# taz.de -- Rollenverteilung in der Elternzeit: Jenas besondere Väter | |
> Was ist los in der zweitgrößten Stadt Thüringens? Sind die Männer in Jena | |
> besonders fair, familienorientiert, flexibel? Und wenn ja: warum? | |
Bild: Familie sein heißt nicht: Nur einer kümmert sich um die Kinder | |
JENA taz | Linus muss zum Judo. Sein Vater Marco Körner lenkt das | |
Carsharing-Auto auf den kleinen Parkplatz vor der Schule seines Sohnes. | |
Heute ist er dran mit dem „Kinderdienst“: Linus aus dem Hort abholen, zum | |
Judo-Center fahren und dann eineinhalb Stunden später nach Hause, nach | |
Zwätzen, einem Stadtteil im Norden von Jena, einer Großstadt in Thüringen. | |
Es ist frisch an diesem Herbstnachmittag, es nieselt. Die Horterzieherinnen | |
schicken die Grundschulkinder trotzdem raus an die frische Luft. Linus, 7, | |
hockt mit zwei Jungs im Buddelkasten. Körner, 45, sportlich, randlose | |
Brille, Karohemd, entdeckt ihn sofort. Vater und Sohn verschwinden in der | |
Schule, Schultasche und Sportzeug holen. | |
An anderen Tagen holte Jenny L., Körners Frau und Linus' Mutter, den Jungen | |
ab. Beide Elternteile wechseln sich ab. Dabei haben sie keinen | |
ausgeklügelten Plan, wer wann dran ist: Das verhandeln sie kurzfristig. | |
Aber beide achten darauf, dass die „Dienste“ gerecht verteilt sind. Sie | |
wollen sich beide gleichermaßen um ihr gemeinsames Kind kümmern. | |
FamilienexpertInnen nennen das „moderne Elternschaft“ und Marco Körner | |
einen „aktiven Vater“: Er bleibt auch mal zu Hause, wenn Linus krank ist, | |
er bringt ihn zum Zahnarzt, zum Einschlafen liest er ihm vor. Als Linus ein | |
Baby war, war Körner mit ihm drei Monate in Elternzeit. In den sogenannten | |
Vätermonaten hat er den Kinderwagen durch den dörflich anmutenden | |
Stadtteil, wo die Familie wohnt, geschoben. Er hat eingekauft, Wäsche | |
gewaschen, gekocht. „Das war gar keine Frage, das wollten meine Frau und | |
ich so“, sagt Marco Körner. | |
## Fast doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt | |
In Jena scheinen viele Paare so zu denken. Die Stadt zwischen | |
Muschelkalkhängen und der Saale führt das Elterngeldranking an: Knapp 58 | |
Prozent der Väter hier bezogen 2014 die Lohnersatzleistung in der Zeit, in | |
der sie ihre Kinder zu Hause betreuten, hat das Statistische Bundesamt | |
herausgefunden. | |
Das ist mehr als anderswo in der Republik. Den Bundesdurchschnitt beziffert | |
die Behörde mit 34 Prozent. In seinem Freundes- und Kollegenkreis haben | |
alle Väter die Elternzeit genutzt, sagt Körner: „Ich kenne eigentlich | |
keinen, der das nicht gemacht hat.“ | |
Was ist los in der zweitgrößten Stadt Thüringens? Sind die Männer hier | |
besonders familienorientiert, flexibel, geschlechtergerecht? Oder hat das | |
mit Jena selbst zu tun? Was macht die Politik dort anders als in anderen | |
Orten der Republik? | |
„Jena ist eine lebendige Stadt“, sagt Bernhard Kühn, einer der beiden | |
Koordinatoren des Vereins „Väteraufbruch für Kinder“: „Jung, innovativ, | |
wachsend.“ Jena ist eine der wenigen Städte in der Bundesrepublik, in denen | |
die Einwohnerzahl langsam, aber kontinuierlich steigt. Von den derzeit | |
108.000 EinwohnerInnen bilden die 20- bis 30-Jährigen die größte Gruppe. In | |
der Regel sind das Studierende. „Einige, die zum Studium hergekommen sind, | |
bleiben hier“, sagt Kühn: „Denen muss man über den Job hinaus vor allem | |
Familienfreundlichkeit bieten.“ Flexible Arbeitszeiten, Kita- und | |
Hortplätze, Ganztagsschulen. | |
## Viele hier arbeiten an den Hochschulen | |
Die meisten Menschen in Jena haben einen festen Job: in der Uni, in der | |
