# taz.de -- Hochstaplerin Anni Sanneck: „Vernichtung durch Arbeit“ | |
> Das Leben einer der schillerndsten Kriminellen der 20er Jahre endete | |
> tragisch – sie wurde Opfer des NS-Massenmordes an Strafgefangenen. | |
Bild: Lächelt dem Verteidiger zu: Anni Sanneck vor Gericht | |
„Ihr verdammte Bande, wollt ihr nicht strammstehen, wenn ich hier in diesen | |
Dreckstall komme?!“, tobt die Frau im Gerichtssaal. In ihrer Wortwahl ist | |
sie, nun ja, nicht gerade zimperlich. Doch dieser fulminante Auftritt der | |
Anni Sanneck ist charakteristisch für die Dame, die eigentlich gar keine | |
ist. | |
Anni Sanneck ist in den 1920er Jahren die „gefährlichste Hochstaplerin | |
Deutschlands“, ein zweifelhafter Ehrentitel, der ihr von einer der | |
zahlreichen Berliner Tageszeitungen verliehen wurde. Alle kennen sie in der | |
Reichshauptstadt, und wenn Anni mal wieder äußerst selbstbewusst vor einem | |
der ratlosen Richter steht, ist der Andrang dementsprechend groß. Polizei | |
und Justizbeamte versuchen dann verzweifelt, die neugierige Menschenmenge | |
in Schach zu halten, aber meistens muss das Gebäude aus Sicherheitsgründen | |
abgesperrt werden. | |
Und Sanneck gibt ihrem „Publikum“, was es will: Randale, Tumulte, Geschrei, | |
aber auch Zudringlichkeiten. Da kann es schon mal vorkommen, dass sie den | |
Richter umarmt oder dem Verteidiger Küsse zuwirft. Grundsätzlich ist sie | |
anscheinend sehr vertraut mit dem Justizpersonal, alle werden zuverlässig | |
mit Koseworten bedacht und hartnäckig geduzt. | |
„Komm mal her, Erich“ – gemeint ist der ehrwürdige Dr. Dr. Erich Frey, | |
einer ihrer zahlreichen Verteidiger während ihrer Laufbahn als | |
Hochstaplerin – „Du bist doch der Beste“. Ein Grölen, dann ein Lachen, d… | |
Publikum ist begeistert. | |
## Im Ruhm baden | |
Anni Sanneck sonnt sich in dem vermeintlichen Glanz der Aufmerksamkeit, der | |
Bewunderung. Das ist ihre ganz eigene Wahrnehmung, die ihr keiner nehmen | |
kann und die sie immer und immer wieder auch zu größeren Straftaten | |
animiert. | |
Die Gerichtsauftritte in Berlin sind der Lohn ihrer „Arbeit“. Es zählt | |
nicht nur das durch Betrügereien als falsche Gräfin ergaunerte Geld, | |
sondern auch der vermeintliche Ruhm. Doch mit der Zeit wird sie sich darin | |
völlig verlieren. Aber auch in einer psychischen Krankheit, die vermutlich | |
ihrer [1][Drogensucht] geschuldet war. | |
Ihre Karriere als Hochstaplerin beginnt früh. 1889 im ostpreußischen | |
Czychen geboren, ziehen ihre Eltern mit den Kindern um die Jahrhundertwende | |
in die Nähe der Reichshauptstadt, wo der Vater August Sanneck als | |
Straßenbahnführer arbeitet. Die Familie lebt in Lichtenberg, dort heiraten | |
auch Annis Geschwister, sie werden ein geordnetes Leben führen. | |
Nur Anni schlägt etwas aus der Art, treibt sich früh herum und wird | |
schließlich ungewollt schwanger. Der entsetzte Vater jagt sie mitsamt ihrem | |
Kind aus dem Haus. Das ist der Anfang vom Ende: Betrügereien, | |
Urkundenfälschung, Diebstahl, eine ganze Palette von Straftaten, die sie | |
zumeist in Begleitung eines Komplizen, der meistens auch ihr Liebhaber ist, | |
begeht. | |
## Auf der Flucht | |
Zumeist ist sie als falsche Gräfin in Berlin unterwegs, feudal gekleidet, | |
wortgewandt, mit sicherem Auftreten versteht sie ihre Opfer zu blenden. Oft | |
entzieht sie sich nach der Enttarnung ihrer Strafe durch Flucht. So ist sie | |
zum Beispiel am 12. März 1912, als die Hauptverhandlung gegen sie vor dem | |
Landgericht I in Berlin stattfinden soll, nicht auffindbar. | |
Doch zumeist wird sie irgendwann wieder dem Untersuchungsgefängnis | |
zugeführt, so auch am 16. Dezember 1912, als sie widerwillig das Urteil | |
entgegennehmen muss. Und das lautet für die in den Augen der Ärzte „geistig | |
minderwertige“ Kriminelle, die mittlerweile starke [2][Morphinistin] ist: | |
zweieinhalb Jahre Gefängnis. | |
Die nächsten zwei Jahrzehnte werden eine beständige Abfolge von Straftaten, | |
Verhaftungen, Gerichtsauftritten, Untersuchungen durch Gerichtspsychologen | |
in der „Irrenanstalt“, Verurteilungen, aber auch wieder Freisprüche, | |
woraufhin Anni ihr altes kriminelles Leben sofort wieder aufnimmt. | |
Erschwerend hinzu kommt der ominöse Paragraf 51 des | |
Reichsstrafgesetzbuches, der über die Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten | |
entschied: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter | |
zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von | |
Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, | |
durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“ | |
Der Paragraf barg das Potential, dass gewiefte Straftäter die Ärzte | |
täuschen konnten, provozierte unter Umständen aber auch Streitigkeiten | |
