# taz.de -- Berliner Schriftbilder: Archäologie der Gegenwart | |
> Der Grafiker Jesse Simon dokumentiert Berliner Alltagsschönheit. In | |
> Büchern und sozialen Medien zeigt er seine Fotos von typographischen | |
> Besonderheiten. | |
Bild: Eine auch schon ältere Werbemaßnahme in Berlin | |
BERLIN taz | Ein Ladenschild sollte 2016 das Leben von Jesse Simon für | |
immer verändern. „Betten-König“ stand in verschnörkelter | |
50er-Jahre-Schreibschrift aus Neonröhren an der Fassade eines Ladens in | |
Lichtenrade. Dieses Schild ist dafür verantwortlich, dass der Brite heute | |
zwei Bücher und mehrere erfolgreiche Social-Media-Kanäle zum Berliner | |
Stadtbild betreibt, die ihn international bekannt gemacht haben. | |
Seine Bildbände „Berlin Typography“ und „Plattenbau Berlin“ gibt es in | |
jedem gut sortierten Berliner Buchladen. Seine Kanäle bei Bluesky und dem | |
Twitter-Nachfolger X mit prachtvollen Farbfotos von Berliner Ladenschildern | |
und anderen Schriftzügen im öffentlichen Raum haben zusammen knapp 22.000 | |
Abonnenten. Auch seine Social-Media-Angebote zur Berliner U- und S-Bahn | |
haben ihr Publikum gefunden. | |
Dass Simon ein wichtiger Dokumentar des öffentlichen Raums und von | |
teilweise im Verschwinden begriffener Stadtkultur in der deutschen | |
Hauptstadt werden würde, hat wohl nicht einmal er selbst kommen gesehen. | |
Als er 2012 nach Berlin zog, suchte er eigentlich nach einer | |
Post-Doc-Stelle im Fach Altertumswissenschaft, das er an der University of | |
Oxford University studiert hatte. Die Suche zog sich hin und sollte niemals | |
zum Erfolg führen. | |
Aber Simon war in einer neuen Stadt, die ihn faszinierte. Er hatte zwar | |
kaum Geld, aber viel Zeit, und so begann er durch die Straßen von Berlin zu | |
wandern – erst in seiner neuen Nachbarschaft in Kreuzberg rund um die | |
Kreuzung Urbanstraße und Gneisenaustraße, dann bald im immer größer | |
werdenden Radius um seinen Ausgangspunkt. | |
„In meinem ersten Jahr in Berlin war es eine meiner wichtigsten | |
Unterhaltungen in Berlin, zu Fuß zu gehen, weil das nichts kostet. Wenn man | |
eine Monatskarte hat, kann man jeden Tag irgendwo hinfahren, zum Beispiel | |
nach Zehlendorf, und dort einen neuen Teil der Stadt entdecken, den man nie | |
gesehen hat“, erinnert sich der 46-Jährige. Bei seinen Streifzügen fielen | |
ihm die vielen altmodischen Ladenschilder auf, die in Berlin – anders als | |
in London, wo Simon zeitweise gewohnt hatte – noch nicht verschwunden | |
waren. Vor seinem Geschichtsstudium hatte er als Computergrafiker gejobbt | |
und kannte sich darum mit Typographie aus. Er begann, die Schriftarten, die | |
er bei seinen Wanderungen an Berliner Wänden entdeckte, für selbst | |
gestaltete Karten seiner Spaziergänge zu nutzen. | |
Und dann stand er eines Tages vor dem Neonschriftzug von „Betten König“ in | |
Lichtenrade – und der schien ihm eine stille Mahnung zuzuflüstern: „Bitte | |
halt mich fest! Ich bin vielleicht bald weg.“ Simon war bereit, die stumme | |
Bitte des Schildes zu erfüllen. Er kam am nächsten Tag mit einer Kamera | |
zurück und nahm den Schriftzug auf. Insgesamt fünfmal zog es ihn nach | |
Lichtenrade, um den verschnörkelten „Betten König“-Schriftzug bei | |
verschiedenen Lichtbedingungen und unterschiedlichem Wetter abzulichten. | |
Seine Gänge durch die Stadt waren ein Flanieren gewesen, nun wurden sie | |
systematische Erkundungstouren auf der Suche nach besonderen Schrifttypen. | |
Die Auswahl reicht dabei von der vorletzten Jahrhundertwende bis in die | |
1980er Jahre. „Inzwischen gibt es in Berlin wohl kaum eine Straße, durch | |
die ich nicht schon gegangen bin“, sagt Simon und lacht. Die Bilder, die er | |
