# taz.de -- Debatte Familienpolitik: Die falschen Alleinerziehenden | |
> Viele Ein-Eltern-Familien sind in Wahrheit zu zweit. Wer wirklich allein | |
> ist, muss sich auf ein Leben auf Hartz-IV-Niveau einstellen. | |
Bild: Wirklich so alleine, wie es hier aussieht? Das ist nicht bei jeder Ein-El… | |
Keine soziale Kategorie ist so absurd wie die der sogenannten | |
Alleinerziehenden. Sie umfasst einfach mal alle Elternteile, die nicht | |
ständig zu zweit sind. Schon wer ab und zu mal ein Pausenbrot schmieren | |
muss, ohne dass ein anderer Erwachsener ihm dabei den Rücken frei hält, | |
gilt im Zweifel als alleinerziehend. Die Zahl der Ein-Eltern-Familien ist | |
dadurch mit 1,6 Millionen Haushalten so extrem hoch, dass denen, die | |
tatsächlich allein sind, nicht die staatliche und gesellschaftliche | |
Unterstützung gegeben werden kann, die ihnen eigentlich zusteht. | |
Grob lassen sich die „Alleinerziehenden“ in drei Gruppen einteilen. Nehmen | |
wir erstens das Beispiel einer geschiedenen Lehrerin mit zwei Kindern, | |
sieben und elf Jahre alt, und nennen sie Sabine. Der Kindsvater, ein | |
Fotograf, übernimmt 40 Prozent der Betreuung und zahlt 700 Euro Unterhalt. | |
Mit Kindergeld kommt sie damit auf 3.200 Euro Nettoeinkommen. | |
Wenn Sabine die Töchter an den Vaterwochenenden donnerstagsmorgens zur | |
Schule bringt, hat sie bis Montagnachmittag Zeit für sich: Kino, ein | |
Wellnesswochenende, ein Date oder einfach nur mal ausschlafen. Auch wenn | |
sie dran ist, betreut der Vater die Kids an zwei Nachmittagen. | |
Gleichzeitig wird im Job Rücksicht auf sie als Alleinerziehende genommen. | |
Sie nimmt außerdem die Steuervorteile in Anspruch und wird beispielsweise | |
bei Hort- oder Ganztagsschulplätzen bevorzugt. Alles in allem ist Sabine | |
zufrieden. Im Grunde, sagt sie, hat sie mehr Zeit für sich als während | |
ihrer Ehe. | |
## Alles andere als allein | |
Sabine ist der klassische Fall einer falschen Alleinerziehenden, denn sie | |
ist alles andere als allein. Der Kindsvater übernimmt nahezu die Hälfte der | |
Erziehungsverantwortung und zahlt zuverlässig Unterhalt. | |
Die zweite Gruppe sind die typischen getrennt lebenden Eltern. Auch hier | |
ein Beispiel: Ramin, festangestellter Versicherungsfachmann. Seit der | |
Trennung lebt die neunjährige Tochter bei ihm. Die Mutter, die in Hamburg | |
wohnt, übernimmt das Kind jedes zweite oder dritte Wochenende. Wenn es eng | |
wird, helfen Ramins Schwester oder die neue Partnerin bei der Betreuung | |
aus. Er kommt ganz gut zurecht. Die regelmäßig freien Wochenenden helfen. | |
Tatsächlich allein ist aber lediglich eine dritte, relativ kleine Gruppe: | |
Mütter und manchmal auch Väter, die ohne jeglichen Unterhalt und ohne freie | |
Wochenenden oder auch nur Nachmittage auskommen müssen. Sei es, dass der | |
andere Elternteil das Kind nicht anerkennt, sich nicht kümmert, krank oder | |
verstorben ist. Entscheidend ist, dass die gesamte elterliche Verantwortung | |
– finanziell ebenso wie sozial – tatsächlich nur bei einer Person liegt. | |
Gehen wir einmal von Angelika aus, der Mutter eines Siebenjährigen. Der | |
Vater lehnt das Kind ab. Ein Kontakt zwischen den Eltern besteht nicht | |
mehr. Angelika arbeitet in einem Job mit guten Aufstiegsmöglichkeiten – | |
sofern sie Engagement zeigt. Um 15.30 Uhr das Büro verlassen, um das Kind | |
abzuholen? Undenkbar. Und mit einem Teilzeitjob kommt sie finanziell nicht | |