unter den Ärzten, die unterschiedlicher Meinung waren und so der | |
Gerichtsprozess unnötig in die Länge gezogen wurde. Und während dieser Zeit | |
saßen die Delinquenten im Untersuchungsgefängnis, wo mitunter dann eine | |
tatsächlich vorhandene geistige Erkrankung völlig zum Ausbruch kommen | |
konnte. | |
## Mittel der Justiz versagen | |
In den 1920er Jahren wird Anni Sanneck immer rastloser, längst sind ihre | |
Handlungen zwanghaft geworden. Sie wechselt nun öfter ihren Aufenthaltsort, | |
aber auch ihre reichen Liebhaber, die ihren Sinn für Luxus fördern. Sie | |
heiratet und trennt sich mehrmals, alles wird wie immer zuverlässig durch | |
Gefängnis- oder Anstaltsaufenthalte durchbrochen. Ein ewiger Kreislauf, den | |
Anni irgendwann nicht mehr durchbrechen kann. | |
Auch die Berliner Behörden sind völlig ratlos. „Die Mittel der Justiz | |
versagen vor dieser Person, deren ungebrochene Vitalität die Zwangsjacken | |
und die Gefängnistore bricht“, heißt es in einem zeitgenössischen Artikel | |
über die ungewohnt aktive Kriminelle, und das trifft genau den Kern des | |
Problems, „und die doch immer wieder freiwillig in die Anklagebank | |
zurückkehrt, als wehe da die Luft, die sie zum Leben braucht“. | |
Doch auch eine vitale und äußerst mobile Anni Sanneck, die auch in anderen | |
Landesteilen wie zum Beispiel dem Rheinland aktiv war, wird einmal älter. | |
Die Energie verpufft, und was bleibt dann, wenn sich eine psychische | |
Erkrankung längst manifestiert hat? | |
Zunächst wird sie 1930 mal wieder zu zwei Jahren Haft verurteilt. Dann ist | |
es wieder das gleiche Spiel. Ihr Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Eisenstaedt, | |
holt neue psychologische Gutachten ein, woraufhin Sannecks Haftentlassung | |
wegen Haftunfähigkeit angeordnet wird. | |
## Das Spiel ist aus | |
Fünf Jahre später schließlich – als falsche Gräfin hat sie mehrere Person… | |
um mehrere tausend Reichsmark erleichtert –, wird Sanneck mal wieder | |
festgenommen. Und nun ist das Spiel aus! Sechs Jahre Haft beträgt ihre | |
Strafe, die sie im berüchtigten [3][Zuchthaus Waldheim] in der Nähe von | |
Dresden absitzen soll. | |
Dort erweist sie sich als äußerst renitent, aufsässig, eine Quertreiberin, | |
die nicht merkt, dass sie dadurch ihre Haftbedingungen nur verschlimmert. | |
Zudem nagt ein Rechtsstreit mit ihrem ehemaligen Berliner Geliebten namens | |
Ernst Pichler an ihr. | |
Die ganze Welt habe sich gegen sie verschworen, so ihre Wahrnehmung. Sie | |
hadert nur noch mit ihrem Schicksal, will Rache an Pichler nehmen, und | |
trauen könne man sowieso niemandem, schreibt sie im Gefängnis – eine sehr | |
umfangreiche Akte aus dem Zuchthaus zeugt von ihrem mittlerweile konfusen | |
Geisteszustand. | |
## Tragisches Schicksal | |
Anni Sanneck hat ihre Strafe nicht vollständig abgesessen, ist nie wieder | |
in Freiheit gelangt. Ein Abkommen zwischen Reichsjustizminister Otto | |
Thierack und Reichsführer SS Heinrich Himmler vom 18. September 1942 | |
besiegelte auch das Schicksal der Aufsässigen, der sogenannten | |
[4][Asozialen]: „Asoziale Elemente aus dem Strafvollzug, Juden, Zigeuner, | |
Russen, Ukrainer [sollen] an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch | |
Arbeit ausgeliefert werden.“ | |
Und so reiste vor über 80 Jahren eine Gutachterkommission durch das Land, | |
eine von der Justiz legitimierte todbringende Delegation, die in Absprache | |
mit der jeweiligen Anstaltsleitung die Selektion für die Gaskammern | |
durchführte. | |
Eine Studie, die sich mit diesem Massenmord an Strafgefangenen befasste, | |
kam zu dem Ergebnis, das im Jahr 1942 insgesamt 17.307 Gefangene in die | |
Konzentrationslager überstellt wurden, so auch Anni Sanneck. Am 22. Oktober | |
1942 wurde sie von der Polizei in Gewahrsam genommen und am 8. Januar 1943 | |
nach Auschwitz transportiert. Zwei Monate später wurde Anni Sanneck dort | |
am 11. März 1943 ermordet. | |
Leo Rosenthal, der wackere Fotograf, der damals verbotenerweise in Berliner | |
Gerichtssälen fotografierte, hat auch Anni Sanneck einst auf einem seiner | |
Bilder verewigt. Das ist von ihr geblieben: ein faszinierendes Foto von | |
einer Frau mit modischem Kurzhaarschnitt, die eigentlich ganz sympathisch | |
aussieht. Der Verteidiger Max Alsberg hatte es leicht mit ihr, sie war ihm | |
offenbar wohl gesonnen. Und Anni Sanneck lächelt. | |
Mehr True-Crime-Geschichten von Bettina Müller finden sich in ihrem Buch | |
„[5][Dandys, Diebe, Delinquenten (Verbrecher in Berlin 1890–1933)]“, | |
erschienen bei Elsengold | |
23 Feb 2023 | |
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[5] https://elsengold.de/produkt/dandys-diebe-delinquenten/ | |
## AUTOREN | |
Bettina Müller | |
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