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# taz.de -- Die JVA Tegel wird 125 Jahre alt: Wie eine „Stadt in der Stadt“
> Vom Königlichen Strafgefängnis bis zur Justizvollzugsanstalt. In Tegel
> wird seit 125 Jahren wechselhafte Gefängnisgeschichte geschrieben.
Bild: Wilhelm Voigt, der Hauptmann von Köpenick, verlässt 1908 die Haftanstal…
Berlin taz | „Knast“, „Kittchen“, „Schwedische Gardinen“: Gewisse T…
umschifft die deutsche Sprache einfach mal mit Humor. Wer möchte schon dort
vor Anker gehen, wo die Strafgefangenen nach ihrer gerichtlichen
Verurteilung landen, nämlich in der Zelle einer der größten deutschen
Justizvollzugsanstalten? Noch nicht einmal für kurze Zeit will man sich
dort aufhalten, da, wo „die Verbrecher“ [1][der Freiheit beraubt werden],
um nach der Entlassung idealerweise in sozialer Verantwortung ein Leben
ohne Straftaten zu führen. Es hilft aber nichts, der 125. Geburtstag in
Tegel naht, also: Abführen!
Mögliche Assoziationen bei Nicht-Berlinern sind da gerne mit [2][dem
ehemaligen Flughafen] verbunden und weniger mit der Anstalt des
geschlossenen Vollzugs, die mit zu den ältesten im ganzen Land gehört. Für
den braven Bürger ohne Vorstrafen ist es schwer vorstellbar, wie sich das
Leben in so einer „Stadt in der Stadt“ anfühlen muss. Für den ein oder
anderen Häftling aber auch, der überhaupt nicht einsieht, dass er sich dort
länger aufhalten soll. Und so ist die Liste der erfolgreichen Ausbrüche
sehr lang.
Es fing schon kurz nach der Eröffnung des „Königlichen Strafgefängnisses
Tegel“, wie es damals hieß, an, als ein Buchbinder namens Carl Becker sein
Heil in der Flucht suchte. Eigentlich war er ja stolz auf seine
Tätowierungen, ein wunderschöner Anker auf jeder Hand, doch in diesem
Moment verfluchte er die nautischen Motive, weil sie ihn als steckbrieflich
gesuchten Ausbrecher enttarnen konnten. Tatsächlich war der junge Mann dann
auch einer der Ersten, die das zweifelhafte Vergnügen hatten, das an der
Tegeler Chaussee gelegene Gefängnis von innen kennenzulernen.
Im Oktober 1898 wurden die ersten 90 Strafgefangenen in die drei
„Verwahrhäuser“ in Tegel eingeliefert – wahrlich kein schöner Begriff, …
würde man dort Menschen wie Pakete stapeln. Die Beamten legten
„Personalakten“ an, darin fanden auch Anträge der Häftlinge sowie
Beschwerden Eingang. Auch Carl Becker wird man im Grünen Pferdebahnwagen,
im Volksmund „Grüne Minna“ genannt, vom Molkenmarkt aus mit dem
Polizeipräsidium seinem neuen Zielort näher gebracht haben. Ab 31. August
1900 wurde diese Fahrt geradezu rasant, denn nun waren es elektrisch
betriebene Transportwagen, Achtung, die „Dicke Pauline“ war unterwegs!
## Grün – nicht nur die Farbe der Hoffnung
Was Becker eigentlich auf dem Kerbholz hatte, ist unbekannt, ebenso sein
weiterer Werdegang. Schicksalsgenossen hatte er so einige. Und so kam es
mitunter auf der Landstraße bei Tegel in Richtung Berlin zu dieser
Ansprache, wenn sich zwei Männer begegneten: „Du kommst doch ooch aus’m
jrienen Boom, wah?“, wie es der Kriminalschriftsteller Hans Hyan
festgehalten hat. Gemeint war damit der Tegeler „Knast“. Grün, das war eben
nicht nur die Farbe der Hoffnung auf ein Leben in Freiheit dieser
Schicksalsgemeinschaft mit ungewisser Zukunft. Eine Berliner Zeitung nannte
sie einmal „Deklassierte“ – aber immerhin mit „Bürjerbrief“, und das…
das Entlassungspapier.
