# taz.de -- Geruch als eine Form von Gewalt: Der Sprüher | |
> Mit dem Mann nachts in der S-Bahn stimmte etwas nicht. Er lief herum und | |
> streckte den Leuten seine leeren Hände entgegen. Und dann schrie ein | |
> Mädchen. | |
Bild: Auch ein Art, sich auszubreiten: gezielt versprühter Geruch | |
Donnerstags, Mitternacht in der S-Bahn. Die Waggons rattern von Harburg | |
über die Elbbrücken. Draußen ist schwarze Nacht. Die Elbe schwappt dunkel | |
gegen den Uferrand. Die Menschen in der Bahn wirken müde. | |
Zwei junge Frauen, die eng nebeneinander sitzen, sind stark geschminkt und | |
haben frisch gestylte Haare. Sie sind die Einzigen, die noch so aussehen, | |
als würden sie zu etwas aufbrechen. Alle anderen scheinen nur noch | |
heimkehren zu wollen. Verschwommen spiegeln sich die erschöpften Gesichter | |
in den Fensterscheiben. Die Bahn, die durch das Dunkel gleitet, ist | |
ausgeleuchtet durch grelles Neonlicht. Es ist anstrengend, das Licht zu | |
ertragen, während sich innerlich schon die [1][Nacht] einleitet. | |
Da ist im Gang ein Schlurfen zu hören. Ein Geräusch, das sofort | |
signalisiert, dass etwas nicht stimmt. Es entspricht nicht dem geschäftigen | |
Laufen von S-Bahn-Passagieren. Es ist ein Schlurfen ohne Ziel. Ein | |
Geräusch, das nicht in eine Bahn, sondern eher in einen Krankenhausflur, | |
eine Psychiatrie passt. Es klingt nach einem Menschen, der sucht. | |
Ein junger Mann in grüner Khakihose und in kariertem Hemd schlurft vorbei. | |
Seine Füße stecken in schwarzen Socken und in grauen Plastikschlappen. Die | |
Kleidung des Mannes ist sauber. Doch er trägt keine Tasche, keine Jacke. Er | |
läuft durch den Gang, als wäre er gerade von zu Hause, direkt aus dem | |
Wohnzimmer in diese S-Bahn geschlüpft. | |
## Plötzlich ein Schrei | |
In der Mitte des Gangs dreht er sich auf einmal um, schlurft wieder nach | |
vorn, als hätte er etwas vergessen. Abrupt streckt er plötzlich einem Mann | |
seine leeren Hände entgegen. Der Mann schüttelt den Kopf. | |
Der Mann in den Schlappen flucht leise, dann schlurft er [2][weiter durch | |
den langen S-Bahn-Gang]. Vor und zurück. Hin und her. Immer wieder hält er | |
zwischendurch den Menschen seine offenen Hände entgegen. Eine unruhige | |
Stimmung breitet sich aus, die Fahrgäste schielen zu ihm hin, blicken ihm | |
nach. Es ist, als ob man nun wachsam sein müsse. Als ob etwas | |
Unkontrollierbares passieren könnte, hier auf dieser Fahrt um Mitternacht. | |
Dann plötzlichein Schrei. Als der Mann an den zwei gestylten Frauen vorbei | |
läuft, schreit die eine Frau, die nah am Gang sitzt, leise auf. Sie starrt | |
auf den Ärmel ihrer künstlichen Lederjacke, auf dem ein schwacher Fleck zu | |
sehen ist. „Bah“, sagt die Frau. Sie reibt über den Ärmel. Der schlurfende | |
Mann bleibt für einen Moment vor ihr stehen. Dann geht er weiter. | |
„Der hat mich angesprüht“, sagt sie. „Oh, nee. Ich will nach Hause!“ D… | |
Mann geht weiter, er hält nun einen großen Parfüm-Flakon in der Hand. Er | |
wirkt wie eine Requisite, die auf einmal in seine Hand gekommen ist. „Boah, | |
stinkt das“, sagt die Frau. | |
Ihre Freundin holt aus einer kleinen, eckigen Handtasche souverän einen | |
riesigen rosafarbenen Flakon heraus. Es wirkt, als wäre es das Natürlichste | |
auf der Welt, dass hier scheinbar alle Menschen große Parfümflaschen mit | |
sich führen. Sie spritzt auf den Jackenärmel ihrer Freundin, wo der Mann | |
zuvor hingesprüht hat. Sie wirkt in diesem Moment wie die beste Freundin, | |
die man haben kann, die allem, was einem passiert, sofort etwas | |
entgegensetzen kann, wie eine Feuerwehrfrau. | |
Der Mann tigert währenddessen weiter den Gang entlang und sprüht mit seinem | |
[3][Parfüm] um sich. In die Luft und direkt auf andere. Er nebelt alle ein. | |
Die Menschen schütteln den Kopf. „Hier“, er bleibt vor einzelnen stehen, | |
zeigt den Parfüm-Flakon: „Probier! Ich will nichts verkaufen.“ | |
Das Abteil stinkt. Ein phenolischer, süßlich-herber Geruch breitet sich | |
aus. Der Mann breitet sich aus. Er überschreitet die Grenze in den | |
Nahbereich aller hinein. Er stinkt die Menschen an. Es hat etwas unsichtbar | |
Machtvolles. | |
Es ist, als würde er bestäuben. Als hätte er eine Waffe, die niemand | |
hinunterreißt. Sein Duft ist eine Form von Gewalt. | |
Dann erreicht die Bahn den Hauptbahnhof. | |
Als die Fahrt danach weitergeht, ist es ruhig. | |
Der Mann mit dem Parfüm scheint ausgestiegen zu sein. Sein [4][Geruch] | |
bleibt. | |
20 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Nacht/!t5244710 | |
[2] https://www.s-bahn-hamburg.de/ | |
[3] /Parfum/!t5616936 | |
[4] /Geruch/!t5327594 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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