aus. Angelikas einzige freie Abende werden demnächst die Klassenfahrten | |
sein: vier Nächte. Im Jahr! | |
## Ganz schlimm sind die Ferien | |
Drei bis vier Mal pro Woche braucht Angelika eine Babysitterin, die den | |
Sohn abholt und betreut, bis sie nach Hause kommt. Richtig teuer wird es, | |
wenn eine Dienstreise ansteht und sie auch mal über Nacht wegbleiben muss. | |
Betreuungskosten insgesamt pro Monat: 500 bis 700 Euro. Ein freier Abend | |
für Sport oder Kino ist da noch gar nicht mitgerechnet. Und ganz schlimm | |
sind die Ferien, wenn die meisten anderen Kinder früher abgeholt werden | |
oder gar nicht in den Hort gehen. Viele Kinder „Alleinerziehender“ fahren | |
abwechselnd mit den getrennt lebenden Eltern in den Urlaub. | |
Angelika verdient nicht schlecht: 2.100 Euro netto. Allerdings: Abzüglich | |
der Hort- und Babysitterkosten, rechnet sie vor, sinkt ihr Einkommen | |
praktisch auf Hartz-IV-Niveau. Wenn sie sich mal wieder überfordert fühlt, | |
weil es einfach keine Atempause gibt, denkt sie tatsächlich daran, den Job | |
zu schmeißen und lieber staatliche Hilfe zu beziehen. Wenigstens wäre dann | |
mehr Zeit. | |
Angelikas Situation mit Sabines | |
Ich-hab-von-Donnerstag-bis-Montag-frei-Leben zu vergleichen, wäre | |
lächerlich. | |
Für Hartz-IV-Alleinerziehende, besonders junge Mütter ohne Ausbildung, wird | |
noch vergleichsweise viel – wenn auch nicht genug – getan: Oft existieren | |
engmaschige Betreuungen, Ausbildungsangebote, Erziehungshilfen, sogar | |
Wohnprojekte. Doch wird es sich tatsächlich lohnen, wenn sie es in einen | |
Job geschafft haben? Denn für die echten Alleinerziehenden, die sich in der | |
unteren Mittelschicht abstrampeln, gibt es so gut wie keine Hilfen. | |
## Es braucht ein Netz an Unterstützung | |
Familienpolitisch wirklich gebraucht würde eine klare Unterscheidung | |
zwischen Teilerziehenden und echten Alleinerziehenden. Für Letztere müsste | |
ein Netz an Unterstützung und Entlastung aufgebaut werden. Da wäre zunächst | |
einmal eine steuerliche Entlastung. Bisher zahlt ein Ehepaar, bei dem nur | |
einer arbeitet, weniger Steuern als eine Alleinerziehende mit einem Kind. | |
Ein-Eltern-Familien werden fast genauso wie Singles besteuert. Bei den | |
Sozialabgaben wird ihre Belastung und Erziehungsleistung überhaupt nicht | |
berücksichtigt. Ein unhaltbarer Zustand. Ein Kinderfreibetrag für | |
Alleinerziehende müsste berücksichtigen, dass erheblich mehr | |
Betreuungskosten anfallen als bei anderen Eltern. Alternativ: höheres | |
Kindergeld für echte Alleinerziehende. | |
Jedem, der einen Angehörigen pflegt, wird zugestanden, dass ab und zu eine | |
Pause nötig ist: ein kleiner Urlaub, ein freier Abend. Warum nicht das | |
Gleiche auch für Alleinerziehende? Allein schon für das Kindeswohl, denn | |
die Nonstop-Zuständigkeit und Mehrfachbelastung führt zu Dünnhäutigkeit und | |
Konflikten. | |
Die Politiker*innen von CDU bis Linke würden allen Beteiligten einen | |
Gefallen tun, wenn sie weniger darüber jammerten, wie arm viele | |
Alleinerziehende sind, und lieber für Abhilfe sorgten. Alleinerziehende, | |
vor allem die mit niedrigem und mittleren Einkommen, haben einen Anspruch | |
auf gesellschaftliche Teilhabe. Davon können sie derzeit nicht einmal | |
träumen. | |
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20 Aug 2016 | |
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## AUTOREN | |
Silke Mertins | |
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