Fachhochschule, im Max-Planck-Institut, im Fraunhofer-Institut, im | |
Leibniz-Institut oder in der Helmholtz-Gemeinschaft. Die Arbeitslosenquote | |
ist mit 6,4 Prozent geringer als anderswo in Thüringen und niedriger als im | |
ostdeutschen Durchschnitt. Die Firmen und Wissenschaftseinrichtungen sind | |
auf die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden eingestellt: Gleitzeit, Home | |
Office, Teilzeit, auch für ChefInnen, Vätermonate – all das ist eher | |
Standard als Luxus. | |
Davon profitiert Marco Körner, Linus’ Vater. Er arbeitet in einer Software- | |
und Abrechnungsfirma, in der immer mal ein Vater fehlt, weil er sich um | |
seine Kinder kümmert. „In meinem Unternehmen ist Familienfreundlichkeit | |
eine Selbstverständlichkeit“, sagt Körner: „In anderen Firmen ist das noch | |
nicht so umgesetzt.“ Aber am Ende zähle doch das Arbeitsergebnis, oder? | |
Heute hat Körner früher Schluss gemacht, Linus muss rechtzeitig in der | |
Judohalle am anderen Ende der Stadt sein. An manchen Brückentagen, einem | |
Arbeitstag zwischen zwei freien Tagen, nimmt Körner seinen Sohn mit zur | |
Arbeit. Dort wird Linus zusammen mit anderen Kindern von externen | |
Erzieherinnen betreut. Die kommen extra für diesen Tag in die Firma, die | |
die Erzieherinnen bezahlt. | |
„Demokratie statt Staat“ nennt Frank Schenker das. Er ist fünffacher Vater | |
und seit zehn Jahren Bürgermeister von Jena. Früher war der Lehrer und | |
Theologe Dezernent für Bildung und Wissenschaft. Schenker, der sich selbst | |
als „grüner CDU-Mann“ bezeichnet, sagt: „In Jena wird dem Wunsch der Elt… | |
Rechnung getragen, ihre Lebensentwürfe tatsächlich umsetzen zu können.“ | |
Was das konkret heißt, zählt er atemlos auf: Schulen, die nach den | |
Vorstellungen der Eltern entstanden sind, eine Abiturquote von 65 Prozent, | |
eine Inklusionsquote von 85 Prozent. In den vergangenen acht Jahren hat | |
Jena zehn neue Kitas gebaut. Es gibt Betriebskitas, das Netzwerk „Bündnis | |
für Familie“, dem rund 70 Unternehmen, Wissenschaftseinrichtungen und | |
Verwaltungen angehören, und den erklärten Willen, „dass sich hier jeder | |
wohlfühlen soll“. Familienpolitik, sagt Schenker, sei in Jena wie ein | |
„hoher Grundwasserspiegel“: Der Druck kommt von unten, die Stadt reagiert. | |
Ist Jena ein einzigartiges Familienparadies? Schon, sagt Körner. Obwohl er | |
von der Politik nicht erwarte, dass sie Familien Verantwortung abnimmt. Und | |
es gibt ja auch Probleme: Die Kitakosten sind höher als anderswo. Körner | |
und seine Frau zahlten für Linus’ Kitaplatz damals monatlich rund 200 Euro | |
– Höchstsatz, weil sie ein gutes Einkommen hatten. Viele Studierende finden | |
keine Wohnung, weil die Stadt zu langsam baut. Es gibt keinen Zoo und kein | |
Puppentheater. Aber das sei Jammern auf hohem Niveau, sagt Körner. | |
## Die Kita-Kosten sind höher als anderswo | |
Er kann vergleichen. Seine Tochter aus einer früheren Beziehung lebt in | |
einer Stadt in Rheinland-Pfalz, er besucht sie regelmäßig. Als sie geboren | |
wurde, gab es keine Vätermonate und kein Elterngeld. Die Elternzeit hat die | |
Mutter allein genommen. Für die Kita in der rheinland-pfälzischen Stadt | |
müssen die Eltern teilweise nichts bezahlen, aber es gibt viel zu wenige | |
Plätze. Eltern – meist sind es die Mütter – sind gezwungen, im Job länger | |
als nötig auszusetzen. Manche geben ihn ganz auf. Der Schwimmbadbesuch im | |
Westen kostet 1,50 Euro, in Jena ist er etwa siebenmal so teuer. „Jena ist | |
keine reiche Stadt“, sagt Körner. | |
Das Judotraining ist vorbei, Linus ist verschwitzt. Marco Körner schiebt | |
seinen Sohn ins Auto. Zu Hause wartet bestimmt schon die Mama. Sie arbeitet | |
