wohnraum der Vorderhäuser auf das Berliner Zimmer
ausgeweitet, dahinter, rechts und links eines langgestreckten Flures,
begann im Seitenflügel der Wohn- und Arbeitsbereich des Gesindes. Damit
dieses nicht durch das Berliner Zimmer spazierte, wurden neue Gelenkräume
geschaffen. „Es gibt Wohnungen in Berlin, die haben Korridor neben
Korridor, nur damit die Lebenskreise getrennt blieben“, sagt Jan Herres.
Für den Architekten, der als Erster überhaupt das Berliner Zimmer
erforschte, ist das auch Ausdruck einer Segregation, die damals
ihresgleichen suchte. „Dienstbotentreppenhäuser oder auch Portierslogen
findet man in Hamburg nur im absoluten Großbürgertum, zehn Zimmer
aufwärts“, sagt er. „Dieses preußische Klassendenken hatten die Hanseaten
nicht.“ Auch baulich konnte es in Hamburg, wo sich in den Höfen keine
Seitenflügel, sondern einzeln stehende und langgezogene „Terrassen“ finden,
folglich auch kein Berliner Zimmer geben. Und in Wien wurde das Scharnier
zwischen vorne und Seite oft mit dem Treppenhaus belegt.
Kein Zimmer hat seitdem die Gemüter so beschäftigt wie das Berliner.
Natürlich hat das auch mit seinen Lichtverhältnissen zu tun. Weil das
Berliner Zimmer nur ein einziges Fenster hat und dieses zum Hof liegt, ist
es dort auch mitten am Tage ziemlich dunkel. Friedrich Engels nannte es
deshalb eine „Berliner Spelunke“. In einem Brief an Wilhelm Liebknecht
schrieb er 1893: „Hier in Berlin hat man das ‚Berliner Zimmer‘ erfunden,
mit kaum einer Spur von Fenster, und darin verbringen die Berliner den
größten Teil ihrer Zeit.“ Wegen der Lichtverhältnisse war das Berliner
Zimmer für Engels auch eine „Herberge der Finsternis“.
Nicht minder abschätzig urteilte der Publizist Walter Kiaulehn in seinem
1958 erschienenen Buch „Berlin. Schicksal einer Weltstadt“. Einen
„Verlegenheitsraum“, eine „melancholische Höhle mit verschiebbarer
Hängelampe“ oder gar ein „besonderes Greuel“ nannte Kiaulehn das Berliner
Zimmer: „Eigentlich ein Korridor, der mit Hilfe eines Fensters zum Zimmer
hochgeschwindelt wurde. Für einen Korridor war es zu breit, für ein Zimmer
zu dunkel.“
## Belebung durch die 68er
Sein mieses Image konnte das Berliner Zimmer erst nach dem Krieg
abschütteln. Und das hat auch mit der 68er-Bewegung zu tun. Zahlreiche
West-Berliner Wohngemeinschaften sind in dieser Zeit im ehemaligen Westen
der Stadt entstanden, dort also, wo es viele der bürgerlichen
Gründerzeithäuser gab. In der Weimarer Republik waren die herrschaftlichen
Wohnungen meist geteilt worden, mit der Nachfrage durch WGs wurden viele
wieder zusammengelegt; das Berliner Zimmer bekam seine Rolle als
Durchgangsraum zwischen Vorderhaus und Seitenflügel zurück.
Aus den Esszimmern der Belle Époque wurden nun Gemeinschaftsräume, in denen
mit neuen Lebens- und Wohnformen experimentiert wurde. Und wenn das nicht
klappte, konnte man immer noch ein Sofa, einen Fernseher und einen Kasten
Bier ins dunkle Eckzimmer stellen.
Ein experimenteller Raum ist das Berliner Zimmer auch in der Ausstellung im
polnischen Institut. Und ein Raum des Zusammenkommens. „Anbahnung“ nennen
die Fotografen Andrea Vollmer und Michael Kuchinke-Hofer ihre Arbeiten, bei
denen es um den „Moment der Begegnung“ geht, den „ersten flüchtigen
Eindruck“, wenn man durch die Stadt eilt und plötzlich innehält.
Das Gedicht, das die beiden ihrer Fotoserie voranstellen, kann auch als
eine Hommage an das Berliner Zimmer verstanden werden:
Wir teilen den Raum / den Moment / die Wärme / die Kälte / die Gerüche /
die Geräusche / das Licht. Der Blick und die Gedanken schweifen im Hier und
Jetzt / in Vergangenem. Wir suchen die Begegnung am Rande der Stadt / der
Raum bekommt ein Gesicht / ein Moment dieser Anbahnung bleibt.“
16 Jan 2024
## LINKS
[1] https://instytutpolski.pl/berlin/2023/11/28/berliner-zimmer/
[2] /150-Jahre-Hobrecht/!5087907
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
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