dabei mit einer digitalen Vollformat-Kamera aufnimmt, veröffentlichte er | |
auf Twitter – und nicht beim eigentlich als Fotoplattform gestarteten | |
Instagram. Denn erstens ist Instagram auf visuelles Material hin optimiert, | |
das vertikal wie ein Smartphone-Bildschirm ist, die meisten seiner | |
Schriftbilder waren aber horizontal. Und zweitens entstellte der | |
Komprimierungsalgorithmus des frühen Instagram die sorgsam nachbearbeiteten | |
Fotos. Simon: „Instagram war zu dieser Zeit dazu gemacht, dass Fotos, die | |
man mit dem Smartphone gemacht hatte, in der App fantastisch aussehen – | |
nicht professionelle Fotos aus einer Digitalkamera.“ | |
Der Kanal fand bei Twitter, das damals noch eine Plattform für Diskussionen | |
einer intellektuellen und kulturellen Elite war, schnell sein Publikum: | |
Touristen, Berlin-Fans, Typographen und andere Grafiker, Liebhaber von | |
„Lost Places“ und Kunstfreunde abonnierten den Kanal. Besonders während der | |
Pandemie zogen die Zahlen stark an: „Ich glaube, da gab es so ein Fernweh“, | |
sagt Simon. „Man konnte nicht nach Berlin reisen. Darum guckte man sich als | |
Ersatz meine Bilder an.“ 2018 begann er, an seinem ersten Buch mit den | |
Schriftbildern zu arbeiten, das 2021 erschien. | |
„Überall um uns ist Text, der um unsere Aufmerksamkeit konkurriert, aber | |
normalerweise achtet man nicht auf seine formale oder typografische | |
Qualität“, findet Simon, der hauptberuflich in der Druckwerkstatt einer | |
Berliner Privathochschule arbeitet. Für solche Alltagsschönheiten will er | |
den Blick des Betrachters schärfen. Und Berlin hatte für Simon in dieser | |
Hinsicht mehr zu bieten als viele andere Metropolen: „Berlin liegt wegen | |
der Teilung etwa 20 Jahre hinter der Entwicklung der meisten anderen | |
westeuropäischen Hauptstädte. Die Modernisierung und Gentrifiziering, die | |
in London um 2000 stattfand, erreicht Berlin erst jetzt. Und zu dieser | |
Veränderung gehört auch das Verschwinden der alten Ladenschilder. Etwa ein | |
Drittel der Schilder in meinem Buch existieren inzwischen nicht mehr.“ | |
Jesse Simon mag nicht als Altertumswissenschaftler Arbeit gefunden haben. | |
Dafür ist er inzwischen als eine Art Archäologe der Gegenwart damit | |
beschäftigt, verschwindendes Berliner Kulturgut aus dem öffentlichen Raum | |
für die Nachwelt festzuhalten. | |
Heute konzentriert sich Simon bei seinen Fotosafaris auf die Berliner S- | |
und U-Bahnhöfe. In den sozialen Medien postet er Bilder von | |
Stationsschildern, Ornamenten und anderen architektonische Details. Seine | |
Lieblingsstationen sind die der U7 Richtung Spandau: „Diese Strecke ist wie | |
ein Drogentrip“, sagt er über die Haltestellen, die Baudirektor Rainer G. | |
Rümmler in den 70er und 80er Jahren gestaltete. „Der kickt ab Jungfernheide | |
so richtig rein, und dann wird es immer wilder.“ | |
Den neuen Stationen der U5 zwischen Hauptbahnhof und Alexanderplatz kann er | |
nichts abgewinnen. Nur die Haltestelle „Rotes Rathaus“ überzeugt ihn durch | |
die Eleganz ihrer pilzförmigen Säulen. | |
Gleichzeitig hat er aber auch festgestellt, „dass man in jedem Bahnhof | |
etwas Interessantes finden kann, wenn man lange genug bleibt“. Unscheinbare | |
Bahnhöfe wie die der U5 ab Alexanderplatz oder am östlichen Stadtrand | |
fotografiert er inzwischen in 20 Minuten ab. Aber bei Prachtstücken wie der | |
Station Heidelberger Platz kommt er manchmal mehrmals für eine Stunde oder | |
mehr, um der ganzen unterirdischen Herrlichkeit gerecht zu werden. | |
24 Oct 2023 | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
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