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# taz.de -- Ausstellung JVA Tegel: Farben, die mit Schatten tanzen
> Ein Projekt mit Strafgefangenen aus dem offenen Vollzug der JVA Tegel
> stellt im Kunstquartier Bethanien aus. Die Teilnehmenden verwandeln
> Biografien voller Traumata und Träume in Kunst
Bild: Geldscheine, Kindheit, Totenkopf: Traumabewältigung in Form von Kunst
Berlin taz | Ein lauwarmer Freitagabend in Mitte. Die Sonne wirft lange
Schatten auf die Brunnenstraße. Vor der Prisma Art Gallery des Vereins
Freie Hilfe e. V. stehen ein paar Männer und rauchen. Drinnen riecht es
nach Farbe. Auf einem Tisch stehen unzählige kleine Farbeimer in Anthrazit,
Violett, Orange und vielen mehr. Zwischen den großformatigen Leinwänden
steht Antje Kerl-Akkan. Die Kunsttherapeutin und Projektleiterin blickt auf
die Männer unterschiedlichen Alters, die mit zusammengekniffenen Augen an
den letzten Korrekturen und Übermalungen feilen.
Die Männer, die hier eifrig arbeiten, sind größtenteils [1][Strafgefangene
im freien Vollzug der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel.] Inzwischen sind
die Bilder fertiggestellt, noch bis Donnerstag sind sie im Kunstquartier
Bethanien zu sehen. Was dabei entstanden ist, sind Wimmelbilder: chaotisch,
dicht, übervoll. An vielen Stellen sieht man Waffen, Drogen, Panzer,
Fäuste, Explosionen. Es sind Zeugnisse von dem Aufwachsen in Kriegsgebieten
oder von häuslicher Gewalt in der Kindheit. Aber es findet sich auch
subtilere Symbolik, die Fragen aufwirft: wie ein Schneemann, dem eine Hand
über dessen Karottennase streicht, oder ein vollgepacktes Frachtschiff, das
durch eine dunkle Szenerie fährt.
In den Motiven wird deutlich, dass die Künstler:innen nicht nur
verbindet, dass sie straffällig geworden sind. Ihre Kunst ist auch das
Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Traumata und oftmals einer Kindheit
unter schweren Vorzeichen. Tatsächlich geht es beim Projekt „Vom Dunkeln
ins Licht – Sieben Bilder einer Spurensuche“ in erster Linie darum, ins
Reflektieren zu kommen. In sieben Schritten sind die Künstler:innen in
ihre eigenen Biografien eingetaucht. Ihre Bilder haben sie gemeinsam
gestaltet. Das Ergebnis sind Großformate mit viel Symbolik, die
widerspiegeln, was in den zahlreichen Gesprächen, Diskussionen und der
Entwicklung, die die Teilnehmer:innen durchgemacht haben, zutage
befördert wurde.
Das erste Bild der Ausstellung behandelt etwa die Frage: „Geheimnis – woher
komme ich?“, was sich auf die Zeit vor der Geburt bezieht. In der
multireligiösen Gruppe hätte es dazu verschiedene Ansichten gegeben,
erzählt Kerl-Akkan. Am Ende hätten die Gespräche zu mehr Offenheit und
gegenseitigem Verständnis geführt. Verhandelt werden in den Bildern nicht
nur persönliche Themen und Fragen von Identität und Delinquenz, sondern
auch systemische Fragen, die [2][die Stellung von Gefangenen in der
Gesellschaft] betreffen.
## Es fehlt an Wohnraum und Therapieplätzen
„Viele unserer Klient:innen kämpfen gleichzeitig mit psychischen
Erkrankungen, Suchtthemen, Wohnungslosigkeit, Stigmatisierung und
mangelnder familiärer oder sozialer Unterstützung“, sagt die
Vereinsvorsitzende der Freien Hilfe, Kathleen Kurch. Ihren Klient:innen
fehle es oft an bezahlbarem Wohnraum sowie therapeutisch betreuten Plätzen.
Häufig stünden zudem Bürokratie oder begrenzte Mittel im Weg. „Es sind die
alltäglichen Schwierigkeiten, denen wir uns in unserer Arbeit stellen – und
die zeigen, wie wichtig vernetzte, menschlich zugewandte Unterstützung
ist“, sagt sie.