an der Uni in Erfurt und pendelt häufig. Manchmal bleibt sie, so wie heute, | |
in Jena und arbeitet in der Bibliothek. Müsste sie jeden Morgen eine Stunde | |
nach Erfurt und am Abend wieder eine Stunde zurückfahren, würde das ihr | |
Familienmodell sprengen. Jenny L. sagt: „Familienfreundlich ist für mich, | |
wenn ich möglichst viel gemeinsame Zeit mit meinem Mann und meinem Sohn | |
verbringen kann.“ | |
7 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
## TAGS | |
Vater-Sohn-Beziehung | |
Väter | |
Kitas | |
Elternzeit | |
Schwerpunkt Ostdeutschland | |
Jena | |
Sehnsucht Sommer | |
Neid | |
Familie | |
Frauen in Führungspositionen | |
Teilzeit | |
Familienpolitik | |
Kita | |
Familie | |
Debattenreihe Familienangelegenheiten | |
Debattenreihe Familienangelegenheiten | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Väter | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Therapeut über den Sommer für Paare: „Ich rate zum Erlebnisurlaub“ | |
Homeoffice und ständiges Aufeinanderhocken hat vielen Paaren nicht | |
geschadet, sondern eher gut getan, sagt Paarexperte Eric Hegmann. | |
Urlaub auf Staatskosten: Willkommen im Nörgelland | |
Dürfen Eltern während der Elternzeit gemeinsam mit ihrem Baby verreisen? | |
Klar! Wer das unmoralisch findet, ist kleingeistig und verkennt die | |
Realität. | |
Väterbeteiligung beim Elterngeld: Komm zu Papa | |
Immer mehr Väter gehen inzwischen in Elternzeit. Die Unterschiede zwischen | |
den Bundesländern sind allerdings groß – mit einem überraschenden | |
Spitzenreiter. | |
Debatte Zehn Jahre Elterngeld: Gerecht wird's erst mit Männern | |
Wickelvolontariat wurde es anfangs geschimpft. Dabei ist das Elterngeld | |
gut, obwohl es Frauen benachteiligt. Ja, es hilft sogar gegen Populisten. | |
Streit um befristete Teilzeit: Nahles’ Pläne in der Kritik | |
Metall-Arbeitgeber befürchten, dass die Personalplanung in Unternehmen | |
durch das Recht auf befristete Teilzeit erschwert wird. | |
Kommentar Jenas fabelhafte Väter: Und manches bewegt sich doch | |
Das Private kann sich ändern, wenn Firmen nicht nur auf kinderlose | |
Leistungsträger setzen. Der Fall Jena beweist: Familien müssen Druck | |
machen. | |
Schadenersatz bei fehlendem Kita-Platz: Mütter erringen Etappensieg | |
Drei Mütter erhalten trotz Rechtsanspruch zu spät einen Kita-Platz. Und | |
können deshalb nicht in den Job zurück. Mit ihrer Klage am BGH nehmen sie | |
eine wichtige Hürde. | |
Die Rolle der Väter: Hey, Papa! Da geht noch was! | |
„Gleichberechtigung? Wo ist das Problem!“, sagt das Bauchgefühl unserer | |
Autorin. Doch gleichzeitig ist sie sich sicher, dass ihr Bauchgefühl trügt. | |
Debatte Familienpolitik: Drei sind keiner zuviel | |
In Deutschland können bisher höchstens zwei Menschen rechtlich anerkannte | |
Eltern eines Kindes sein. Warum nicht auch drei? | |
Debatte Familienpolitik: Die falschen Alleinerziehenden | |
Viele Ein-Eltern-Familien sind in Wahrheit zu zweit. Wer wirklich allein | |
ist, muss sich auf ein Leben auf Hartz-IV-Niveau einstellen. | |
Debatte Frauen und Karriere: Ausgeknockt vom Schuldgefühl | |
Mutter, Journalistin, Führungskraft: Berufliche und familiäre Verantwortung | |
auszubalancieren ist nach wie vor kompliziert. | |
Debatte gleichberechtigt Kinderkriegen: Wer schwanger wird, hat Pech | |
Vater werden ist ein Grund zum Anstoßen, schwanger werden ein Problem. Bei | |
der Familienplanung geht der Stress zwischen den Geschlechtern los. | |
Die Wahrheit: Der neue Mann | |
Genderbalz: Wenn Väter sich heute demonstrativ um ihre Kinder „kümmern“, | |
als wäre es eine emanzipatorische Heldentat. |