Viele blieben nicht lange, weil vor allem nur geringe Gefängnisstrafen ab
sechs Tagen und Haftstrafen ab 15 Tagen dort verbüßt wurden. Für diesen
Kurzvollzug war das Verwahrhaus I gedacht. Verwahrhaus II diente als
Zugangshaus und für Langstrafen von mehreren Jahren, grundsätzlich war
Tegel bekannt als Verwahrort für die Berliner Kleinkriminellen.
Zu den anfangs drei Verwahrhäusern kam später noch ein viertes für die
Gemeinschaftshaft hinzu für diejenigen, die für eine Einzelhaft nicht in
Frage kamen. Tegel wurde zu einem perfekt organisierten Mikrokosmos
innerhalb der immer größer werdenden Me-tropole. Mit Gefängniskirche,
Krankenhaus, Koch- und Backhaus, Wasch- und Badehaus, Werkstätten für die
Verwaltung und Beamtenwohnungen.
Die Aufseher rekrutierten sich zu über 70 Prozent aus ehemaligen Soldaten.
Einer von ihnen war Bernhard Jäckel, ein 1855 im schlesischen
Nieder-Leschen geborener Gefangenenaufseher, der um 1885 noch in Prenzlau
als Sergeant lebte. Als er hörte, dass ein neues Strafgefängnis in der
Planung war, das vor allem das ältere Plötzensee entlasten sollte, bewarb
er sich als Aufseher und blieb bis zum Eintritt des Rentenalters.
## Auf Ebay verhökert
In Jäckels Nachlass – der statt in einem Archiv zu landen auf Ebay
verhökert wurde – fanden sich verschiedene Dokumente. Vor allem die
Übersicht über die Anstaltsregistratur verdeutlichte den immensen Aufwand
für einen reibungslosen Betrieb der Strafanstalt: Formulare, Verordnungen,
Abrechnungen, Übersichten von Ein- und Ausgaben, aber auch Namen von
Unternehmern und deren Werkführer, die im Strafgefängnis ungehindert ein-
und ausgehen mussten, alles musste akribisch festgehalten werden. Sogar die
Telegramme anlässlich der Hochzeiten der Aufseher waren namentlich erfasst
worden.
Konnte Jäckel damals ahnen, wie sich sein Arbeitsort einmal verändern
würde? Zwei Weltkriege musste der Beamte miterleben, bis er im Juli 1942
als „Justiz-Hauptwachtmeister a.D.“ in der Tegeler Bahnhofstraße verstarb.
Und welche der prominenten Häftlinge hat er selbst erlebt?
Dem Ostpreußen Friedrich Wilhelm Voigt wird er wohl begegnet sein, der
knapp zwei Jahre bis zum 16. August 1908 in Tegel einsaß. Ausgerechnet
dieser Mann, der als falscher „Hauptmann von Köpenick“ nicht zuletzt auch
das Preußische Beamtentum konterkarierte, lobte die Tegeler Mannschaft als
„mustergültig“.
1913 stieg die Anzahl der Gefangenen auf durchschnittlich 1.565. Dann brach
der Erste Weltkrieg aus und aus dem Verwahrhaus I wurde 1916 das
Militärgefängnis. Erst das Revolutionsgeschehen 1918/19 brachte durch
ungezählte Schutzhäftlinge die gefürchtete Überbelegung der Anstalt.