Bei der Freien Hilfe ist man überzeugt, dass Resozialisierung, das zentrale
Ziel im Strafvollzug, mit einer Beziehung zu den Gefangenen beginnt. Der
Verein, der in diesem Jahr sein 35-jähriges Bestehen feiert, bietet neben
dem Kunstprojekt weitere Angebote an, wie Wohnhilfen und ein Programm, in
dem ehemalige Inhaftierte gefährdete Jugendliche begleiten. Die Leitziele
des Vereins sind Haftvermeidung, Reintegration und soziale Teilhabe.
Einer der Hebel dafür ist die Prisma Art Gallery, die seit 2023 besteht.
Immer wieder wird bei den vier Besuchen der taz bei dem Projekt deutlich:
Es gelingt tatsächlich, dass sich die Gefangenen im Rahmen des
Kunstprojekts öffnen. Am Rande der Ausstellungseröffnung erzählt der
43-jährige Sebastian S., dessen echter Name nicht in der Zeitung stehen
soll: „Am Anfang des Projekts war ich sehr verschlossen und habe alles
verdrängt. Doch nach und nach habe ich mich geöffnet und durch die Bilder
meine Geschichte ausgedrückt.“ Er erzählt, im März wolle er eine Ausbildung
als Tischler beginnen.
Der Kunsthistoriker und Autor Jan-Philipp Frühsorge, der das Projekt eng
begleitet, ordnet die Werke als Outsider Art oder Art Brut ein, also Kunst
von Menschen, die autodidaktisch außerhalb des etablierten Kunstsystems
arbeiten: „Für viele ist die Kunst und Kreativität oft die erste, manchmal
die einzige Art in ein biografisches Gespräch mit sich selbst zu kommen“,
sagt Fürsorge.
## Wie fühlt sich Gefangensein an?
Immer wieder geht es in den Gesprächen, die die taz mit den Gefangenen
führt, auch um das Gefangensein und die aktuelle Lage im Knast. Die 40
Männer und vier Frauen, die an dem Projekt teilnehmen und aus dem offenen
Vollzug kommen, leben in einer Art Zwischenwelt. Tagsüber können sie sich
teils frei bewegen, aber abends müssen sie zum Einschluss zurück in die
JVA. Manche sitzen seit mehreren Monaten, manche seit vielen Jahren. Bei
einigen hat der Knast Spuren hinterlassen.
Mario G., der ebenfalls nicht mit echtem Namen genannt werden soll, erzählt
etwa, wie er sich am ersten Tag in Freiheit dabei ertappt habe, wie die
Stigmatisierung als Häftling auch auf ihn selbst herübergesprungen sei. In
der U-Bahn sei er angequatscht worden, einfach so, der Mann sei nett
gewesen. Da habe sich G. gefragt: „Weiß der nicht, woher ich komme?“ Erst
hinterher habe er realisiert: „Es steht ja auch nicht auf meiner Stirn,
dass ich ein Knacki bin.“ Es ist ein Reflex aus der Zeit im Gefängnis.
„[3][Dass wir die schlimmsten sind, wird uns in der JVA jeden Tag aufs Brot
geschmiert]“, sagt ein anderer Gefangener zur taz.
Bei der Ausstellungseröffnung am vergangenen Donnerstag drängeln sich
Hunderte Besucher:innen durch die kargen Räume, zwischen ihnen die
Künstler:innen mit ihren Betreuer:innen und Wegbegleiter:innen. Auch
ein Baby krabbelt durch den Raum herum und freut sich glucksend über seine
Bewegungsfreiheit. Das Bild an der Wand über ihm zeigt einen Vater, der mit
seinen Kindern an der Hand in Richtung eines Sonnenunterganges geht, einen
Auftritt eines Rappers vor vielen Fans, eine Friedenstaube und eine
Autobahn mit einem geöffneten Grenzübergang vor einem prächtigen
Bergpanorama.
Das siebte und letzte Bild der Ausstellung, in dem es um Träume und
Hoffnungen geht, ist das mit Abstand friedlichste der Reihe. Eine andere,
selbstbestimmte Vorstellung von Zukunft hat hier bereits Gestalt
angenommen.
14 Oct 2025
## LINKS
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[3] /Leiter-der-JVA-Tegel-ueber-den-Knast/!5956263
## AUTOREN
Julian Zwingel
## TAGS
Therapie
JVA
Kunst Berlin
Strafvollzug
Schwerpunkt Stadtland
Geschichte Berlins
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