Als der Schriftsteller und Journalist Carl von Ossietzky am 10. Mai 1932
unter Hochrufen seine 227-tägige Haftstrafe wegen „Landesverrats“ antrat,
wurde er – so geht es aus Briefen an seine Ehefrau Maud hervor –, von den
Beamten „freundlich und nett und voll Interesse“ behandelt, er hielt aber
eben auch fest: „Es ist einsam hier.“ Private Briefe durfte er sowieso nur
alle vier Wochen schreiben, für einen Schriftsteller war das die
Höchststrafe. Immerhin soll seine einsame Zelle „gar nicht übel“ gewesen
sein.
Oberstrafanstaltsdirektor Bruck legte zu der Zeit, als der später von den
Nazis im KZ gepiesackte von Ossietzky Häftling war, Wert darauf, dass die
Menschenwürde gewahrt wurde. Das war nicht immer so. Am Ende des 19.
Jahrhunderts hatte die Justiz vor allem als eine Art „Racheengel“ fungiert
und es darauf angelegt, den Häftlingen das Leben so schwer wie möglich zu
machen. Oder wie es der ehemalige Reichsgerichtsrat Otto Mittelstädt einmal
gnadenlos ausdrückte: „Der Gefangene soll rücksichtslos angespannt werden
im Scharwerk jeglicher Art, soweit das Mark seiner Knochen und die Sehnen
seines Fleisches es ertragen. Er soll es als grausame Pein empfinden.“ Die
Gefangenen sollten nicht nur physisch, sondern auch psychisch gebrochen
werden.
## Das dunkelste Kapitel Tegels
In der Zeit des nationalsozialistischen Deutschlands mit dem massiven
Einfluss auf die Justiz wurde so unter anderem auch ein Teil des Hauses III
für Untersuchungshäftlinge des Volksgerichtshofs eingerichtet. Das
dunkelste Kapitel Tegels konnte man dann ab Januar 1943 stellenweise im
Namensregisterbuch der Häftlinge ablesen: „KZ-Lager Auschwitz zugeführt“.
1945 fanden russische Truppen nur leere Zellen vor, das Gefängnis war
längst aufgelöst worden, die Häftlinge entweder entlassen oder durch
alliierte Bombardierungen ums Leben gekommen. Der Neuanfang war schwer,
bedingt auch durch die Teilung der Stadt. Ab 1955 wurde das Gefängnis in
„Strafanstalt Tegel“, 1977 schließlich in „Justizvollzugsanstalt Tegel“
umbenannt.
Heute fristen bis zu 900 männliche Insassen ihr Dasein in der JVA,
abgeschirmt von einer 1.465 Meter langen Außenmauer mit 13 Wachtürmen, 580
Personen bietet sie einen Arbeitsplatz. Doch was ist mit den Menschen, die
die Mauern mit Leben füllen müssen? Wie kann man sie auf den viel
beschworenen „Pfad der Tugend“ zurücklenken? Eine Frage, auf die nicht
immer eine Antwort gelingt.
Aber auch die Außenwelt ist gefordert: Vorurteile überwinden ist eines der
Anliegen der Rehabilitation. Mittlerweile kommen die Besucher tatsächlich
auch schon einmal freiwillig, und zwar immer dann, wenn das
[3][Gefängnistheater aufBruch] Vorstellungen im Freistundenhof einer der
Teilanstalten gibt. Der Gedanke dahinter ist, verschüttete Fähigkeiten und
Ressourcen freizulegen, Teamfähigkeit, Kommunikation, Disziplin und
Konzentration zu fordern und so ebenfalls zu fördern. Auf das Leben danach
vorzubereiten.
Der Erfolg ist ungewiss, aber einige werden hoffentlich ihr Ziel erreichen,
nämlich den einstigen „jrienen Boom“ nie mehr von innen wiederzusehen.
14 Apr 2023
## LINKS
[1] /Berliner-Senatorin-ueber-linke-Justizpolitik/!5828727
[2] /Neues-Ankunftszentrum-fuer-Gefluechtete/!5841030
[3] /Gefangenentheater-in-Berlin/!5896798
## AUTOREN
Bettina Müller
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